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Dick beobachtete die rotgolden aufflammende Scheibe, die beinahe schon untergegangen war. Nur noch ein schmaler Streifen zeigte sich über dem Horizont. Sie nahm den Tag mit sich in die Tiefe, wie Marua seine Jugend mit sich in den Abgrund gezogen hatte und die letzten sichtbaren Zeichen, die ihn mit der Zivilisation verbanden. Er wandte sich um. Le Moan hatte die Führung des Rades übernommen.
Die Segel, die noch vor kurzem in purpurnem Gold strahlten, leuchteten jetzt in geisterhaftem Weiß, und ein topasfarbener Stern durchbrach im Westen schon das nach Violett abgleitende Blau des Himmels, wo die Mondsichel wie ein kleines, gebogenes Boot hing.
»Nach Süden!« rief Aioma. »E haya – nach Süden. Le Moan, nach Karolin. Wir haben gesehen, daß es hier nichts mehr zu sehen gibt. Steure nach Süden, denn meine Augen sind müde von dem Anblick dieser Wasserwüste.«
Le Moan war im Licht der Sterne nur undeutlich zu erkennen. Sie drehte das Steuer, und während die Ruderkette rasselte, wendete das Schiff. Die Segel schlugen um, und der Schoner neigte sich nach Backbord über – mit dem Kurs nach Osten. Aioma sah nach dem Mond, aber Le Moan beruhigte ihn.
»Die Strömung ist uns zuwider«, sagte sie. »Ich muß erst darüber hinaussegeln. Habe Geduld, Aioma, der Rückweg liegt klar vor mir.«
Zufrieden wandte er sich ab und legte sich auf Deck nieder. Dick, der ein paar Decken aus der Kajüte heraufgeholt hatte, breitete sie als Schlafmatte aus und ließ sich neben ihm nieder. Und die Kanakas, mit Ausnahme von Poni und Tahuku, gingen nach vorn in ihre Kojen.
Aioma, dessen Stirn auf den Armen ruhte, hörte das Rasseln der Ruderkette und wußte, daß Le Moan jetzt nach Süden steuerte. Mit Ponis Hilfe würde sie die ganze Nacht in dieser Richtung weiterfahren, sie kannte ja den Weg genau, der nach Karolin zurückführte. Es war sicher, daß sie vor Tagesanbruch dort ankommen würden, und er dachte an Kanubau und Jagd auf große Fische, bis der Schlaf über ihn kam, der auch schon Dick übermannt hatte.
Le Moan konnte ihre Gestalten im Sternenlicht sehen. Weiter hinten hatten sich Poni und Tahuku dicht neben den Eingang zur Küche niedergesetzt. Sie sprachen miteinander, rauchten, kümmerten sich um nichts und ergötzten sich an dem Geplauder über unwichtige Dinge, wie sie es auch sonst stundenlang zu tun pflegten. Und unter den Händen Le Moans segelte das Schilf wieder nach Osten.
Eine Stunde nach Mitternacht drehte der Wind und blies von Südwesten. Poni kam nach hinten, um nachzusehen, ob Le Moan etwas brauchte, Essen, Wasser oder eine Kokosnuß. Aber sie lehnte alles ab. Und wie sie einst die ganze Nacht hindurch das Schiff nach Karolin gesteuert hatte, so stand sie auch jetzt wieder am Rad, unermüdlich und in sich selbst versunken.
Als das Frühlicht am östlichen Himmel erschien, änderte sie allmählich den Kurs nach Süden und übergab dann Poni die Führung des Schiffes.
Sie hatte ihr Ziel erreicht. Wenn sie jetzt auch immer weiter nach Süden – E haya – steuerten, nie würde Karolin vor dem Bug der Kermadec erscheinen. Es lag so weit westlich, daß selbst das Licht der Lagune nicht mehr sichtbar sein konnte.
Beim ersten Sonnenstrahl erhob sich Aioma. Er sah Poni am Steuer, Le Moan lag an Deck. Sie war schnell eingeschlafen, nachdem sie ihren Plan ausgeführt hatte. Der Sonnenaufgang links auf Backbord sagte ihm, daß das Schiff südlichen Kurs hatte. Er ging nach vorn und hielt Ausschau.
