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Bessy hatte nicht vergessen, daß es ihre Aufgabe war, ihrer Mutter Trauring wieder einzulösen, und daß sie sich verpflichtet hatte, ihn aus dem Leihhause zurückzuerlangen. Sie versuchte auf verschiedene Weise, Arbeit zu bekommen; überall aber fehlte es ihr an Kraft und Geschicklichkeit. Endlich ratschlagte sie mit Victoria, und diese schlug ihr vor, gleich ihrem Vater Brunnenkresse zum Verkauf herumzutragen. Der alte Mann war bereit, sie mit nach dem Markt zu nehmen, wo er seinen täglichen Vorrat kaufte; dann sollte sie aber einen von dem seinen verschiedenen Weg einschlagen, denn er konnte und wollte seine Kunden und Verdienst nicht mit ihr teilen. Mit wenigen Pennies konnte sie dieses Geschäft beginnen und, wenn sie Glück hatte, genug für ihren Unterhalt verdienen, um mit der Zeit den Ring einzulösen. Aber heimlich mußte es geschehen, damit der Unterstützungsbeamte nichts davon hörte und ihrer Mutter nicht die vom Kirchspiel ausgesetzte Summe verringert oder gar entzogen würde.
Es mag angenehm sein, im Juni um vier Uhr aufzustehen, die dicke und widerliche Luft der überfüllten Wohnung zu verlassen und in den köstlichen taufrischen Morgen hinauszutreten, der sogar in den Straßen der Stadt den Duft von frischem Heu und von blühenden Gärten verspüren läßt; aber um vier Uhr im Winter aufzustehen, war eine schwere Probe für Bessys Ausdauer. Eilig zog sie im Dunkeln ihre dünnen, zerrissenen Kleider an und fuhr mit ihren bloßen Füßen in die alten Schuhe der Mutter, küßte diese, die still und einsam liegen mußte, bis sie wiederkam, und trat dann in den halbgefrorenen Kot der Straße und die schneidende Luft hinaus. Euclid wartete mit seinem Korbe auf sie, und nun ging sie an seiner Seite über Kot und Eis mit dem alten Teebrett, das ein mitleidiger Nachbar ihr den Tag vorher geborgt hatte. Der Markt war fast drei Meilen weit entfernt. Trotz der frühen Morgenstunde und der mitternächtigen Finsternis hatte das Leben im Ostend schon wieder begonnen, und manche fröstelnde Leidensgefährten schoben sich in ernstem Schweigen gespenstergleich auf dem schlüpfrigen Pflaster an ihnen vorüber. Bessy war niemals zu dieser Stunde ausgegangen und hielt sich dicht an Euclid.
Der alte Mann war gleichfalls schweigsam; die Gegenwart einer Gefährtin setzte ihn in Verlegenheit. Seit fünfundzwanzig Jahren hatte er Winter und Sommer diesen Weg allein gemacht; nun verwirrte es ihn, Bessys leichten Schritt an seiner Seite zu hören. Er hatte so lange ohne Verkehr mit seinen Nachbarn gelebt, daß es ihm nun überraschend und nicht ganz lieb war, auf einmal ein Interesse für Frau Felton und David und Bessy zu haben. Konnte sich nicht dieses Interesse zwischen ihn und sein einziges Lebensziel drängen, denn wenn er dem Gefühl des Mitleids zu sehr nachgab, so konnte eine Gefahr für seinen langsam angehäuften Schatz daraus entstehen, der jetzt noch sicher unter Victorias Kopfkissen lag.
Dennoch fühlte Euclid, daß er seine Nachbarn nicht vor seinen Augen konnte Hungers sterben lassen. Nein, nein, das durfte nicht geschehen. Er sah Bessy an, als sie an einer Laterne vorbeikamen, und fing ein schwaches Lächeln und einen zutraulichen Blick von ihr auf – so hatten ihn seine kleinen Kinder, die nun lange tot waren, angeblickt, wenn sie ihm bei seiner Heimkehr entgegenliefen. Nun waren sie alle im Himmel und seine Frau auch. Er hatte nur eine unklare und schwache Vorstellung vom Himmel, er dachte sich irgendwo, ob in oder außerhalb der Welt, das wußte er nicht, eine kleine Hütte am Abhang eines Hügels, seiner ersten Heimat ähnlich, deren er sich noch schwach erinnerte. Da würden sie denn alle wieder zusammenleben; Winter, Hunger und Kummer würde es dort nicht geben, auch keine Kirchspielzahlungen und kein Arbeitshaus. Seine Frau würde jung, seine Kinder würden klein sein und bei der Hütte ein Garten, in dem er arbeiten könnte. So sah Euclids Himmel aus.
