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7

Die Insel wurde größer.

Poni stand am Steuerrad und kniff die Augen zusammen, um bei dem blendenden Sonnenlicht sehen zu können. Aioma war neben ihm. Auch Le Moan hielt sich in der Nähe auf. Dick hatte sich an einer schattigen Stelle auf Deck niedergelegt und stützte sich auf den Ellbogen. Der Anblick der Insel, die nicht Karolin war, hatte ihm die letzte Kraft genommen.

Vier Tage lang hatte er kaum Nahrung angerührt, und vier Tage lang hatte Le Moan beobachtet, wie er mehr und mehr zusammenfiel. Es war, als ob ein großer, kräftiger Baum allmählich austrocknete und verdorrte. Auf Karolin wuchs eine Schlingpflanze, die sich an den Bäumen emporrankte wie unser Efeu. Sie wuchs an der Rinde hoch und hüllte den Stamm vollkommen ein, ohne ihn zu beschädigen. Aber wenn man sie von dem Baum entfernte, ging auch er ein.

Taori erschien Le Moan wie ein solcher Baum, und Katafa war die Schlingpflanze, die sich um ihn rankte.

Und sie hatte recht.

Selten war eine Liebe so rein und selbstlos, so tief und dauernd wie die Liebe zwischen Taori und Katafa. All die kleinen und großen, die schönen und schrecklichen Erlebnisse, aus denen ihre Vergangenheit bestand, ketteten sie aneinander. Und wenn man dieses Band gewaltsam zerschnitt, bedeutete es den Tod für sie.

In diesem heißen Klima, das die Winden so rasch aufschießen läßt, daß man es mit den Blicken verfolgen kann, sterben die Menschen auch schnell an unglücklicher Liebe.

Taori, von Katafa getrennt, siechte dahin. Es war nicht die Trennung allein, sondern die Art der Trennung, die sein Schicksal besiegelte.

Er war nicht nur von Katafa entfernt, er war auch aus seiner gewohnten Umgebung herausgerissen. Seine Welt bestand aus Marua und Karolin, aus dem Meer, das beide umschloß, aus dem Himmel und Katafa.

Und nun war Marua verschwunden, und Karolin war ihm genommen. Nichts blieb übrig als eine große, leere Wasserwüste und die Trauer um Katafa.

Er mußte sterben; die Stärke seiner Leidenschaft tötete ihn.

Aioma sagte, daß Taori sterben würde, und Le Moan wußte es.

Er starb, weil Katafa ihm genommen war und fern von ihm weilte.

Die Wellen, die gegen die Schiffswand schlugen, die knarrenden Taue und die Rahen flüsterten es. »Taori stirbt, weil Katafa nicht mehr bei ihm weilt – weil Katafa nicht mehr bei ihm weilt ...«

Und inzwischen wurde die Insel vor ihnen immer größer.

Aioma, den der Anblick des Landes freudig erregte, sprach in seiner hohen Stimme mit Poni. Aber Le Moan hörte es nicht, und sie kümmerte sich auch nicht darum.

Taori würde sterben! Sie hatte ihn von Katafa getrennt, um ihn ganz für sich zu haben, und nun welkte er vor ihren Augen dahin.

Das schwache, weit entfernte Rauschen der Brandung an den Ufern der Insel drang zu ihr und mischte sich in den Klang der Stimmen von Aioma und Poni. Und jetzt ertönte plötzlich in unmittelbarer Nähe der schrille Ruf einer Landmöwe, die dem Schiff entgegengeflogen war.

»Taori stirbt an seiner Liebe zu – Katafa – Katafa – Katafa!« schrie der große, weiße Vogel.

Le Moan folgte ihm mit den Blicken und sah dann wieder zum Vorderdeck, wo Taori in halb liegender Stellung neben dem Küchenhaus lehnte. Die Sonne brannte auf seinen nackten Rücken, aus dem die Wirbelsäule und die Rippen deutlich hervortraten.

Und immer lauter rauschte die Brandung von dem Korallenriff zu ihr herüber, schwer wie der Atem eines müden Mannes.

»Das ganze Leben ist traurig und voll Mühe und Arbeit«, seufzte die Brandung, »und es gibt keine Freude mehr unter der Sonne – und Taori stirbt aus Liebe zu Katafa.«

»Katafa«, knackte die Takelage in das Schäumen des Kielwassers.

