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Drittes Kapitel.

Ohne Zweifel wäre es des Gerichtes Pflicht gewesen, Frau Felton von Davids Ueberführung und Verurteilung zu drei Monaten Gefängnis zu benachrichtigen. Ob nun die offizielle Nachricht an die Mutter des bereits früher als Dieb verurteilten Knaben geschickt war, oder ob die Post Davids Mutter nicht gefunden hatte, wissen wir nicht. Sie erhielt wenigstens nie die Nachricht von David.

Frau Felton und Bessy fühlten, daß die Zeit schwer verstrich, während David fern war. Die arme Frau war immer weit sorgsamer in der Leitung ihrer Kinder gewesen als ihre Nachbarn. Sie hatte Bessy nie erlaubt, auf der Straße zu spielen, wenn David nicht in der Nähe war, um sie zu beschützen. Bessy wuchs zu einem großen hübschen Mädchen heran und bedurfte mehr denn je eines Beschützers. So mußte sie nun immer in der Stube bleiben, eingeschlossen in der engen und verderbten Luft ihres elenden Heims. Frau Felton wusch noch immer ein wenig, aber heimlich, aus Furcht, der Armenpfleger könne sie beim Waschfaß finden und ihr dann die zugesprochene Unterstützung wieder nehmen. Sie konnte nur ein paar Pennies damit verdienen und die nur unter heftigen Schmerzen; aber die Qualen des Hungers waren noch stärker. Bessy war alt genug und gerne bereit, ihr zu helfen; aber ihr Verdienst reichte noch lange nicht zu ihrem eigenen Unterhalt. Doch, wenn David nur mit ein wenig Geld zurückkäme, hoffte die arme Frau, sich noch ein paar Wochen hinzuhalten, und vielleicht fand sich bis dahin wieder Arbeit für ihn.

Frau Felton fühlte sich sehr verlassen ohne ihren Sohn, und schmerzlich vermißte sie ihn. Sie gehörte zu den Müttern, denen die Töchter wenig sind im Vergleich zu den Söhnen; und David war immer gut gegen sie gewesen und hatte sie aufgeheitert, wenn sie traurig und niedergeschlagen gewesen. Sie fand, daß er seinem Vater ähnlich ward, und der Ton seiner Stimme und sein Gang riefen die Erinnerung an glücklichere Tage zurück. David hatte ihr versprochen, am Sonnabend heimzukehren, aber sie erwartete ihn eigentlich schon am Freitag; doch die Nacht vom Freitag ging vorüber, und David war noch immer fort. Während der langen schlaflosen Nacht dachte sie nur an ihn, nicht ahnend, daß ihr Sohn seine erste Nacht im Gefängnis zubrachte.

Der Sonnabend verstrich langsam, Frau Felton öffnete die Tür ein wenig, setzte sich gerade vor dieselbe und sah hinaus auf den erleuchteten Vorplatz und die Treppe, die allen Einwohnern gemeinsam gehörte. David würde gewiß pfeifen und dann würde sie den Ton schon hören, wenn er auch noch weit entfernt war. Sie fühlte heute abend keinen Hunger und war sich kaum ihrer Schmerzen bewußt. Alle ihre Gedanken und Sorgen richteten sich auf ihren Sohn.

»Er wird sein Versprechen nicht brechen,« sagte sie sanft; »er weiß, daß ich nach seinem Anblick hungere, und wieviel Glück er auch gehabt haben mag, er wird gewiß heute abend zurückkehren. Ich habe tausendmal gewünscht, ich hätte ihn nicht gehen lassen. Nun ist es vorüber, und er soll nicht wieder fortgehen, wenn wir ihn nur zurückhalten können. Wir wollen versuchen, mehr zu waschen, du und ich, nicht wahr, Bessy? Und vielleicht mag David auch mehr Glück bei seinen kleinen Besorgungen haben. O, mein Sohn, mein Sohn!«

Sie unterdrückte das Schluchzen, das sie am Hören hätte verhindern können, und saß einige Minuten still und horchte angestrengt, ob sein Pfeifen nicht aus dem Gewirr der Töne herauszuhören wäre. Zuletzt schickte sie Bessy vor die Haustür, um bis nach dem erleuchteten Laden an der Ecke zu sehen, um welche David jeden Augenblick mit den Erträgen seiner Bettelexpedition kommen mußte. Bessy war voll ebenso ungeduldiger Erwartung wie ihre Mutter.

