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8

Tahuku hatte die Schiffsglocke angeschlagen, nicht zu einem besonderen Zweck, sondern wie ein spielendes Kind. Aber der ungewohnte Klang, der gerade in diesem Augenblick ertönte, erschien Aioma wie eine Antwort auf die Worte Taoris. Er sagte jedoch nichts. Taori hatte seinen Weg gewählt und mußte ihn gehen.

Am Mittag zeigte sich am nördlichen Horizont immer noch kein Land, obwohl der Wind nach wie vor den Schoner so schnell wie eine Möwe über das Meer trug.

Tahuku, der früher Koch gewesen war und den Aufbewahrungsort der Vorräte kannte, bereitete eine Mahlzeit, und während die Besatzung aß, ging Aioma zum Vorderschiff und hielt Ausschau. Aber er sah nichts, weder Land noch Möwen noch irgendeine Spur einer Küste. Nur wogendes Meer bis in endlose Ferne. Sie waren in der Strömung, die sich in tieferem Blau von den umgebenden Meeresfluten abhob.

Eine Straße, die an kein Ziel führte.

Der Kanubauer trat zu Dick, der vorn am Bug stand. »Taori, wir haben unseren Weg nicht verloren. Hier läuft die Strömung, und wir können noch immer das Lagunenlicht von Karolin am Himmel sehen. Wir sind schneller gefahren als die großen Kanus mit vierzig Ruderern, und wir sind seit heute morgen in der Frühe unterwegs. Aber Marua ist noch nicht in Sicht.«

Es war schon spät am Nachmittag, und Aioma suchte, während er sprach, den nördlichen Horizont von Westen nach Osten mit den Blicken ab.

»Keine Wolke verbirgt es vor uns«, fuhr er fort, wie ein Kind, das etwas Schweres erklären soll. »Es ist heller Tag, und trotzdem ist Marua nicht da – wir können es nicht sehen.«

Dick war ebenso bestürzt und betroffen darüber wie Aioma, aber er sagte nichts. Er wußte sehr wohl, daß spätestens zu dieser Zeit Marua am Horizont hätte auftauchen müssen. Bei Sonnenaufgang waren sie abgefahren, und das Schiff war pfeilgeschwind über das Meer geflogen. Und das Lagunenlicht von Karolin zeigte sich jetzt am Himmel so schwach, wie er es immer am Ufer von Marua gesehen hatte.

»Was ist mit der Insel geschehen?« fragte der Alte. »Warum ist sie vor unseren Blicken verborgen? Hat Uta Matu ein Zaubernetz darum gewoben, oder ist Marua fortgespült worden?«

Plötzlich wandte er sich um, als ob ihm eine Erleuchtung gekommen wäre. »Taori, wir mögen noch Tage und Nächte fahren und Sonne, Mond und Sterne hinter uns lassen, aber Marua werden wir nicht wiedersehen.«

Dick sagte noch immer nichts. Er wollte nicht glauben, daß Uta Matu die Macht hatte, sie mit einem Zauber zu behexen, und er wollte auch nicht glauben, daß Marua von den Wogen verschlungen worden war, die auf Karolin nur die Häuser zertrümmert hatten. Trotzdem war er verstört. Was war mit Marua geschehen?

Poni, der mit Le Moan in ihrer Nähe stand und Aiomas Worte gehört hatte, mischte sich plötzlich mit seiner sonderbar singenden Stimme ein.

»Wir sind hier an einer Insel vorübergekommen, als Peterson noch das Schiff befehligte. Wir fuhren damals denselben Kurs. Die Insel muß ungefähr an dieser Stelle gewesen sein, aber sie ist jetzt nicht mehr da. Und ihr erinnert euch noch an die großen Wogen, die zu uns nach Karolin kamen, und an die Möwen, die eine neue Heimat suchten? All diese Dinge sind in meinem Kopf zusammengestoßen wie drei Leute, die sich treffen und miteinander sprechen. Aioma, mir ist es klar, daß die Insel, die du suchst, im Meer untergegangen ist. Als damals die Möwen und die großen Wellen kamen, sagte ich zu Tahuku, daß irgendwo in der See eine Insel versunken ist wie Somaya, das nicht weit von Sorna entfernt lag und in der Zeit verschwand, bevor ich auf dem Hochseeschiff fuhr. Eines Tages war es noch da, und am nächsten Tag konnte man es nicht mehr sehen. Und damals kamen auch große Wellen. Du hast diese Insel Marua genannt, Aioma, aber du kannst sicher sein, daß Marua im Meer verschwunden ist.«

Merkwürdigerweise war Aioma weit davon entfernt, diese Bestätigung seiner Vermutung hinzunehmen. Er wandte sich heftig zu dem unglücklichen Poni, der es gewagt hatte, aus Erfahrung und Vernunft mit ihm zu sprechen.

»Was, die Insel soll im Meer untergegangen sein?!« rief er und lachte schrill auf, so daß die anderen sich nach ihm umdrehten, die im Vorderteil des Schiffes standen und über dieselben Dinge sprachen.

