Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtzehntes Kapitel.

Warum ging Herr Dudley nun gerade nicht zu der Zeit, als man dort so dringend seiner bedurfte, auf London-Bridge? Diese Frage stellte sich derselbe mit einem bittern Gefühl der Enttäuschung und der Niedergeschlagenheit. Es war seine Gewohnheit, häufig am Abend dorthin zu gehen und den Sonnenuntergang vom Fluß aus zu beobachten; aber an diesem Tage hatte er sich für zu beschäftigt gehalten, um auszugehen. Irgendeine unbedeutende Arbeit, die ebensogut an jedem andern Tage hätte verrichtet werden können, hatte ihn daran verhindert, das Ziel zu erreichen, das er immerfort vor Augen gehabt, seit er Davids Geschichte kannte.

Er hatte jede nur mögliche Anstrengung gemacht, um Davids Spur zu finden und bis jetzt immer vergeblich; aber wie Bessy ihm nun unter Tränen ihr Erlebnis auf der Brücke erzählte, faßte er neue Hoffnung. Bessy hatte ihn gesehen und mit ihm gesprochen und auch von ihm erfahren, daß er mit Blackett zusammenlebe. Es war vielleicht weniger schwer, Blackett zu finden, der schon seit vielen Jahren bekannt war, als wie David, dessen Laufbahn, abwärts in Laster und Verbrechen, erst seit kurzem begonnen.

Der nächste Tag war ein großer und denkwürdiger Tag in dem Leben Victorias und Bessys. Sie hatten seit Wochen daran gedacht und davon geträumt. Herr Dudley wollte sie den Fluß hinunter zum Schiff »Cleopatra« mitnehmen, wo Roger seit achtzehn Monaten zum Seemann ausgebildet wurde. Er war ein Knabe, der zuerst viel Mühe gemacht hatte, verschlossen und träge; aber mit der Zeit wurde Trägheit und Verschlossenheit besiegt. Allerdings wäre es noch immer gewagt gewesen, ihn zu einem Londoner Leben zurückkehren zu lassen, und er wäre dadurch wahrscheinlich, ebenso wie David, in eine Laufbahn der Schuld geraten, die ihn schließlich nur in das Arbeitshaus oder in das Gefängnis führen mußte. Sein Leben war nun England gewidmet, indem er half, dessen Handel an fremde Küsten zu bringen.

Der Sonnenaufgang war ebenso herrlich wie der Sonnenuntergang am Abend vorher. Als Euclid zu Markt ging, rief er Victoria noch zu, daß es der schönste Morgen des ganzen Jahres wäre, und lange vor der bestimmten Zeit waren Victoria und Bessy schon auf London-Bridge und warteten auf Herrn Dudleys Ankunft. Als er kam, zeigte ihm Bessy die genaue Stelle, wo sie David am vorigen Abend getroffen, und eine Wolke verdunkelte für einige Augenblicke ihr hübsches Gesicht. Aber allmählich verschwand dieselbe wieder, als das Schiff fortdampfte und sie außer Sicht der Brücke führte.

Eine Menge Menschen waren auf dem Schiffe, sie wollten alle nach der »Cleopatra«; denn es war deren jährlicher Festtag, und ein wirklicher Lord und eine Lady wollten die Preise verteilen. Sie konnten das Schiff schon lange sehen, ehe sie es erreichten, wie es abstach gegen das tiefe Blau des sommerlichen Himmels mit seinen Flaggen und Wimpeln, die von jedem Mast und von jeder Leine des Takelwerks herabwehten. Ein Boot, besetzt mit Schiffsjungen der »Cleopatra«, wartete am Landungsplatz, um Besucher zum Schiff zu führen; es waren sonnverbrannte, gesunde und fröhlich aussehende Knaben in blauer Seemannstracht, beinahe wie richtige Seeleute. Als einer der größten derselben sah, wie Bessy allenthalben umherblickte, nur nicht in der Richtung nach ihm hin, ließ er einen kurzen fröhlichen Ruf ertönen, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Es war Roger.

Von diesem Augenblick schien Bessy nichts als Roger zu sehen. Er war so groß, so kräftig und so frisch geworden, sein Gesicht hatte ganz den furchtsamen und mürrischen Ausdruck verloren und lächelte, sooft er ihrem Blick begegnete, wenn er sich über sein Ruder beugte. Roger half Bessy die Leiter hinaufklettern und ließ sie versprechen, nicht fortzugehen, bis er seine Rudertouren hin und her von der Landungsstätte beendigt und bereit wäre, sie über die »Cleopatra« zu führen. Sie und Victoria standen an der Brustwehr und sahen auf die kleinen Boote, die auf dem Wasser umherschwammen, während die Flaggen und Wimpel des Schiffes über ihrem Kopfe flatterten, und Musik, von andern Knaben gespielt, ertönte lustig auf dem Deck, wenn ein Boot nach dem andern mit Freunden und Besuchern beim Schiffe ankam. Bessy hielt Victorias Hand fest; aber sprechen konnte sie nicht.

