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Die Öffnung in dem Korallenriff, das sich um die Lagune von Karolin zog, lag genau nach Osten. Sie glich der Einfahrt in einen Hafen und war der einzige Zugang zu dem stillen Küstensee. Während Ebbe und Flut schoß das aus- und einströmende Wasser in großen Wellen an den Korallenpfeilern der Einfahrt vorbei wie ein mächtiger Strom.

Wenn die Sonne aufging, schienen ihre Strahlen direkt durch das Tor im Korallenriff, und ein Strom von Gold ergoß sich über die Wellen der äußeren See. An der Einfahrt flammten sie sprühend und glitzernd auf, und dann zog sich das goldene Band hindurch zu den ruhigen Wassern der Lagune.

Mayaya amyana – der Weg oder das Tor des Morgens. Vor langen Zeiten hatten die Bewohner von Karolin der Öffnung im Riff diesen Namen gegeben. Und die Leute, die damals lebten, wählten nicht etwa einen poetischen Ausdruck, sie sprachen nur die Wahrheit. Denn das eine Große, das durch dieses Tor triumphierend seinen Einzug hielt, war nicht der Mond in seiner wechselnden Gestalt, nicht Ebbe und Flut in ihren schwankenden Erscheinungsformen – es war der ewig unveränderliche, sieghafte Morgen.

Dieses große Tor zu dem Meer war für das Volk von Karolin mehr als nur eine Ein- und Ausfahrt. Es hatte eine viel tiefere, fast religiöse Bedeutung, die sich auf die Erfahrung von Jahrtausenden gründete, denn es war der Weg zu einer äußeren Welt, von der sie wenig oder gar nichts wußten. Nicht nur die Wogen der Flut rollten durch dieses Tor, nicht nur die Strahlen der aufgehenden Sonne grüßten es, sondern alles, was die Inselbewohner von der fernen Welt erfuhren, kam durch diese Einfahrt.

Das spanische Schiff war hierhergekommen, das so unglaublich merkwürdig ausgesehen hatte, und die Kanus der Paumotus waren durchgefahren und hatten Streit und Krieg gebracht. Leid und Sorgen kamen ebenso durch das Tor des Morgens wie die Freude, und all die Einwohner der Insel, die auf hoher See den Tod fanden, hatten es passiert, um nicht wiederzukehren.

Für Le Moan, für Aioma und all die anderen war das Seetor von Karolin ein geheimnisvoller Weg, ja beinahe ein Heiligtum.

Aber durch dieses Tor im Osten kamen auch andere Wesen als Schiffe und Menschen.

In tiefen, stillen Vollmondnächten hallte die Lagune von Karolin manchmal von donnerähnlichem Geräusch wider, dessen Echo von den Ufern und den Palmenhainen zurückkehrte. Aber es war nicht der Donner des Gewitters; es klang, als ob die schweren Geschütze großer Kriegsflotten auf hoher See miteinander kämpften.

Am Ufer konnte man dann sehen, daß die Geschosse in der Lagune barsten. Gespenstisch erhoben sich Wassersäulen von sprühendem Gischt und zerstoben im Mondlicht, während die Möwen gleichgültig den Kopf unter den Federn behielten und sich nicht im mindesten rührten. Auch die großen Raubkrabben, weiß wie Elfenbein, ließen sich nicht stören. Sie glichen entweder reglosen Statuen, oder sie gingen ruhig ihrem Fang nach.

Die Eingeborenen erwachten nur selten von diesem Geräusch, und wenn es geschah, drehten sie sich auf die andere Seite um und schlossen die Augen wieder. Es war ja nur der Matura.

Schnelle Rochen, über sechs Meter lang und einen Meter zwanzig breit, spielten miteinander, schleuderten sich hoch in die Luft und stürzten dann ins Wasser zurück. Die Erschütterung war so heftig, daß der Grund der Lagune und des Korallenriffs erbebte. In phantastischem Spiel schossen sie durcheinander, verfolgten und umkreisten sich, und das Echo der wilden Bewegungen dröhnte bis zu den Sternen hinauf. Aber plötzlich trat Stille ein, als ob ein Regisseur das Signal gegeben hätte, und die große Flotte schwamm wieder ins Meer hinaus, einem unbekannten Ziel entgegen.

