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Zweiter Teil

1

Le Moan hatte Karolin verlassen, wie eine Möwe das Korallenriff verläßt. Niemand hatte es bemerkt.

Kein Mensch hatte sie fortgehen sehen, und erst nach einigen Tagen kam Aioma zum Bewußtsein, daß sie ihm nicht an das nördliche Ufer gefolgt war. Er schickte eine Frau in einem Boot zu der südlichen Küste, und diese kehrte mit der Nachricht zurück, daß sie das Mädchen nicht gefunden hätte. Obwohl Le Moans Kanu am Ufer lag, zeigten sich keine Spuren, daß sie sich kürzlich Essen gekocht hätte. Sie mußte seit mehreren Tagen fort sein, denn im Sand waren keine Abdrücke von ihren Füßen zu sehen. Die Frau hatte allerdings Spuren gefunden, die sie sich nicht erklären konnte. Sie stammten von Peterson und seinen Leuten, die das Wasser geholt hatten.

Aioma konnte aus dem Bericht nichts ersehen, und da er mit dem Fällen der Bäume beschäftigt war, hatte er auch keine Zeit, sich um überflüssige Dinge zu kümmern. Wenn Le Moan am Leben war, würde sie ja über kurz oder lang in ihrem Kanu zu ihnen herüberkommen. Und wenn sie den Tod gefunden hatte, konnte er auch nichts daran ändern. Zuerst hatte er der Aufforderung zum Bau der Kriegskanus nicht folgen wollen, aber jetzt war er ganz bei der Sache. Die Tätigkeit verlieh ihm neue Jugendkraft; das weite Meer schien ihn zu rufen, und der Geruch der frischgefällten Bäume zauberte die Vision vor sein Auge, daß Uta Matu mit seinen Kriegern wieder am Ufer wandelte.

Aioma hatte ebenso wie Le Moan keinen Sinn für Vergangenheit und Zukunft. Die Gegenwart bedeutete ihm alles. Und ein Toter war für ihn nur ein Mann, der fortgetrieben war, unter gewissen Umständen aber zurückkehren konnte.

Seit der unglücklichen Kriegsfahrt vor mehreren Jahren waren viele der Kinder zu jungen Burschen herangewachsen, und nach einem Naturgesetz, das sich auf den entferntesten Inseln wie in hochzivilisierten Ländern auswirkt, hatten die meisten Frauen männliche Züge entwickelt. Deshalb fand Aioma auch genügend Hilfe unter ihnen für den Bau der Kriegskanus.

Obwohl er mit ganzem Herzen bei der Arbeit war, machte sich trotzdem seine Veranlagung zum Staatsmann geltend. Niemals ließ er Dick mitarbeiten; er erlaubte ihm höchstens, zu fischen und Fische zu Speeren.

»Du bist der Häuptling«, sagte Aioma eines Abends, als er sich vor dem Haus Uta Matus niedersetzte. »Du bist jung, und du kennst noch nicht alle Dinge, aber ich liebe dich wie einen Sohn. Ich weiß nicht, was in dir steckt, daß du uns überlegen bist, aber das Meer, das ich liebe, schimmert aus deinen Augen. Das Meer, unser Vater, hat dich gesandt, aber du mußt erst noch unsere Sitten kennenlernen. Bei uns tut der Häuptling keine Arbeit.« Er brummte, rückte auf seinem Sitz hin und her und erhob seine Stimme fast klagend. »Könnten die Leute ihre Gesichter erheben zu einem, der mit ihnen arbeitet, oder würden sie sich vor ihm neigen, daß er ihnen den Fuß auf den Nacken setzen kann?«

Dann senkte er den Blick zu Boden und sprach schnell und unverständlich mit sich selbst. Aber Katafa beobachtete, daß seine Augen von Zeit zu Zeit immer wieder zu den kleinen Schiffsmodellen wanderten, die im Schatten des Hauses standen.

»Ayat« nannten die Bewohner von Karolin die großen Riesenmöwen, die sich zu den kleinen Landmöwen verhielten wie die Schoner der Europäer zu den Kanus der Eingeborenen. Deshalb bezeichneten sie auch jedes große europäische Schiff mit »ayat« und drückten dadurch aus, daß es Räuber und Mörder an Bord führte. Denn die großen Riesenmöwen beraubten die kleineren ihrer Beute, fraßen ihre Jungen und kämpften mit ihnen. Wenn sie in Schwärmen herbeikamen, verdunkelten sie die Sonne mit ihren großen, weitgespannten Flügeln. Diese Benennung der europäischen Schiffe war gerade kein Kompliment für die weißen Händler, die die Inseln im Stillen Ozean besuchten, aber das Gleichnis paßte vorzüglich.

