Julius Stinde
Emma das geheimnißvolle Hausmädchen
Julius Stinde

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Neununddreißigstes Kapitel.

Die Geheimnisse des Pensionats.

Als Stephan, Graf Szmoltopski Mauerstraße, links drei Treppen, eintrat, war der Flur nur matt erhellt, der mit seiner einfachen Dekoration einen gut bürgerlichen Eindruck machte.

Ein in weiße Seidenstrümpfe, erbsgrüne Plüschhosen und fliederfarbenen, silberbelitzten Frack gekleideter Diener, der ehrerbietig Befehle erwartete, erregte als Gegensatz zu dem fast miethskasernlichen Mobiliar das Erstaunen des Grafen, das noch wuchs, als die Geheimräthin Roldemolde einige seltsame Zeichen mit den Fingern der rechten Hand von sich gab, die der Diener mit einigen ähnlichen seinerseits erwiderte.

»Er ist taubstumm und darum verschwiegen,« sprach sie erklärend, »und redlich wie die Ober-Rechnungskammer. Seine einzige Leidenschaft sind Trinkgelder, obgleich er nicht trinkt. Nur auf diese Weise vermag sich der sonnige Humor des Unglücklichen zu äußern, da ihm die Herstellung von Witzen wegen mangelnder Sprachbefähigung nicht gelingt. Doch bitte folgen Sie mir in meine Kanzlei.«

Der Taubstumme öffnete eine Thür. Die Roldemolde und Graf Szmoltopski traten ein. Einige bequeme Ledersessel, ein Schreibbureau und ein großer Geldschrank bildeten die fachentsprechende Einrichtung dieses Gemaches.

»Ich begreife nicht . . .« begann der Graf, nachdem er zum Sichniederlassen aufgefordert worden war.

»Wir haben keine Zeit zu verlieren,« unterbrach ihn die Roldemolde, »denn gerade auf die kommt es an.«

»Zeit ist Geld,« pflichtete der Graf kaufmännisch gebildet zu.

»In diesem Falle Leben oder Tod, Gefängniß oder Freiheit,« sagte die Geheimräthin so schwer und ernst, daß dem Grafen der Gaumen trocken wurde und er unwillkürliche Schluckbewegungen machen mußte.

»Aber verzagen Sie nicht. Wir werden ein Alibi konstruiren, an dem der findigste Kriminalist sich die Zähne ausbeißt.«

Dem Grafen wurde noch trockener im Munde.

»Zunächst jedoch bitte ich um Ihre genauen Personalien für das Geheimbuch.«

Die Roldemolde zog metallene Stulpen über die Hände und nahm das Geheimbuch aus einem Geheimfach des feuerfesten Kassenschrankes. Es war in gegerbten GußstahlEine kleine Nebenbei-Erfindung des berühmten Edison, die er zwischen Strumpfausziehen und Zubettgehen machte. gebunden, mit sieben Brahmaschlössern verschlossen und daher von Unberufenen nicht zu öffnen. Außerdem waren Giftstacheln daran, die jeden lähmten, der es ohne Aluminiumhandschuhe anfaßte.

Die Roldemolde notierte rasch mit unleserlicher chemischer Tinte, was der Graf auf ihr Befragen aussagte: Namen, Alter, Stand, Impfschein, ob immer gesund gewesen, ob krank und woran, welcher Arzt, welche Lieblingsgetränke, dito Gerichte, dito Farben, dito Blume, dito Komponisten, dito Dichter, so daß sie in kürzester Frist seinen ganzen Charakter genau zu Buch hatte. Auch über sein Vermögen mußte er Auskunft geben.

Die Hauptsache aber ließ er ungenannt.

Emma! Er war ja auch nicht nach ihr gefragt worden.

Ob es richtig war, daß die Roldemolde den Grafen für ledig halten mußte?

Ledige sind den Versuchungen mehr ausgesetzt als Verheirathete, weil sie ein vorwurfsfreieres Leben führen, indem sie keine Gardinenpredigten zu erleiden brauchen.

In diesem Augenblicke kam der taubstumme Diener und maß mit einem Schneidermaß die Länge des Grafen, Umfang, Brust-, Arm- und Beinweite und was dazu gehört mit peinlichster Sorgfalt, wobei er der Geheimräthin die Zentimetermaße, die diese aufschrieb, durch Handsprache übermittelte.

»So,« sprach sie und gab dem Diener einen Zettel.

»Lieber Graf, folgen Sie dem biederen Benedikt, er wird Ihnen einen auf das Tadelloseste sitzenden Gesellschaftsanzug aus der Garderobe des Hauses zusammenstellen und Ihnen bei der Toilette behülflich sein. In zehn Minuten erwarte ich Sie im Salon. Und nun zur Hauptsache . . . .«

Der Graf blickte die Geheimräthin gespannt an.