Der Wind frischte auf, das Hauptsegel blähte sich, und die Kermadec warf ihren Bug den Wellen entgegen. Aber alle Laute ringsumher schienen zu seufzen und zu klagen wie ein Sterbender. Und die Koralleninsel wurde größer und größer, die Palmbäume erhoben sich über dem Wasser, das Korallenriff und die Brandung wurden sichtbar.

»Die Korallen wachsen, die Palmen recken sich zum Himmel, aber die Menschen müssen sterben«, flüsterte der Wind, während sich schon die Lagune durch die Einfahrt zeigte. Le Moan wußte, daß Taori auf dieser Insel seine letzte Ruhestätte finden würde, wenn sie in den Hafen einfuhren. Der schreckliche Kampf, der in ihrem Innern tobte, kam ihr kaum zum Bewußtsein. Sie fühlte sich hilflos, unglücklich, verlassen und nutzlos. Sie wurde von zwei feindlichen Mächten hin und her gerissen, die so stark waren wie Leben und Tod.

Die Brandung rauschte jetzt tiefer und feierlicher, und Le Moan sah sich wieder an dem Ufer von Karolin. Die Sterne schienen, und die kleinen gewundenen Muscheln tönten leise, um die bösen Geister fernzuhalten, denn Uta Matu, der König, lag im Sterben, und sein Atem kam schwer und müde aus dem Haus.

Und plötzlich warf Le Moan wie ein Schläfer, der aus einem furchtbaren Traum emporfährt, die Arme in die Höhe, um die bösen Geister zu verscheuchen, die von ihrer Seele und dem Körper Taoris Besitz ergreifen wollten.

Le Moan riß Poni von dem Steuer weg, faßte in die Speichen des Rades, und das stolze Schiff wandte den Kurs. Die Segel klatschten bei der Wendung vor dem Wind, dann füllten sie sich von neuem.

Die kleine Insel glitt an Backbord vorüber, und die Kermadec segelte nach Nordwesten.

»Nach Karolin!« rief Le Moan. »Aioma, ich sehe es wieder – der Weg liegt klar vor mir.«

»Nach Karolin!« rief nun auch Aioma. »Taori, der Zauber ist gebrochen, wir sind frei! Das Netz Le Juans ist zerrissen, und die Speere Uta Matus sind stumpf geworden.«

Rantan wartete, hinter dem Gebüsch verborgen. Es würde eine Stunde, vielleicht auch länger dauern, bis der Schoner in die Lagune einlaufen konnte. Aber er lauschte, während er auf dem Boden lag, und seine Gedanken waren in wildem Aufruhr.

Sie würden die Koralleninsel durchsuchen, sie würden das Gebüsch durchstöbern, aber immerhin war es möglich, daß sie ihn nicht fanden.

Wehe ihm, wenn sie ihn entdeckten! Er malte sich dieses Verhängnis in den grellsten Farben aus. Aber vielleicht konnte er auf die Lagune entkommen, zum Schiff schwimmen, an Bord klettern und ein Gewehr ergreifen. Dann wäre die ganze Lage zu seinen Gunsten geändert. Als weißer Mann konnte er es mit hundert Kanakas aufnehmen. Die Zeit verging. Die Brandung donnerte, und der Wind rauschte in den Bäumen. Aber von der See draußen kam nichts. Er schaute durch die Büsche und konnte etwas von dem Riff im Norden sehen. Jetzt hätten sich mindestens die Mastspitzen des Schoners zeigen müssen, aber es war noch nichts zu bemerken.

Wie eine Eidechse kroch Rantan aus den Büschen und schlich sich vorsichtig auf die höheren Stellen der Korallenbank bis zu seinem Wachtposten. Er kroch buchstäblich auf Händen und Füßen Handbreite um Handbreite vorwärts, bis er das Meer sah. Dann erhob er sich zu seiner vollen Größe.

Und in der Ferne sah er den Schoner, der mit gestrafften Segeln von der Insel wegfuhr.

Rantan wollte seinen Augen nicht trauen. Sie waren hierhergefahren, um ihn zu fangen, und nun segelten sie wieder fort!

Oder er hatte sich geirrt. Sie suchten gar nicht nach ihm. War es überhaupt die Kermadec? Hatte er sich nicht doch getäuscht? Konnten andere Fahrzeuge nicht auch geflickte Segel haben?