Und doch hatten diese kleinen Modelle für Aioma unglaubliche Anziehungskraft. Sie faszinierten ihn. Im Grunde war er trotz seines hohen Alters ein großes Kind, und wenn er tagsüber hart gearbeitet hatte, träumte er im Schlaf, daß er half, sie auf dem Teich zu steuern, wie er es manchmal in Wirklichkeit tat.

Die erste große öffentliche Handlung, die Dick als Herrscher von Karolin vollzog, war eine Schaustellung dieser kleinen Flotte, und zwar an dem Tag, nachdem er Aioma herbeigeholt hatte.

Der alte Mann war am meisten entzückt von dem kleinen Schoner. Er liebte diese Schiffsform aus Instinkt, denn sie hatte die schönsten Umrißlinien. Die Art, ein Segel zu reffen, war ihm unbekannt, denn ein Kanusegel wurde niemals gerefft. Wenn man die Segelfläche vermindern wollte, so drehte man das Hauptsegel bei. Auch Segelleinen kannte Aioma nicht, aber nach Dicks Erklärungen konnte er sich eine Vorstellung davon machen.

Er war durch Instinkt befähigt, große Kanus zu bauen, die schwerem Seegang standhielten und vierzig bis fünfzig Leute tragen konnten, obwohl ihm alle modernen rechnerischen und technischen Hilfsmittel der europäischen Schiffsbaumeister fehlten.

Wenn er das kleine Modell des Schoners betrachtete, sah er, daß es gut und brauchbar war. Man konnte mit ihm möglichst dicht am Winde segeln. Er verstand, daß das Steuer europäischer Schiffe besser war als das Steuerruder und daß trotz der Größe der Segel diese Schiffe nicht umschlugen. Ein solches Schiff mußte allen Kanus, selbst den größten, die er bauen konnte, überlegen sein, und der Baumeister einer solchen ayat war ein Genie, gegen das er sich wie ein Stümper fühlte.

Katafa saß neben Dick und beobachtete Aioma, der in Gedanken verloren mit den kleinen Schiffen spielte. Sie interessierte sich nicht für die Modelle. Von jeher hatte sie eine Abneigung dagegen empfunden, denn sie waren das einzige, das sie von Dick trennte. Sie konnte sein Interesse dafür nicht verstehen, und sie ahnte dunkel, daß diese Schiffsmodelle sie vielleicht eines Tages voneinander trennen könnten. Wenn eine Frau liebt, kann sie eifersüchtig werden auf die Tabakspfeife des Mannes, auf den Tennisschläger, auf seine besten Freunde, auf alles, was sie nicht mit ihm teilen kann, und was seine Aufmerksamkeit zu Zeiten mehr fesselt als ihre eigene Persönlichkeit.

Aber Eifersucht konzentriert sich gewöhnlich auf einen Gegenstand, und da Dick wie Aioma den Schoner am meisten schätzte, konnte Katafa dieses kleine Modell am wenigsten leiden.

*

Als Le Moan schon so lange verschwunden war, daß die Leute sie beinahe vergessen hatten, hatte Aioma eines Nachts einen herrlichen Traum.

Er träumte, daß er nur einen Daumennagel groß war und auf dem Deck des Schoners stand. Dick und ein Dutzend anderer Männer waren ebenso klein. Der Schoner schwamm auf dem runden Teich, der die Größe der Lagune hatte. Aiomas Freude war nicht auszudenken. Sie zogen das Hauptsegel auf, bis es straff gespannt war, wie er es an dem kleinen Modell geprobt hatte. Aber dieses war ein wirkliches großes Segel, und die Männer mußten mit aller Kraft ziehen, um es zu straffen. Darauf kamen das Fock- und das Topsegel an die Reihe, und dann stand Aioma wahnsinnig vor Begeisterung am Steuerruder, das er so oft an dem Modell gedreht hatte.

Unter dem Druck des Windes legte sich das Schiff auf die Seite, und der Ausleger hob sich aus dem Wasser. Das war das Merkwürdige: der Schoner hatte trotz allem einen Ausleger. An die Verbindungsbalken waren Vorräte gebunden, genau wie bei den großen Kanus. Aioma rief der Mannschaft zu, daß sie auf die Auslegerbrücke klettern sollte, um das Schiff ins Gleichgewicht zu bringen. Dann wachte er schweißgebadet auf und wunderte sich über den Traum.

Zwei Tage später kam ein Junge gerannt, als Aioma bei der Arbeit war, und schrie ihm etwas zu. Der alte Mann wandte sich um und sah die Erfüllung seiner Vision. Die Flut trug den Schoner durch das Tor des Morgens, nur war das Schiff, das alle Segel gesetzt hatte, tausendmal größer als das kleine Modell. Es war die Kermadec, die Le Moan wieder nach Karolin geführt hatte.


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