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4

Die Besatzung des Schoners bestand jetzt nur noch aus sechs Leuten, und da Sru tot war, hatten sie keinen Führer mehr. Sie beobachteten Rantan, bis er hinten zu den Kabinen hinunterstieg, und als er verschwunden war, besprachen sie das Schicksal ihrer Kameraden. Die vier Toten waren von Soma, von den übrigen stammten zwei von Nanuti, die anderen aus Vana Vana und Haraikai. Der Verlust ihrer Gefährten machte ihnen wenig Sorge, und sie dachten kaum daran, daß sie vielleicht denselben Tod finden könnten. Sie konnten schlecht in die Zukunft denken und hatten großes Vertrauen zu Rantan. Nachdem sie eine Weile miteinander geredet und einen Wachtmann gewählt hatten, gingen sie wieder nach unten. Die Dunkelheit brach herein, und die Sterne leuchteten am Himmel auf.

Kanoa hatten sie als Posten gewählt. Er war ein reiner Polynesier aus Vana Vana, erst achtzehn Jahre alt und schlank und gerade gewachsen. Seine blitzenden Augen konnte man selbst im Dunkeln sehen, als er jetzt zu Le Moan hinüberschaute, die außer ihm das einzige lebende Wesen an Deck war.

Mit ständig steigendem Interesse beobachtete er sie seit Tagen und Wochen. Trotz ihrer Schönheit hatte sie ihn zuerst abgestoßen, weil sie sich so sonderbar benahm. In Vana Vana hatte er niemals ein Mädchen wie sie gesehen, und für sein einfaches Gemüt war sie mehr als ein gewöhnlicher Mensch, vielleicht auch weniger, weil sie immer allein saß, vor sich hinbrütete und keine Verbindung mit den anderen suchte. Am Ende war sie auch ein Geist – wer konnte das sagen? In Vana Vana wußten die Leute sehr gut, daß Geister von Männern und Frauen manchmal auf der See angetroffen wurden, auf einsamen Riffen oder Inseln. Es waren die Geister der Ertrunkenen. Es kam sogar vor, daß solche Geister Feuer ansteckten, um Schiffe und Kanus anzulocken und an Bord zu kommen. Le Moan war von Peterson mitgenommen worden. Es herrschte der allgemeine Aberglaube, daß solche Geister Unglück über das Schiff oder Kanu brachten, das töricht genug war, sie zu retten und an Bord zu nehmen.

Sru hatte ihn schon verschiedentlich ausgescholten und geschlagen, weil er sich in Gegenwart der anderen Kanakas in dieser Weise geäußert hatte. Als Peterson in Levua zurückgeblieben war, vermutlich von Tahuku und seinen Leuten ermordet, hatte Kanoa wieder über die Sache gesprochen: »Das Mädchen oder die Gestalt, die so aussieht wie ein Mädchen, ist vielleicht eine Frau, die auf dem Meer verschollen und ertrunken ist. Sie war allein auf der Insel, und Peterson hat sie an Bord gebracht. Und was ist nun aus ihm geworden?«

Sru hatte ihn damals sehr geschlagen, aber trotzdem ließ sich Kanoa nicht von seiner Meinung abbringen. Er war fest davon überzeugt, daß noch mehr Unheil geschehen würde. Und hatte er nicht recht behalten? Sru und drei andere Kanakas hatten den Tod gefunden!

Kanoa war erst achtzehn Jahre, und Le Moan war trotz ihrer dunklen Schönheit und ihres geheimnisvollen Wesens doch immerhin ein Mädchen. Als einmal das Schiff stark rollte, war sie auf dem nassen Deck ausgeglitten und wäre gefallen, wenn Kanoa sie nicht aufgefangen hätte. Sie war ja fast nackt, und als er ihre Haut an seinem Körper spürte, durchzuckte ihn ein Wonneschauer.

Ob sie nun ein Geist war oder nicht, das Verlangen nach ihr wuchs in ihm und wurde nur durch seine Furcht vor ihr unterdrückt. Dieser Konflikt brachte ihn in eine sonderbare Gemütsverfassung.

An diesem Abend war er ganz allein mit ihr auf dem verlassenen Deck. Die warme Brise trug ihren Duft zu ihm, und trotzdem es dunkel war, konnte er ihre Gestalt deutlich erkennen, die sich von dem hellen Wasserspiegel der Lagune abhob. Nur der Gedanke an Sru und seine toten Gefährten hielt ihn davon ab, sie in die Arme zu schließen. Peterson war gestorben, und auch er, Kanoa, würde wahrscheinlich morgen den Tod durch sie finden.

Er fühlte sich wie ein Mann, der unter Aufbietung aller Kräfte gegen den warmen Strom bei der Insel Haraikai schwamm, aber trotzdem von der Strömung langsam ins Meer getrieben wurde, um dort zu ertrinken und zu sterben.