»Sie müssen schweigen über Alles, was Sie heute im Thiergarten erlebt haben, schweigen über alles, was Sie in diesem Hause erleben werden. Ihre Revolver, der Sie verrathen könnte, nehme ich in Verwahrung. Sie dürfen ihn nicht wieder erkennen, wo und wie er Ihnen auch vorgelegt wird. Schweigen, Herr Graf, Schweigen!! Wenn Sie reden, reden Sie sich zum Mörder.«

Die Roldemolde machte mit den Fingern: »Benedikt, allez« und der Taubstumme zog den ebenso bestürzten wie willenlosen Grafen mit sich in ein vornehm ausgestattetes Toilettenzimmer, wo er ihn mit geradezu unglaublicher Gewandtheit in nicht ganz neun Minuten derart elegant kleidete und frisirte, daß der Graf, hätte er in dieser gesellschaftlichen Aufmachung uneingeladen ein Hoffest besucht, schwerlich hinausgeworfen worden wäre.

Als Stephan, Graf Szmoltopski seine edle Gestalt in den beiden lebensgroßen Spiegeln bewunderte, die einander gegenüber in den Wänden eingelassen waren, mußte er bekennen, daß der Diener seine Sache sehr gut gemacht hatte, aber da Worte des Dankes wegen der mangelnden Hörbefähigung des Unglücklichen nicht angebracht waren, gab er ihm einen Grünenthal'schen Bankschein als Trinkgeld, von denen er einige verdächtig aussehende für wohlthätige Zwecke reservirt hatte.

Benedikt war über die große Gabe überrascht, jedoch seine Züge nahmen nicht den Ausdruck des Dankes an, sondern den großer Sorge und Betrübniß.

»Sollte er gemerkt haben, daß der Schein nichts taugt?« durchfuhr es Szmoltopski.

Der Taubstumme wies auf die Thür. Es schien Szmoltopski, als deutete er mit seinen Gebärden schleunige Flucht an.

»Wie meinen Sie?« fragte Szmoltopski. »Ich verstehe Sie mit dem besten Willen nicht.«

Die Angst des Taubstummen steigerte sich wahrnehmbar. Er stieß krächzende Töne aus: vergebliche Versuche, zu sprechen.

»Was geht hier vor? Was ist dies für ein Haus?« fragte Szmoltopski eindringlich. »Reden Sie doch, Unglücksmensch.«

Des Taubstummen Gesicht schwoll roth an vor Anstrengung.

Plötzlich kam dem Grafen ein günstiger Gedanke. Er nahm seine Brieftasche, entriß ihr ein Blatt . . . . er nahm seinen Bleistift . . . . hielt beides dem Sprachunfähigen hin, damit er schriebe, was ihm zu sagen von naturwegen verwehrt war.

»Grrr . . . Grrr . . . Grrr« würgte der Taubstumme.

»Zum Donnerwetter, Kerl, schreiben Sie,« schrie Szmoltopski ihn an. »Was habe ich hier zu befürchten?«

»Nichts!« sagte eine spöttische Stimme.

Szmoltopski blickte sich um. Vor dem einen Spiegel stand, in silbergraue Seide gekleidet, mit Brillanten im Haar und einem fünfreihigen Halsband kostbarer Perlen, die Geheimräthin Roldemolde.

Auf einen befehlenden Wink reichte ihr der Taubstumme mit dem Ausdrucke tiefster Unterwürfigkeit den soeben vom Grafen erhaltenen Bankschein, den sie mit einer Selbstverständlichkeit, wie solche nur durch Uebung in höheren Kreisen erworben wird, zu sich steckte.

Wo aber war sie so plötzlich hergekommen, so unerwartet, so geräuschlos? Von wo aus hatte sie des Grafen letzte Frage vernommen? Wurde man in diesem Hause ungesehenerweise belauscht?

Ein kurzer aber scharfer Verweis in der Fingersprache trieb dem unglücklichen Taubstummen Thränen in die Augen. Sie rollten ihm über die bleichen Wangen, als er sich demüthig verbeugte, traurig gurgelnd, das Zimmer verließ und fielen auf den feinen Axminster-Teppich, der sie ebenfalls stumm auftrank.

Wenn Teppiche reden könnten, wie viel sie wohl zu erzählen wüßten? Es ist jedoch besser für Manche, daß sie es nicht können.

Beim Hinausgehen hatte der Diener – ob zufällig oder absichtlich, das bleibe vorläufig bis zur Aufklärung der Thatsachen dahingestellt – die elektrische Leitung ausgeschaltet, so daß unvorhergesehene Dunkelheit eintrat.

