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Hätte das Meer die Koralleninsel überschwemmt, die Bevölkerung von Karolin weggefegt und nur Le Moan übriggelassen, so hätte sie dieser Schicksalsschlag nicht weniger berührt wie die letzte Erkenntnis, der sie nun gegenüberstand.
Die Welt um sie her war in Trümmer gesunken, und die beiden, die alles zerstört hatten, lagen in tiefem Schlaf vor ihr.
Le Moan hatte den Tod gefürchtet, und noch mehr hatte ihr vor der Trennung gegraut, aber nicht einmal im Traum hatte sie an eine solche Möglichkeit gedacht. In ihren Visionen hatte sie Taori immer nur allein gesehen, allein wie die Sonne am Himmel.
Ein Speer lehnte an dem nächsten großen Baum, und die erbarmungslose Hand, die Carlin tötete, hätte die Waffe ergreifen und in Katafas Herz stoßen können. Aber hätte Le Moan einen Speer gegen das Meer geschleudert, wenn es ihre Welt zerstört hätte?! Die Liebe zwischen Katafa und Taori war seit langer Zeit eine vollendete Tatsache. Ihr Fraueninstinkt sagte ihr das.
Taori und Katafa hatten sich, ohne etwas von ihr zu wissen, in einer Welt gefunden, von der sie durch das Schicksal ausgeschlossen war.
Le Moan ging an den beiden vorüber und berührte beinahe ihre Füße. Rechts von ihr lag die Lagune, die hell im Mondlicht glänzte, links das weite Meer, das seine Wogen unaufhörlich gegen die Koralleninsel sandte, und vor ihr die große, weiße Küstenstraße. Sie folgte ihr und ging am Riff entlang, fast willenlos wie ein Blatt, das vom Wind getrieben wird. Nur ein Wunsch beseelte sie – sie wollte allein sein.
So kam sie zu den großen Bäumen, wo die Leute am Bau der Kanus beschäftigt gewesen waren. Hier lagen quer über die Korallenfelsen die Stämme, die Aioma hatte fällen lassen, und ein Geruch frisch geschlagenen Holzes hing in der Luft. Der eine Baumriese war außen schon teilweise behauen, so daß man die Form eines Bootes erkennen konnte. Auch innen war der Stamm ausgehöhlt. Einen Augenblick setzte sich Le Moan auf den Bootrand und ruhte sich aus. Sie folgte den Kurven, fühlte die unebene Oberfläche des Holzes und sah im Geiste schon das vollendete Fahrzeug vor sich mit einem Ausleger, mit einem Mast und großen, ausgebreiteten Segeln. Auch dieses Kanu würde einst über das Meer fahren ...
Die unermüdlichen Wellen brachen sich draußen am Riff, und der Gischt spritzte hoch empor. Das einförmige Geräusch schläferte sie ein. Die großen Bäume, das Kanu und die Küste, ja das ganze Meer verschwanden und lösten sich in eine große Einheit auf bei dem Gesang ewig rauschender Wogen.
Sie sah die südliche Küste der Lagune im Sonnenschein; weiße Möwen flogen darüber hin. Ein Kanu landete, und Taori stieg heraus.
Jetzt erst übermannte sie der Schmerz, packte ihre Seele und nahm ihr alle Kraft. Sie sank auf die Korallen nieder, vergrub das Gesicht in den Armen und lag hilflos, als ob die Wogen der See sie ans Ufer gespült hätten.
Der Nachtwind spielte in ihren Haaren. Er kam vom Dorf herüber und trug ein Flüstern von Sträuchern und Bäumen zu ihr, ab und zu auch den süßen Duft der Cassiblumen. Wohlgeruch hat wie Musik eine eigene Sprache, die wir vergessen haben. Er erzählt uns von Dingen, die wir nur halb verstehen, beruhigt uns manchmal durch wundersame Träume und treibt uns manchmal zu entschlossenem Handeln.
Und die Cassiblumen sprachen zu Le Moan. Nach einer langen, langen Weile bewegte sie sich, hob den Kopf, stützte ihn auf den Ellbogen und schien zu lauschen.
Dicht neben ihr lag ein kleiner Teich in dem Korallenfelsen, der mit frischem Wasser gefüllt war, ähnlich dem am südlichen Ufer.
Sie kroch an den Rand und schaute tief in das Wasser, wie sie damals in den geheimnisvollen Teich gesehen hatte, als sie zum erstenmal Taori erblickte.
Die Cassiblumen sprachen zu Le Moan, und ihr Duft folgte ihrer Seele, die sich wie ein Taucher in die vom Mond beschienene, kristallklare Tiefe des Wassers senkte.
»Taori ist noch nicht tot«, sagten die Stimmen der Blumen. »Solange er lebt, darfst du nicht verzweifeln. Denn wer kann dir sein Bild rauben? Und welche Frau könnte ihre Liebe zu Taori mit der deinen messen? Still, Le Moan. Beobachte und warte.«
Sie erhob sich sofort und kehrte den Weg zurück, den sie gekommen war. Als sie sich Uta Matus Haus näherte, ging sie an den beiden vorbei, ohne einen Blick auf sie zu werfen. Dann legte sie sich nieder, das Gesicht zur Wand gekehrt. Als das Frühlicht Katafa weckte, hatte sich Le Moan noch nicht wieder gerührt, und man hätte glauben können, daß sie schliefe.