Mir ist fast ebenso, wie in der Zeit, wo ich immer auf deinen Vater zu warten pflegte, ehe wir uns verheirateten,« sagte Frau Felton in klagendem Tone. »Ich war damals nicht unruhiger, als ich es nun um David bin. Der arme Junge! Ich kann mich keinen Augenblick still halten! Vater trug damals gewöhnlich eine Plüschweste, so weich, wie sie nur sein konnte, und ich möchte so gerne eine ebensolche für David haben. Ich habe mich einmal in einem Laden nach dem Preis erkundigt; er war aber höher, als ich bezahlen konnte, selbst als ich noch alle Arbeit verrichtete. Und, Bessy, für dich hätte ich zu gerne ein rotes Kleid, so wie das, worin ich getraut wurde; doch es nützt nichts, an solche Dinge zu denken. Es ist Gottes Wille, und er weiß alles am besten! Wenn mein Sohn nur käme, so wäre mir alles recht.«

Bessy ging aus dem Zimmer heraus und leise an der vorderen Stube vorbei, die ihr nächster Nachbar Blackett bewohnte, und blickte in das Lichtmeer, das aus dem Wirtshaus über die Straße leuchtete. Dort stand sie einige Minuten stillschweigend.

»Er kommt!« rief Bessy dann. Das Herz der armen Frau schlug schmerzvoll, und sie lehnte sich halb ohnmächtig vor Freude gegen die Wand, während Bessy rasch auf die Straße lief, dem Lichte zu, wo sie einen kurzen Augenblick geglaubt hatte, die Gestalt ihres Bruders zu sehen. Aber es war nicht David, den sie traf, obgleich allerdings ein Knabe von demselben Alter und derselben Größe wie er, und fast hätte Bessy laut geschrien, als sie ihn erkannte. Es war ein alter Gefährte und Spielkamerad, Roger Blackett, dessen Vater die vordere Stube in der unteren Etage bewohnte, nahe bei der Tür, wo alle aus und ein gehen mußten, und der der Schrecken aller Einwohner des überfüllten Hauses war.

»Roger, hast du unsern David irgendwo gesehen?« fragte Bessy.

»Nein, ich habe ihn nirgends gesehen,« erwiderte der Knabe. »Aber sage einmal, Bessy, ist der Vater zu Hause?«

»Ja,« war die Antwort des kleinen Mädchens.

»Dann will ich draußen bleiben,« fuhr er fort. »Er schlägt mich doch nur und schilt mich einen faulen Hund und einen feigen Heiligen. Er hat die übrigen zum Diebstahl getrieben, und er wird nicht eher ruhen, als bis er mich auch soweit gebracht hat. Beinahe hätte ich es schon heute abend getan.«

»O tu das nicht, tu es nicht!« rief das kleine Mädchen. »Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich doch nie etwas Böseres als Betteln tun. Ich weiß, David würde weit eher sterben und unsere Mutter auch. Lieber wollten wir doch alle vor Hunger sterben, als anfangen zu stehlen.«

»Ich bin schon lange dazu getrieben worden, und ich hätte es auch längst getan, wenn ich nicht an dich und deine Mutter gedacht hätte. Vater lacht immer über die Leute, die durchaus ehrlich bleiben wollen, und sagt stets, daß in mir kein Tropfen tüchtigen Blutes ist. Ganz gewiß werde ich bald dazu getrieben werden, so sehr ich mich auch davor scheue. Aber es würde dich betrüben, nicht wahr, Bessy?«

»Ach,« erwiderte sie ernsthaft, »Mutter würde es nie, nie erlauben, daß David oder ich wieder mit dir sprächen. Ihr ist alles Stehlen bis in den Tod verhaßt! Nie würde sie uns erlauben, mit einem Diebe zu verkehren. Sieh,« fuhr Bessy mit einer Art von Stolz fort, »keiner von uns ist je in Ungelegenheiten beim Gericht gewesen. Wir haben niemals etwas mit der Polizei zu tun gehabt, und die Polizei hat nichts mit uns zu tun. Lieber vor Hunger sterben als stehlen, sagt Mutter immer.«

Bessy war so lange auf der Straße gewesen, daß Frau Felton es vor Ungeduld nicht mehr hatte aushalten können, und unter vielen Schmerzen war sie langsam an die Haustür geschlichen und ging ihnen entgegen.

»Bessy, ist David da?« rief sie. »Pass' gut auf und bringe ihn herein.«

»Wir kommen schon, Mutter,« rief Bessy; »es ist aber nur Roger. Geh hinein und laß ihn ein wenig zur Gesellschaft mitkommen. Komm mit mir, Roger, und erzähle der Mutter ein wenig, sie ist so sehr in Angst um David. Frage sie nach dem Pfarrgarten und der Stelle, wo sie früher gewesen, und was du dir noch weiter ausdenken kannst, bis David kommt.«

Die Kinder schlichen leise bei der geschlossenen Tür der vorderen Stube vorbei und verbargen sich in der Dunkelheit von Frau Feltons Küche.