Er träumte noch davon, als sie den Markt erreichten und mit einer Menge alter Leute und Kinder zusammentrafen, die auf das Oeffnen des Tores warteten. Es war noch nicht fünf Uhr, und der gelbe Schein einiger Glaslaternen warf sein trübes Licht auf die Szene. Die Leute waren still und niedergeschlagen. Sie waren alle schwach und trugen kein Verlangen, ihre Kraft durch Lärmen und Stoßen zu verschwenden. Jeder, der ankam, sei es ein Alter oder ein Kind, stellte sich so dicht wie möglich an das Tor, und die meisten warteten schweigend. Es waren die Aermsten der anständigeren Armen; diejenigen, die bis aufs äußerste kämpfen, um sich einen ehrlichen Unterhalt zu erwerben und nicht ins Arbeitshaus zu kommen.
Als das Tor aufging, drängten sie lautlos hinein. Euclid gab sich beim Ankauf von Bessys Kresse mehr Mühe als bei seiner eigenen, ging von Korb zu Korb und prüfte die grünen Blätter genau, ob auch Flecke darauf zu entdecken seien. Sobald der Einkauf gemacht war, eilte er mit Bessy zu den Stufen einer nahen Kirche, wo er ihr zeigte, wie sie ihre Bündchen machen müsse; zugleich befestigte er das alte Teebrett mit einem Bindfaden, den er aus seiner Tasche zog, um ihren Hals.
»Nun müssen wir genau aufpassen,« sagte er. »Frühe Vögel finden die ersten Würmer. Die Leute frühstücken nun bald, und wir müssen gerade zur rechten Zeit kommen. Halte dich nicht in den schönen Straßen auf, Bessy; geh in die Höfe, die Durchgänge und die Straßen, wo Arbeitsleute wohnen. Reiche Leute denken noch nicht ans Aufstehen; sie essen auch keine Kresse zum Frühstück, sondern Schinken und Eier und warme Gerichte. Durchgänge sind meist gute Orte. Du mußt langsam gehen, etwa zwei Meilen in der Stunde und immer nach den Türen und Fenstern sehen, ob dir jemand winkt. So, nun will ich hier stehenbleiben und zuhören, wie du rufst: Kresse, frische Brunnenkresse! bis ich dich nicht mehr sehen kann.«
Euclid beobachtete Bessy, wie sie mit ihrem Teebrett voll Kresse langsam die Straße hinaufging und mit ihrer klaren angenehmen Stimme die wohlbekannten Worte mehr sang als rief. Dann wandte er sich mit einem schweren Seufzer ab. Seine eigene Stimme klang ihm hohl und heiser ins Ohr, als er in seinem gewohnten Gebiet vorwärtsschritt und trübselig ausrief: »Krösse! Krösse!« Er kam sich älter als sonst vor, ihm war, als wäre ihm eine neue Last von Jahren auf die Schultern und sein gebeugtes Haupt gelegt. Und doch war er erst im sechzigsten Jahre, konnte noch viel arbeiten und noch viel ertragen. Er hatte nie so viel gehungert, als er wohl gekonnt hätte, und seine Kleider waren nie bis aufs äußerste zerrissen gewesen. Es gab noch Abgründe der Armut unter ihm, und das Herz wurde ihm schwer bei dem Gedanken, daß er und Victoria in die äußerste Tiefe hinabsinken könnten.
»Das Kirchspiel!« sagte er halblaut zu sich selbst, als er seine ausgetrocknete Kehle einen Augenblick ruhen ließ, »das Kirchspiel! Und von ihr getrennt werden! Victoria nicht wie die andern in einem eigenen Sarg begraben! Das Kirchspiel! Gott steh mir armen alten Mann bei!«
Und als ob ihm frische Kraft eingehaucht wäre, ging Euclid weiter und rief mit neuem Nachdruck seine Kresse aus; der Gedanke an das Kirchspiel hatte wie ein Reizmittel seinen schwachen Körper belebt. Er hatte ungewöhnlich viel Glück und verkaufte so viele Kresse, daß er sich's erlaubte, einen der größten und schönsten Heringe zu kaufen, den er mit solcher Sorgfalt in einem Laden, an welchem er vorbeikam, auswählte, als ob er nur schwer zu befriedigen sei. Es war dies mehr eine Erquickung für Victoria, als für ihn selbst. Er hatte mit seiner Mühe und seinem zehn Meilen langen Wege ungefähr zwei Schillinge verdient, und nachdem er das zur Miete und zum Lebensunterhalt für einen Tag Nötige davon genommen hatte, blieben ihm noch neun Pfennige zum Zurücklegen übrig.
»Wir wollen unsern kleinen Vorrat überzählen,« sprach er zu seiner Tochter, nachdem sie gemächlich ihren Tee miteinander getrunken hatten.
Er hatte eben die Silber- und Kupfermünzen auf der Seifenkiste, die aufgerichtet als Tisch diente, ausgebreitet, als sich ein leises Klopfen an der Tür vernehmen ließ. An der Tür war weder Schloß noch Riegel; sie wurde durch einen Pflock geschlossen, den man an der Innenseite durch Krampe und Haken steckte. Da es jedoch die einzige Stube unter dem Dach war, so wurde die leiterartige Treppe, die hinaufführte, selten von irgend jemand außer ihnen betreten. Euclid strich eiligst das Geld in das Taschentuch, in welchem es gewöhnlich aufbewahrt wurde, ehe Victoria aufmachte. Aber Bessy, denn sie war der Besuch, der zu so ungelegener Zeit kam, hatte schon durch eine Ritze in der Tür den Haufen Geld gesehen und hatte den Klang desselben beim Zusammenraffen gehört. Sie stand versteinert auf der Schwelle und blickte mit großen verwunderten Augen in das Zimmer.