Marua untergegangen! Was sollte bloß dieses unsinnige Geschwätz? Wußte denn der Mann nicht, daß eine Insel unmöglich im Meer untergehen konnte – untergehen wie ein ertrinkender Mann! Nein, die großen Wellen hatten Marua in Stücke zerschlagen, oder Uta Matu hatte sie vor ihren Blicken verborgen.

Das Gespräch ging weiter, und währenddessen sank die Sonne im Westen.

Le Moans Hände zuckten. Sie wollte wieder die Speichen des Rades fühlen und den Gegendruck des Steuers, denn sie hatte einen Plan gefaßt. Vielleicht war er ihr von Uta Matu eingegeben – wer kann das sagen? Vielleicht hatte auch ihre Leidenschaft für Taori ihn reifen lassen – wer weiß das? Aber sie hatte den festen Plan, das Steuer während der Nacht zu führen und den Schoner absichtlich vom rechten Kurs abzubringen. Sie wollte so weit von Karolin weg nach Osten steuern, daß das Licht der Lagune nicht mehr als Führer dienen konnte. Wenn dann das Schiff nach Süden fuhr, würde es nicht nach Karolin kommen.

Dieser Plan war plötzlich in ihr aufgetaucht und hatte sofort klare Form gewonnen. Was daraus entstehen sollte, wußte sie noch nicht, aber es stand bei ihr unerbittlich fest, von Karolin wegzusteuern.

Eine tiefe Liebe ist eine Kraft, die zwar in der Seele aufkeimt, aber doch wenig mit der Seele zu tun hat. Sie wirkt wie eine selbständige Macht, entfaltet große Energie und quält Körper und Seele des Menschen, von dem sie Besitz ergriffen hat. Leidenschaftlich Liebende leben in der Hölle, und selbst wenn sie daraus in den Himmel entkommen wie Katafa, warten doch jeden Augenblick wieder Höllenqualen auf sie, wie auch Katafa es erfahren mußte.

Für Le Moan, die dumpf litt, hatte plötzlich die Botschaft der Cassiblumen jede Bedeutung verloren. Sie hatten gesagt, daß Taori ihr gehören würde durch die Macht ihrer Liebe. Aber er gehörte ihr jetzt durch die Macht des Steuerrades. Sie konnte ihn mit sich fortnehmen und stets bei ihm bleiben, sie konnte ihn für immer von Katafa trennen, wenn sie in unbekannte Fernen steuerte. Und doch brachte ihr das Bewußtsein dieser Macht und der feste Entschluß, sie zu gebrauchen, keine Ruhe, keinen Frieden und kein Glück.

Sie würde ihm nahe sein, aber was nützt es einem durstgequälten Menschen, in der Nähe des Wassers zu sein, wenn er nicht trinken kann? Aber immerhin, sie würde ihm nahe sein.

Während sie den Untergang der Sonne beobachtete, verweilte sie bei diesem Gedanken, und sie lauschte, als Aioma auf sofortige Umkehr drängte. Dick zögerte. Bis Sonnenuntergang wollte er noch denselben Kurs weitersegeln. In der Dunkelheit konnten sie die Frage ja doch nicht mehr entscheiden. Im Innersten war er davon überzeugt, daß Marua nicht mehr existierte, daß die Küste, die Lagune, der Hügel, all die großen; Bäume und die schönen, bunten Vögel verschwunden waren wie ein Bild, das plötzlich fortgezogen wird. Entweder war Marua im Meer untergegangen, wie Poni gesagt hatte, oder die Wellen hatten es verschlungen, wie Aioma glaubte. Aber trotz seiner Überzeugung wollte er die Nachforschungen erst aufgeben, wenn die Dunkelheit hereinbrach.

Er sollte die Insel der Palmbäume nie wiedersehen?! Wie die Trauer um einen verlorenen Menschen übermannte ihn nun der Schmerz. Erst jetzt kam ihm zum Bewußtsein, wie sehr er die großen Bäume, die Lagune und das Korallenriff geliebt hatte. Er erinnerte sich daran, wie man sich an die Züge eines geliebten Toten erinnert. Er konnte nicht wenden, bis die Dunkelheit ihren Schleier über das Meer legte und ihm endgültig befahl: »Kehre zurück!«

Diese Gefühle bewegten ihn, während er vorn im Schiff stand und nach Norden schaute. Plötzlich hörte er ein Geräusch und drehte sich um. Aioma hatte sich in gebückter Haltung auf den Unterbau des Oberlichtes der Kabine gesetzt und streckte nun den Kopf vor wie eine Schildkröte. Er schien zu ersticken, aber er lachte nur.

Aioma hatte ähnlich wie Sru Sinn für Humor, und ein wirklich guter Witz konnte ihn in Ekstase bringen. Auch für ihn stand es jetzt fest, daß Marua vom Meer verschlungen worden war, und nachdem sich sein Geist mit dieser Tatsache vertraut gemacht und abgefunden hatte, sah er plötzlich die heitere Seite der Katastrophe. Er erinnerte sich nämlich an die schlechten, bösen Männer, die auf Marua gelebt hatten. Sie waren auch mit der Insel untergegangen, und seine Phantasie gaukelte ihm vor, daß sie wie Ratten auf dem Meer schwammen, in Todesangst schrien und unter gurgelnden Geräuschen ertranken.


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