Mit hungrigen, gierigen Blicken folgte er dem Schiff, das sich immer weiter entfernte und sich schließlich in der Ferne aufzulösen schien.

Wie schnell es segelte!

Er sah ihm nach, bis es unter dem Horizont verschwand und alle Hoffnung mit sich nahm. Dann schlich er zu dem alten Kanu, das er beschimpft und geschmäht hatte. Die sengenden Sonnenstrahlen hatten den Riß vergrößert; die vordere Verbindungsstange mit dem Ausleger hatte sich in den brandenden Wogen gelockert, und es war kein Ruder vorhanden.

Wahnsinnige Furcht packte Rantan, aber er kämpfte die Schwäche nieder und kehrte zu den Bäumen zurück. Er sagte sich, daß er doch keinen Grund hätte, sich zu ängstigen. Das Schiff war fortgefahren; er hatte sich Sorgen um nichts gemacht. Aber plötzlich kam ihm zum Bewußtsein, daß er seit langen Wochen kein gekochtes Essen mehr genossen hatte und daß er vor einer neuen Krise stand. Er wollte fliehen – fliehen – fliehen.

Am Abend sank er todmüde nieder. Aber in der Nacht fuhr er auf, als ein Halm, vom Wind bewegt, gegen seine nackten Fußsohlen schlug. Zweimal geschah das. Und im Traum suchte er nach seinen Kleidern, und als er erwachte, sah er sich einem neuen, nutzlosen Tag gegenüber.

In seiner Nacktheit wandelte er am Ufer entlang. Und jetzt verhöhnten ihn die Möwen. Bis dahin hatten sie ihn vollkommen unbeachtet gelassen und sich nicht um ihn gekümmert, aber nun hatten sie ihn entdeckt. Sie lachten ihn aus und sprachen untereinander über ihn. Ab und zu flog einer der weißen Vögel über die Bäume, um zu sehen, was er machte.

Diese Vorstellung hielt einige Zeit an, dann ging sie vorüber. Rantan wußte, daß er sich das alles nur eingebildet hatte.

Die Möwen kümmerten sich überhaupt nicht um ihn.

Unter den Bäumen dicht am Ufer stand auch ein gewaltiger Stamm mit starken Ästen, von denen ein besonders langer etwa fünf bis sechs Meter über dem Boden waagerecht abzweigte.

Rantan lag im Schatten der Bäume und lauschte den Rufen der Möwen, die wieder ganz gewöhnlich und normal klangen. Und er starrte auf diesen Ast. Plötzlich sah er sich dort, aufgeknüpft an dem Tau, ledig aller Sorgen, nicht mehr nackt. Das Tau, das er aus den Gräsern gedreht hatte und das noch in den Büschen versteckt lag, hatte sich in seiner Vorstellung von selbst um den Ast geschlungen.

Er sah, wie er es aufhob, wie er zwischen den Büschen hindurchkroch und mit dem Strick in der Hand ins Freie trat, wie er auf den Baum kletterte, das Tau an dem Ast befestigte, eine Schlinge an dem freien Ende machte, sie um den Hals legte, vom Ast herunterglitt, krampfhaft mit den Füßen in die Luft stieß und zwischen Himmel und Erde hing.

*

Um die Mittagszeit flog eine Möwe über die Lagune, sah die hängende Gestalt und änderte plötzlich ihren Flug, als ob sie einen Schlag erhalten hätte. Eine Raubmöwe in der Höhe bemerkte es, kreiste einige Male und kam dann im Sturzflug wie ein Stein aus großer Höhe zu der Stelle, wo Rantan am Baum aufgeknüpft hing und im Wind hin und her schwang.

Ein nackter Mensch – und doch wäre er, wenn der Schoner in die Lagune eingelaufen wäre, fähig gewesen, sich in der Nacht an Bord zu schleichen und durch einen plötzlichen Überfall die Gewalt über das Schiff zu gewinnen. Dann hätte er nach Norden fahren und sich an Karolin rächen können, denn groß ist die Macht der weißen Männer. Aber Rantan war tot, geschlagen durch Le Moans Entschluß, das Schiff wieder nach Karolin zu steuern. Zum drittenmal hatte sie sich für Taori geopfert; zum drittenmal hatte sie Gefahr und Tod durch ihre Liebe überwunden.


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