Beide stießen einen Ausruf der Überraschung aus, der Graf, weil er sah, was er sah, die Roldemolde, weil der Graf sah, was er nicht sehen sollte.

Durch den einen der lebensgroßen Wandspiegel fiel nebelschimmernder Lichtschein in das finster gewordene Zimmer und in diesem Scheine erblickte der Graf eine liebreizende weibliche Gestalt im Begriff, ein hochelegantes Korsett aus Rosa-Atlas anzulegen. Da sie sich trotz der Ueberraschungsausrufe durchaus nicht stören ließ, sondern unbefangen mit der Fertigstellung ihrer Toilette fortfuhr, folgerte der Graf, daß die reizende Unbekannte wohl gesehen werden konnte, selber aber die sie heimlich Beobachtenden nicht wahrzunehmen vermochte.

Hätte sie sonst ohne Arg ihre schön gerundeten Schultern, ihre vollen und doch schlanken Arme den Blicken preisgegeben, ihre ideal gebildeten Händchen auf die üppig quellenden Hüften gestützt und sich in sanften Wellenbewegungen schalkhaft hin und her gewiegt? Hätte sie sonst so in schmachtender Selbstvergötterung gelächelt, die schwellenden Lippen zum Kusse gespitzt und unter den dunklen Wimpern der halbgeschlossenen Augen verhaltene Gluth wie triumphirendes Gewähren hervorleuchten lassen? Hätte sie sich sonst mit diesen kinderhaften Barfüßchen in den goldgestickten Schwanbesatztöffelchen gezeigt? Nein, sie hätte wie Monna Vanna mindestens einen Pudermantel genommen.

Obgleich Graf Stephan seiner über Alles angebeteten Emma unverbrüchliche Treue gelobt hatte, wurde er bei diesem Anblick dennoch von so heftigen Rückfallsgefühlen überwältigt, daß er auf die sich sowohl, wie auch ihn anziehende Schöne zum Handgenuß ihrer wonnigen Formen losstürzte, um ihr zu zeigen, daß Keine ungestraft in Stephan, Graf Szmoltopski's Gegenwart den Mund in Kußbereitschaft setzte.

Toilette spornte ihn von jeher zu hilfsbereitem Eingreifen an, einerlei, ob sie im positiven oder im negativen Sinne gemacht wurde.Lesern ohne ausgebildetes Gefühl für Stilfeinheiten sei hier bemerkt, daß durch positiv »an«-, durch negativ »aus«-ziehen, in subtiler Umschreibung, das Dekorum auf das Peinlichste gewahrt wird. Der Verf. Oft sagte daher Emma, als sie noch gattenmäßig zusammenlebten, zu ihm in edler Wallung: »Nun aber hinaus, Stepp, Du hältst mich blos unnöthig auf.«

»Was beginnen Sie?« rief die Roldemolde und riß den Grafen am Frackschoß zurück. »Sie zerklüften sich den Schädel!«

Bei diesen Worten gewann sie die Schaltung und knipste. Elektrische Helle durchfluthete das Gemach. Das Bild der Schönen war verschwunden und Szmoltopski gewahrte zu seinem Entsetzen, daß, wenn er nicht gehalten worden wäre, er durch Hineinrennen in den großen Wandspiegel hätte die Stirne zerschellen und die Halsadern an den Splittern zerschneiden können.

»Meine Gnädigste,« rief er, »es geht hier nicht mit rechten Dingen zu, ich muß Sie dringend bitten, mich zu entlassen.«

»Sie bleiben!« entschied die Roldemolde energisch. »Was hier zugeht, ist Alles natürlich.«

»So wäre, was ich soeben sah, nur eine kinematographische Darstellung gewesen?«

»Keineswegs. Die schöne junge Dame, die Sie heimlich belauschten, lebt, jedoch nur ein Zufall, ein Versehen Benedikts in der Umschaltung der Beleuchtung, machte Sie mit einer Einrichtung dieses Hauses bekannt, die Ihnen erst später offenbart werden sollte, nachdem Sie das Wesen und die Ziele des ganzen Betriebes erfaßt und das erforderliche Verständniß erworben.

»Wo aber befindet sich das exquisite lebende Wesen?« fragte der Graf.