»Es ist nur der arme Roger,« sagte Bessy sanft. »David ist noch nicht gekommen, und Roger fürchtet sich vor seinem Vater, solange dieser nicht ganz betrunken ist. Laß ihn ein Weilchen bei uns bleiben.«

Frau Felton war immer in großer Sorge gewesen, daß ihre Kinder zu befreundet mit Roger Blackett würden, dessen zwei ältere Brüder offenkundig die erfolgreiche Laufbahn von Dieben ergriffen hatten, allerdings mit gelegentlichen Pausen, wo sie abwesend und wahrscheinlich im Gefängnis waren. Doch sie fürchtete sich zu sehr vor Blackett, um allen Verkehr mit seinen Söhnen zu verbieten. Roger war beinahe vierzehn Jahre alt und bis jetzt noch nie in Untersuchung gewesen, und so konnte sie es ihm nicht gut verweigern, daß er in ihre Stube kam.

»Er soll mir willkommen sein,« sagte sie kalt, »solange er sich ehrlich hält.«

»Das wird nicht allzulange sein,« sagte Roger leise. »Vater will durchaus, daß ich mich selbst erhalte, und für mich gibt es keinen anderen Weg als zu stehlen. Er wird alle Tage böser auf mich.«

»Aber Gott wird auf dich böse sein, wenn du ein Dieb wirst,« sagte Frau Felton, »und wenn du ihn böse machst, kann er dir viel Schlimmeres tun, als dein Vater es je kann. Vor ihm sollst du dich am meisten fürchten.«

»Wo ist er?« fragte Roger.

»Er ist im Himmel, wohin die guten Menschen kommen, wenn sie sterben,« antwortete sie; »aber er sieht alles und kann alles, und alles muß geschehen, wie es ihm gefällt. Er könnte uns alle reich und wohl und glücklich in einem Augenblick machen, aber es ist sein Wille, daß wir arm und elend und krank sind, und dennoch ist es alles recht, und wir müssen stillhalten und glauben, daß es so gut ist. Ich sage mir oft ›Es ist Gottes Wille‹, und dann wird mir alles leichter zu tragen. Aber, was ich dir sagen wollte, ist, daß Gott keine Diebe im Himmel haben will. Und es gibt auch eine Hölle voll Feuer und Schwefel, und dahin kommen alle böse Menschen, und wenn du stiehlst, kommst du auch dahin. Ich weiß nicht genau, wo sie ist und wie sie ist; in der Bibel steht es alles, wie sie sagen. Dort ist es schrecklicher als in hundert Gefängnissen.«

Als die arme Frau diese Worte mit ihrer schwachen, zitternden Stimme in der dunklen Stube aussprach, erbebte Rogers Herz vor Schrecken und Entsetzen. Er war froh, Bessy nahe bei sich zu haben und zu wissen, daß sie diese Worte ebensogut als er hörte.

»Gott ist noch schlimmer als Vater,« sagte er zitternd.

»Nein, nein,« fuhr Frau Felton fort. »Ich habe Leute auf der Straßen predigen hören, und einige von ihnen sagten, daß er uns dennoch alle liebt. Ja, einer von ihnen sagte immer wieder: ›Gott ist die Liebe‹. Und er hatte kleine Zettel, ungefähr so groß wie ein Pfandzettel, darauf standen auch diese Worte gedruckt, und er gab jedem, der nur wollte, einen von diesen. ›Gott ist die Liebe‹, sage ich mir hundertmal des Nachts, und wenn ich wachend vor Schmerz liege, und es ist ein Trost darin. Ja, wenn meine Schmerzen am allerschlimmsten sind und ich ganz schwach vor Hunger werde, sage ich mir ›Gott ist die Liebe‹, und das hilft mir weiter. Es ist dies alles, was ich weiß, und ich weiß auch das nicht recht klar.«

»Liebt Gott jedermann?« fragte Roger ängstlich.

»Ja,« erwiderte sie.

»Liebt er auch Vater?« fragte er wieder.

»Ja, ich glaube,« sagte sie im zweifelnden Ton.