Jeder kleine Dampfer brachte neue Gäste, und die Fahrten zur Landungsbrücke waren zahlreich; aber nach einer Weile war Roger frei, um Bessy triumphierend über das ganze Schiff zu führen. Er brüstete sich ordentlich mit dem Wissen von hundert Dingen, von denen sie nie etwas gehört. Auf dem Hauptdeck war das jährliche Festmahl auf langen, schmalen Tischen gedeckt; reichgeschmückt mit Blumen und Früchten, zeigte die Tafel mehr Porzellan, als Bessy sich je hätte vorstellen können. Aber hier verweilte Roger nicht lange. Er mußte ihr noch die Vorderkastelle zeigen und die Kajüte, das Schulzimmer und der Knaben Schlafstelle, wo Roger seine Hängematte aufhängte, hineinsprang, sich darin aufrollte und wieder hinaussprang mit einer Behendigkeit, die Bessy in Erstaunen versetzte. Auf dem Verdeck waren noch die Maste und das Takelwerk, die Segeltücher und Boote, und Bessy mußte den Gebrauch von allem kennenlernen. Auch mußte sie sehen, wie Roger barfuß kletterte, so gelenkig wie ein Affe, bis er zuletzt ihren Namen aus schwindelnder Höhe rief; dann mit den Armen den Mast losließ und sich schließlich allein mit den Füßen festhielt zu Bessys größter Angst und Schrecken. Es war ihr, als habe die Sonne noch nie so schön geschienen wie an diesem Tage, und die sanften Winde spielten auf ihrem Gesicht und brachten eine tiefere Farbe auf ihre Backen, und hätte nicht der eine schwere Kummer sie gedrückt, so wäre sie vollkommen glücklich gewesen.

Bessy, Victoria und Roger hatten ein nettes kleines Frühstück von Zwieback und Käse an einem ungestörten Plätzchen, während das Festmahl unten stattfand. Als dies vorbei war, wurden die Preise verteilt, und wer hätte dies je gedacht! Roger gewann einige derselben und mußte aus der Menge der Gäste und Schiffsleute hervortreten, um sie stolz und doch beschämt aus den Händen des Lords zu empfangen. Ein kräftiger Jubelruf klang in sein Ohr, als er zu Bessy zurückkehrte und ihr zeigte, was er erhalten, und sie sah einen Augenblick Tränen in seinen Augen, die er aber rasch fortwischte und dem nächsten Knaben aus allen Kräften zujubelte.

Dann kamen eine Menge Uebungen, und die »Cleopatra« schien ganz belebt mit frischen Knaben zu sein, die die Segel rafften und wieder aufwickelten, das Takelwerk um die Wette hinaufkletterten bis zum Hauptmast, Taue einflochten und knoteten und eine Menge anderer wundervoller Uebungen machten, in denen sich Roger mehrfach auszeichnete, während Bessy hinsah, als ob sie ihren Blick nie wieder würde von ihm wenden können. War dies wirklich Roger, der schmutzige, träge, elende Knabe, der, um von seinem Vater nicht gesehen zu werden, so oft in die Stube ihrer Mutter geschlichen war? War dies der erschreckte Dieb, der Euclids kleinen Geldschatz gestohlen und nur durch dessen dringende Bitte vom Gefängnis errettet war? Oder träumte sie nur einen köstlichen Traum, der verschwinden mußte, sobald sie erwachte?

Victoria freute sich des herrlichen Tages ebensosehr wie Bessy; aber sie saß mehr still und schaute nach dem tiefen Blau des Himmels und blickte in das Glitzern des raschen Flusses, nach seinen sanft abfallenden Ufern mit den grünen Wiesen. Sie war stärker geworden; aber man sah, daß sie immer ein kleines, zartes Wesen bleiben würde, nicht fähig für rauhe Arbeit. Herr Dudley war sehr geschäftig gewesen von dem Augenblick, seit er seinen Fuß an Bord gesetzt; aber als die Uebungen anfingen, setzte er sich eine kleine Weile neben sie und dachte bei sich, wie ernsthaft ihr Gesicht doch wäre und welch ein ruhiges Lächeln in ihren Augen wohnte.