»Was willst du, Bessy?« fragte Victoria.
»Ach, Mutter schickt mich herauf, ich sollte sagen, daß ich Glück gehabt habe,« stammelte sie, »und das verdanke ich Ihnen, Herr Euclid; und ach, bitte, kann ich morgen wieder mitgehen?«
»Ja, Kind,« antwortete Euclid kurz.
Bessy ging viel langsamer hinunter, als wie sie hinaufgekommen war. In ihrem Leben hatte sie nie so viel Geld beisammen gesehen, als jetzt, da sie durch die Türe nach ihren Freunden blickte. Es kam ihr vor, als ob die ganze Seifenkiste mit Geld bedeckt gewesen wäre. Dann war also Herr Euclid trotz seiner ärmlichen Kleidung ein reicher Mann! Wenn man solche Reichtümer durch Kresseverkaufen erlangen konnte, dann war sie ja auf dem besten Wege, reich zu werden. Sie hatte schon heute mehr Geld eingenommen, als sie je besessen hatte, und als sie es ihrer Mutter in den Schoß schüttete, hatte diese zum erstenmal seit Davids Fortgang gelächelt. Sie war ebenso wie Euclid neun bis zehn Meilen, den Weg zum Markt ungerechnet, durch den halbgefrorenen Schmutz der Straße gegangen, sie war müde, und der Hals schmerzte ein wenig. Ihr Herz aber war sehr leicht. Der herrliche Anblick von so viel Geld auf Euclids Tisch hatte sie geblendet. Warum hatten sie nie zuvor an diesen Handel gedacht? Es war jammerschade; denn wenn sie zur rechten Zeit angefangen hätten, so könnten sie jetzt soviel Geld besitzen, wie Euclid und Victoria.
Am andern Morgen stand Bessy schon vor vier Uhr auf, und als Euclid herunterkam, wartete sie schon auf ihn. Sie hatte es eilig, ihr Glück zu erjagen. Euclid gewöhnte sich nach und nach an seine Begleiterin und hörte ihrem Gespräch zu, während sie neben ihm herschritt. Tag für Tag traten der alte Mann und das junge Mädchen ihren beschwerlichen Weg durch Frost, Schnee und Nebel an, er mit der klaglosen Ausdauer des Alters, sie mit dem hoffnungsvollen Mut der Jugend.
»Es wird nun nicht mehr so einsam für dich sein, wenn ich nicht mehr da bin,« sagte Victoria eines Tages.
»Wie so, meine liebe Victoria?« fragte er.
»Du hast dann Bessy,« antwortete sie lächelnd, aber doch mit einem Anflug von Traurigkeit. »Du wirst dich zu ihr halten, Väterchen. Ihr beide wäret zwei einsame Leute, wenn ihr nicht zusammenhieltet. Frau Felton ist ihrem Ende nahe und ich vielleicht auch.«
»Fühlst du dich kränker, Victoria?« fragte der alte Mann ängstlich.
»Nein, kränker nicht,« sagte sie; »aber der Winter dauert so lange, und es ist immer so dunkel, und ich liege hier und tue nichts. Wenn ich der Mutter Verse und Lieder nicht hätte, wüßte ich nicht was ich anfangen sollte. Eins habe ich heute den ganzen Tag hergesagt.«
»Welches war es, Liebling?« fragte er. Victorias Stimme wurde leise und feierlich, als sie sagte:
»Hin nach oben möcht' ich ziehen,
Hin nach meines Vaters Haus,
Wo die ew'gen Höhen glühen,
Wo die Himmelsblumen blühen,
Ruhte meine Seele aus.«
»Ja, diese Verse sagte sie immer, ehe du geboren wurdest,« sagte Euclid sanft.
»Nicht wahr, Vater, wir haben nun genug Geld zu meinem Begräbnis?« fragte Victoria.
»Gewiß, Liebling, vollauf genug,« antwortete er, »es reicht auch noch zu einem schwarzen Tuch für Bessy, wenn dir das ein Trost ist.«
»Sie ist kräftig und kann dir verdienen helfen,« bemerkte Victoria fröhlich, »und dann hast du jemand, der achtgibt, daß du auch deinen eigenen Sarg bekommst, Väterchen. Ich denke mit Freude daran, daß ihr zusammenhalten werdet, wenn ich von euch gegangen bin.«
»Meine Aufgabe wird dann erfüllt sein,« antwortete Euclid. »Ich versprach deiner Mutter zu tun, was ich nun getan habe. Dann bin ich auch bereit zu gehen, 's ist doch ein sonderbares Ding, dies Leben!«