»Dann halte ich nicht viel von Gott,« fuhr Roger fort. »Er müßte Vater nicht lieben. Er müßte ihn in jene Hölle voll Feuer und Schwefel werfen; denn er ist ein Dieb und will mich auch zu einem machen. Und wenn er einen von uns liebte, würde er nicht leiden, daß wir zum Stehlen und Betteln getrieben werden. Die Leute sagen, daß David fortgegangen ist, um zu betteln. Nein, Gott liebt die reichen Leute; das will ich wohl glauben; aber um uns Arme kümmert er sich blitzwenig.«

»Ich kann nicht sagen, wie es ist,« stöhnte Frau Felton, »aber für mich ist es ein Trost zu wissen, daß Gott die Liebe ist, und zu glauben, daß es wahr ist. Und mein David wird nie ein Dieb werden, – nie! Wenn Leute sagen, daß er fortgegangen ist, um zu betteln, so können sie doch nichts Schlechteres von ihm sagen. Ach, ich wünschte nur, daß er käme!«

Aber obgleich sie und Bessy bis lange nach Mitternacht aufsaßen, bis auch der letzte Bewohner des überfüllten Gebäudes in sein elendes Gemach zurückgekehrt war und man keinen Ton mehr hörte, der kommende Fußtritte hätte vielleicht übertönen können, vernahmen sie doch kein Zeichen von Davids Kommen. Bessy schlief zuletzt auf dem Fußboden zu ihrer Mutter Füßen ein; aber diese hielt sich wach, zitternd vor Kälte und Schmerz, das Herz schwer voll banger Furcht, was ihren Knaben nur fernhalten könne.

Wie nun ein Tag nach dem andern verstrich und keine Nachricht von David brachte, ward die Seelenangst der armen Mutter beinahe unerträglich. Dieselbe schien fast ihre körperlichen Schmerzen zurückzudrängen und machte sie beinahe unempfindlich dagegen. Jeden Morgen wanderte sie umher und fragte jeden, der ihren Sohn kannte, nach ihm, bis ihre Kraft erschöpft war, und dann lehnte sie sich wohl stundenlang gegen die Mauer der Straßenecke und blickte die Straße hinunter, ob sie nicht einen Schimmer von ihm erblicken könnte in dem immer wechselnden Strom der vorübergehenden Menge. Jetzt konnte sie sich nicht länger dazu zwingen, am Waschfaß zu stehen und das Kirchspiel zu hintergehen, indem sie sich ein paar Extrapennies durch die Arbeit ihrer Hände verdiente. Binnen kurzem ging alles, was ihr von ihrem geringen Besitz geblieben, in die Hände des Pfandleihers über, bis ihr Zimmer so arm an Gerät war, wie es nur bei einer menschlichen Wohnung möglich ist.

Aber sie hatte noch einen Schatz, von dem sie sich bis jetzt nicht getrennt, wie bitter und drückend auch die Not oft in den langen Jahren ihrer Witwenschaft an sie herangetreten war. Es war ihr Trauring, gekauft und an ihre Hand gesteckt von dem Gatten, den sie vor zehn Jahren verloren hatte. Sie hatte ihn zu wert gehalten, um ihn während der Arbeit zu tragen; aber jeden Abend und jeden Sonntag hatten ihre Kinder seinen goldenen Glanz an ihrem Finger gesehen und ihn mit einer Art ehrfurchtsvoller Freude betrachtet. Ihnen war dieser Ring das sichtbare Zeichen von ihrem verstorbenen Vater und von den guten Zeiten, von denen ihre Mutter ihnen erzählt, die sie selbst aber nie kennengelernt hatten. Sie waren häufig ohne Abendbrot zu Bett gegangen, um der Mutter Ring vor der Pfandbude zu bewahren und sich nicht der Gefahr seines Verlustes auszusetzen. Aber während Davids Abwesenheit gerieten ihre Verhältnisse in eine so traurige Lage, daß sie sich auch von ihrem Ring trennen mußte. Er war, erst wenig getragen, nicht viel dünner wie damals, als David Felton, der Zimmermann, sein junges Weib geheiratet hatte. Nächst dem Kummer und der Trübsal, die über ihre Kinder gekommen, war dies für Frau Felton das Bitterste, was sie ertragen mußte. Bessy half ihr nach dem Pfandleiher sich mühsam hinschleppen, und mit einem beinahe herzbrechenden Jammer legte sie den Ring auf den Ladentisch. Der Pfandleiher befestigte kaltblütig eine Nummer daran, gab ihr einen Zettel und schob ihr ein paar Schillinge hin.

»Nehmt ihn in acht,« rief sie in dringendem Ton, »nehmt ihn in acht! Ich werde ihn wieder einlösen. Gott im Himmel weiß, ich werde ihn eines Tages einlösen. Es ist Gottes Wille!« seufzte sie und verfolgte mit ihren trüben Augen noch, wie der Pfandleiher einen Kasten öffnete und ihn sorglos zwischen einen Haufen gleicher Pfänder warf.


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