»Fehlt Ihnen etwas, Victoria?«

»Ich denke nur an alles mögliche, lieber Herr,« antwortete sie. »Sie wissen, ich bin gewohnt, viel zu denken, da ich immer so viel allein sein mußte, wenn mein Vater fort war, damals ehe Sie uns kannten.«

»Und woran denken Sie, Victoria?« fragte er weiter.

»Kostet es mehr, Roger hier zu erhalten, als wie David im Gefängnis?« fragte das junge Mädchen und richtete ihre ernsthaften Augen auf Herrn Dudley.

»Gefängnisse kosten immer mehr als Schulschiffe.«

»Roger hat nun etwas Tüchtiges gelernt und weiß, sich einst seinen Unterhalt zu verdienen,« fuhr sie fort, »Er wird heiraten und Frau und Kinder ernähren und nie andern Leuten zur Last fallen. Ach, und nun David, ich denke daran, daß er zu Bessy gesagt hat, es gäbe keine, keine Hoffnung mehr für ihn. Und er war viel besser beanlagt, als Roger. Er war damals nicht schlechter als Bessy; sie würde auch auf Abwege geraten sein, wenn uns Gott Sie nicht noch zur rechten Zeit gesandt hätte.«

Victorias Augen füllten sich mit Tränen, und sie wandte ihr Gesicht fort von Herrn Dudley, indem sie kummervoll gen Westen blickte, wo der Rauch Londons, vom Abendrot gefärbt, am Himmel schwebte.

»Haben Sie je das Evangelium St. Lucä ganz gelesen, Herr Dudley?« fragte sie wieder.

»Gewiß, Victoria,« entgegnete er.

»Dann haben Sie auch gelesen, wie JEsus nahe vor Jerusalem kommt und wie er es ansieht und darüber weint. Das Weinen des HErrn bedeutet doch wirkliches Weinen, nicht wahr?«

»Gewiß,« antwortete Herr Dudley.

»JEsus weinte über Jerusalem,« fuhr sie fort, »und ich weiß, er weinte wirklich. Er sah die Stadt nur einmal, und da weinte er über sie. Darüber denke ich nach.«

»Ja, die Stadt!« wiederholte er. »Er sah die Stadt an und weinte über sie. Dies sind die Worte, nicht wahr, Victoria?«

»Ja,« sagte sie.

»Es ist wahr von Jerusalem, wie es von jeder Stadt in der Welt wahr ist. Und nachdem JEsus über sie geweint hatte, sagte er: Wenn du es wüßtest, so würdest du auch bedenken, was zu deinem Frieden dient. Aber nun ist es vor deinen Augen verborgen.«

Herr Dudley stand auf und sah ebenso wie Victoria gen Westen nach der goldumsäumten Wolke, die über der Stadt hing und die von den Strahlen der untergehenden Sonne schon purpurrot gefärbt wurde. Er wußte sehr wohl, daß er noch nicht den hundertsten Teil von dem Elend kannte, das unter jener Wolke lag. Wie viel unausgesprochener Kummer, Unwissenheit und Entwürdigung wohnte nicht in jenen Straßen? Er gedachte auch der Gefängnisse und Arbeitshäuser, wie sie von Zeit zu Zeit immer vergrößert wurden für die kommende und noch ungeborene Generation von Verbrechern und Umhertreibern, welche die Ruhe und die Stärke der Stadt gefährden würde. Und aus der innersten Tiefe seines Herzens rief er: »Wenn du es wüßtest, so würdest du auch bedenken, was zu deinem Frieden dient.«

Sie kehrten nach Hause zurück auf einem Dampfschiff, das bestimmt war, die Gäste der »Cleopatra« wieder heimwärts zu bringen. Als sie von dem Erziehungsschiff fortfuhren, folgten ihnen die Töne der Musik, und die Knaben kletterten das Takelwerk in die Höhe, auf die Masten und wo sie nur immer Platz finden konnten und wehten mit ihren glänzenden Hüten und jauchzten ihren abreisenden Gästen fröhlich nach. Solange Bessy die Knaben noch sehen konnte, wandte sie ihr Gesicht nicht vom Schiff und von Roger, der inmitten seiner Gefährten stand. Es war ein wundervoller Tag gewesen, an den sie denken würde, solange sie lebte. Wenn David nur ebenso wie Roger dorthin gekommen wäre!

Ihr erster Landungsplatz war London-Bridge. Es war schon dunkel, und die Lampen waren bereits angezündet, und als Bessy aufsah, glaubte sie Davids trauriges und verzweifeltes Gesicht zu sehen, wie er sich über die Brustwehr lehnte und auf sie hinabsah. Doch als sie wieder hinblickte, war er verschwunden.


 << zurück weiter >>