»Hinter diesem Spiegel,« antwortete die Roldemolde, »denn alle Spiegel dieses Hauses sind je nach der Beleuchtung durchsichtig. Wer davorstehend hineinblickt, gewahrt sein eigenes Spiegelbild, wird aber von Jemand, der auf der andern Seite steht, wie durch klares Glas in polarisirtem Licht erschaut. Diese Spiegel aus Jenenser Doppelglas sind eine Erfindung des Japaners Teltorubi, der bei Helmholtz gelernt hat. In meinen Salons verkehren die ausgewähltesten Geister. Doch davon später.«

Die Roldemolde ging auf eine Wanduhr zu. »Sehen Sie diesen Chronometer, eine Erfindung des großen Mathematikers Lord Kidlay und ein persönliches Geschenk. Sobald ich sie stelle, richten sich sämmtliche im Hause befindlichen Zeitanzeiger nach ihr durch magnetotelepathische Fernwirkung. Jetzt drehe ich die Zeiger zurück, denn es gilt Ihr Alibi. Und nun kommen Sie, Graf.«

Sie drückte auf einen Knopf. Der zweite große Wandspiegel drehte sich um seine Längsaxe und öffnete dadurch den Zugang in das Privatzimmer der Geheimräthin.

»Nun wissen Sie, wie ich so plötzlich eben bei Ihnen erschien,« lachte sie.

»Ist dieser Spiegel auch durchsichtig?« fragte der Graf.

»Selbstverständlich. Ich hörte, was Sie zu dem Diener sprachen, sah Alles.«

Szmoltopski erröthete.

»In diesem Hause ereignet sich nichts, was ich nicht sehe, nicht höre, nicht erfahre, nicht weiß,« sagte die Roldemolde, »und zwar durch die Erfindungen der Neuzeit. Was war das berühmte Ohr des Dyonys gegen mein Pensionat, das vorbildlich für den Zukunftsstaat ist, wo die Oberleitung ins intimste Familienleben visiren muß, um zu erkennen, ob das politische Verhalten recht ist. Uebrigens geben Sie sich keine Mühe, Benedikt zum Schreiben zu verleiten, es wäre umsonst.«

»Hat er niemals schreiben gelernt?«

»Er schrieb fließend eine schöne Hand, aber mein Freund, der zukünftige Professor Moskolow, der Physiologe, hat ihm elektrisch das Schreibzentrum im Gehirn ausgebrannt. Dies Vorgehen ist doppelt gerechtfertigt: einmal erhöht es die Brauchbarkeit meines Dieners für meine Zwecke und zweitens war dies Zerstören der Gehirnstelle ein wissenschaftliches Experiment, das vorzüglich gelungen ist, da Benedikt keinen Buchstaben mehr zu schreiben vermag.«

»Aber was wird aus dem Armen, wenn er von Ihnen geht?«

»Dann heilt Moskolow ihm ein neues Zentrum ein, daß er gleich Englisch und Französisch parliert. Oder auch ›Russisch‹, das jetzt viel verlangt wird. Doch von Politik später.«

»Ist . . . der . . . Unglückselige etwa . . . gar künstlich taubstumm?« fragte der Graf mit förmlichem Schauder.

»Nicht künstlich, sondern wissenschaftlich,« entgegnete die Roldemolde streng belehrend. »Doch kommen Sie. Sie werden Moskolow kennen lernen und manchen hoch bedeutenden Herrn, sowie ferner sehr hoch bedeutendere Damen.«

»Auch jene, die hinter dem Spiegel . . . .?«

»Auch sie. Aber damit Sie nicht verrathen, daß Sie bereits vorher ihre bildliche Bekanntschaft gemacht haben, wird Professor Moskolow eine kleine Operation an ihrem Gehirn vornehmen und die letzten Eindrücke galvanokaustisch auslöschen.«

»Ich bitte Sie dringend, meine Gnädige, mich zu entlassen.«

»Wie Sie wünschen,« entgegnete die Roldemolde spöttisch lächelnd. »Doch hören Sie das Rufen draußen auf der Straße?«

»Nicht das leiseste Geräusch.«

»Nehmen Sie dieses drahtlose Telephon, Erfindung von dem berühmten Maccaroni. Hören Sie. Man ruft Extrablätter aus: Der grausige Doppelmord im Thiergarten.«

»Ja, ja,« stotterte Szmoltopski, »ich höre es deutlich.«

»Nun,« fragte die Roldemolde betonend, »wie wäre es, wenn Sie hingingen, um nähere Auskunft zu geben; ich denke, Sie haben eine Aktie in dem Geschäft.«

Szmoltopski preßte die Lippen aufeinander. »Ich bleibe,« sprach er, »und werde schweigen, ohne daß der Professor mit dem russischen Namen mir mit seinen Brennstiften an's Gehirn kommt.«

»Gut so!« sagte die Roldemolde mit leicht girrendem Lachen der Befriedigung und öffnete die Flügelthüren. Ein Meer von Licht strahlte ihnen entgegen. Sie waren in den Vorsälen des Pensionats, wo Alles zum Empfang der Gäste bereit stand.

In den Straßen aber gellte es: Mord! Mord!

Finster und düster lag der Weg im Thiergarten.


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