Schon wollte er die Hände nach ihr ausstrecken und sie in brennendem Verlangen umfassen. Mund an Mund, Brust an Brust, wollte er sie in die Arme schließen. Aber plötzlich war er entwaffnet, als Le Moan langsam auf ihn zukam und eine Hand auf seine Schulter legte.

Gleich darauf drückte sie ihn auf das Deck nieder. Er kauerte so dicht neben ihr, daß sich fast ihre Knie berührten. Aber im Augenblick schwiegen seine Wünsche.

Er dachte nicht mehr daran, sie zu umarmen, obgleich sie sich vorbeugte und auch noch die andere Hand auf seine Schulter legte. Ihr Gesicht war dem seinen ganz nahe.

»Kanoa«, sagte sie so leise, daß er ihre Stimme bei der leichten Dünung kaum noch hören konnte. »Sru und die Männer, die bei ihm waren, sind von Rantan und dem großen, roten Mann getötet worden, nicht von den Einwohnern von Karolin. Morgen wirst auch du sterben, ich habe gehört, wie er es zu dem dicken Mann sagte. Du und Timau und Tahuku und Poni und Nauta und Tirai.« Während sie diese Lüge sagte, schaute sie ihn fest an, aber in Wirklichkeit sah sie nur Taori, dessen Leben sie retten wollte.

Es war kein Wunder, daß die Liebe aus Kanoas Herzen schwand. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Zum erstenmal hatte sie so lange zu ihm gesprochen, und ihre Worte durchdrangen ihn wie ein Schwert. Er glaubte ihr, weil er sie fürchtete. Er lauschte der Stimme eines Geistes, nicht der Stimme eines Mädchens.

Noch einen Augenblick vorher war er von wilder Liebesleidenschaft erfüllt gewesen, aber jetzt hatte er das Gefühl, dem Tod gegenüberzusitzen.

So sehr war er von ihren Worten überzeugt, daß er aufspringen und davonlaufen wollte, um sich zu verbergen. Aber er konnte sich nicht rühren, seine Glieder versagten den Dienst.

»Wenn wir sie nicht heute nacht umbringen«, fuhr Le Moan fort, »dann müssen wir morgen alle sterben.«

Vor Entsetzen schlugen Kanoas Zähne aufeinander. Er dachte an seine Heimat Vana Vana und an die glücklichen Tage seiner Kindheit. Wäre er doch niemals auf diese Reise gegangen, die ihm schon so viele seltsame Erlebnisse gebracht hatte! Die weißen Leute umbringen! Das war leicht gesagt. Aber wer durfte es wagen, die Hand gegen Rantan zu erheben?

Er saß so, daß er den hinteren Teil des Schiffes sehen konnte. Ein schwacher Lichtschein zeigte sich im Eingang der Treppe zu den unteren Räumen, wo jetzt Rantan und der Mann mit dem roten Gesicht zusammensaßen und über ihre bösen Pläne sprachen. Diese Leute umbringen! Das war leichter gesagt als getan!

Plötzlich biß er die Zähne zusammen. Das Licht unten im Schiff war ausgegangen.

Er berührte Le Moan mit der Hand und sagte es ihr. Sie wandte den Kopf und sah über das lange, leere Deck. Rantan und der andere Weiße würden nun bald schlafen. Dann waren sie hilflos und der Gnade oder Ungnade jedes Menschen ausgeliefert, der den Mut hatte, den tödlichen Streich gegen sie zu tun.

Le Moan drehte sich wieder um, faßte Kanoa an der Schulter und flüsterte ihm leise ins Ohr:

»Geh jetzt und sage den anderen, was ich dir erzählt habe. Bringe sie herauf. Aber ganz leise, damit es die Papalagi nicht hören. Ihr braucht nichts zu tun, ich werde die beiden töten – geh jetzt!«

Er erhob sich und ging zu den Mannschaftsquartieren, während Le Moan in den Eingang der Küche trat und etwas herausholte, was sie dort versteckt hatte. Es war der obere Teil des Speers, den sie vom Stab abgebrochen hatte. Carlin und Rantan hatten das Geräusch gehört, als sie ihre Pfeifen ansteckten.

Sie setzte sich nieder und hielt die tödliche Waffe auf den Knien. Auch diese Speerklinge war mit Argora vergiftet. Wenn man die Haut nur ein wenig damit ritzte, war der Verwundete beinahe sofort dem Tod verfallen. Während Le Moan nachgrübelte und wartete, sah sie weder das Deck noch den Sternenhimmel; sie sah die sonnenüberglänzte Küste von Karolin und die Gestalt Taoris. Für ihn hätte sie die ganze Welt vernichten können.

Ein schwaches Geräusch störte sie aus ihren Gedanken auf. Es war so leise, als ob der Wind trockenes Laub über den Rasen wehte. Sie wandte sich um: hinter ihr standen im Mondlicht die Kanakas, die Kanoa nach oben geführt hatte.


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