Im Süden des Meeres zeigte sich jedoch keine Spur von der Insel, und auch am südlichen Himmel war nichts von dem Widerschein der großen Lagune am Firmament zu sehen. Nicht eine einzige Möwe konnte Aioma entdecken.
Er weckte Dick, holte ihn zum Vorderschiff und deutete nach Süden.
»Dort ist nichts«, sagte. Aioma, »und doch sind wir die ganze Nacht hindurch gefahren, und Le Moan irrt sich niemals in der Richtung. Das Licht der Lagune zeigt sich nicht. Um diese Zeit müßten die Bäume der Insel über dem Horizont auftauchen.«
Dick sah in den fernen Süden auf den prachtvoll blauen Himmel, der sich erbarmungslos klar und wolkenlos bis zum Horizont erstreckte. Er hielt den Atem an; eine kalte Hand schien nach seinem Herzen zu fassen. Wo war Karolin?
»Wer weiß das?« sagte Aioma. »Vielleicht sehen wir die Insel, wenn die Sonne höher steht. Wir wollen warten.«
Sie warteten, warteten und schauten hinaus in die Ferne, während die Sonne am Himmel höher und höher stieg. Aber die Sonne zeigte nichts, was nicht schon beim Morgengrauen zu sehen gewesen wäre. Nichts, nur fern im Westen schimmerte, kaum merklich und von ihnen unbeachtet, eine leichte blasse Stelle im Blau des Himmels – das Licht der Lagune von Karolin.
Aioma lief nach dem hinteren Teil des Schiffes, schüttelte Le Moan und weckte sie aus dem Schlaf. Sie kam mit ihm nach vorn und legte die Hand schützend über die Augen, damit sie nicht von der Sonne geblendet werden sollten.
»Karolin ist nicht da«, sagte sie. »Ich kann die Insel nicht mit meinen Augen und auch nicht im Geist sehen – der Richtungssinn hat mich verlassen, Aioma, im Schlaf ist mir die Kraft genommen worden.«
Aioma schlug mit der flachen Hand gegen die Stirn. Dann wandte er sich zu Le Moan, die ihn trotz der Lüge ruhig und offen ansah. In der Nähe stand Taori, der die Hände auf die Reling gelegt hatte und kaum zu atmen wagte.
»Was? Du weißt die Richtung nicht mehr?« schrie Aioma. »Die Kraft ist dir im Schlaf genommen worden? Wehe uns, nun treiben wir führerlos auf dem Meer! Wer konnte dir diesen Sinn nehmen außer Uta Matu? Taori, wir sind verloren, wir sind in den Händen der Unsichtbaren, wir haben uns in ihre Netze verstrickt. Ich habe es dir gesagt, und doch wolltest du nicht umkehren! Nie wieder werden wir Karolin sehen!«
Dick rührte sich nicht. Er sah wieder Katafa vor sich, wie sie bei der Abfahrt an der Küste stand. Katafa, die Geliebte, von der er sich getrennt hatte, ohne an sie zu denken. Das große Schiff und der Traum, damit aufs weite Meer hinauszusegeln, hatten all seine Gedanken gefangengenommen. Katafa wachte und wartete auf ihn, fern unter dem blassen Flecken am westlichen Himmel, der so schwach war, daß man ihn kaum mit den Augen wahrnehmen konnte.
Gestern abend schon, als er noch an sichere Rückkehr glaubte, hatte sich sein Herz nach ihr gesehnt. Er hatte in der Nacht von ihr geträumt. Durch tausend kleine Fäden war sie mit ihm verbunden – und nun sollte er sie nie wiedersehen!
Verzweifelt wandte er sich nach Süden, Westen und Osten, dann warf er sich, unbekümmert um alle anderen, in wilder Trauer nieder und legte das Gesicht auf die Arme, als ob er sich vor der verhaßten Sonne verstecken wollte.