Eines Nachts erwachte Dick von diesem donnerartigen Geräusch und ging mit Katafa ans Ufer. Sie kannte den Matura von Kindheit an und erzählte ihm, was sie wußte. Er stand neben ihr und mußte ihr glauben, daß dieses wilde Tosen und Lärmen von Fischen verursacht wurde. In dieser Nacht lernte er zum erstenmal die seltsamen Wunder von Karolin kennen und die geheimnisvollen Möglichkeiten, die die Lagune barg.

Die Zeit ging weiter; es wurden Bäume gefällt, und fast alle Frauen und jungen Leute beteiligten sich daran. In den Pausen machte sich Dick auf, um die Tiefen und Untiefen des großen Sees zu erforschen.

Die Welt von Karolin bezauberte ihn so sehr, daß man es kaum beschreiben kann. Er selbst war von der Zivilisation wenig berührt worden, aber in seinem Geist lebten die starken Traditionen zivilisierter Vorfahren.

Hier konnte der Blick ungehindert über weite Strecken bis zum Himmel schweifen, auf einem Korallenarm im smaragdgrünen Seewasser ruhen oder die großen Makrelen beim Vorwärtsstürmen und den Fregattvogel beim Flug beobachten. Manchmal fuhr Dick über die Lagune, legte das Ruder auf die Knie und ließ sich träge von der Strömung treiben, ohne an bestimmte Dinge zu denken. Dann wirkte die Umgebung so stark auf ihn, daß er sich als ein Teil der herrlichen Natur fühlte, daß er eins wurde mit dem strahlenden Meer, dem Wind, der darüber hinwehte, dem leuchtenden Himmel und der schnellen Strömung.

Über den westlichen Teil der Lagune erstreckten sich ausgedehnte Austernbänke. Sie waren viele Morgen groß und wurden getrennt durch weite Strecken harten Sandbodens, wo die Fische schwarze Schatten auf den Grund warfen, wenn sie darüber hinschwammen. In der Nähe des nördlichen Ufers lag das spanische Schiff in fast zwanzig Meter Tiefe. Korallen hatten es überzogen, und Algen und Seegewächse hatten sich dort eingenistet. Es war fast formlos geworden, aber doch verriet sich noch eine Spur von dem Werk menschlicher Hände, auch wenn es tot und still in einer Welt ruhte, die von tausendfältigem Leben erfüllt war.

Aber das merkwürdigste in dieser eigenartigen Welt war die kreisrunde Strömung, die das ein- und ausflutende Wasser bei Flut und Ebbe in deren Mitte hervorrief. Sie war nicht sehr stark und schnell, aber sie hielt trotzdem alle treibenden Gegenstände in ewigem Kreislauf fest, bis ein großer Sturm den Zauber brach.

Eines Tages fuhr Dick soweit in die Lagune hinaus, daß er kein Land mehr sehen konnte. Aber er machte sich keine Sorgen, denn er verließ sich auf seinen Orientierungssinn. Er ruderte immer weiter und ließ sich von losgerissenen Algenmassen, die der letzte Sturm entwurzelt hatte, den Weg zeigen. Sie trieben mit der Strömung und wimmelten von winzigen Krabben, wunderbar glänzenden Bandfischen und farbenprächtigen Seesternen.

Schließlich fuhr er zurück, aber nachdem er eine Stunde lang gerudert hatte, sah er das Korallenriff immer noch nicht. Er hatte die Orientierung verloren, war in die Strömung geraten und bewegte sich im Kreis.

Es war Mittag, und der Stand der Sonne gab ihm keine Hilfe. Sobald sie sich dem Horizont näherte oder die Sterne am Himmel standen, konnte er sich zurechtfinden. Aber er brauchte nicht so lang zu warten. Hinter einer großen Menge treibenden Blattangs sah er plötzlich zu seiner Linken einen dunklen Flecken auf den glänzenden Fluten. Es war ein Kanu.

Le Moan war ebenso furchtlos wie er, aber viel besser vertraut mit dieser Wasserstrecke. Sie hatte entlang der großen Bank gefischt, die wie ein Ausläufer von der südlichen Küste in die Lagune lief. Das Wasser war an diesen Stellen manchmal nur sechs Meter tief. Die Eingeborenen nannten diesen Platz die Karaka-Bank. Bei großen Stürmen brachen sich dort die Wellen der Lagune, so daß die Bank einem Schneekissen glich; bei gewöhnlichem Wetter konnte man die Stelle kaum sehen. Nur eine geringe Änderung der Farbe im Wasser zeigte die Untiefe an.

Jenseits der Karaka-Bank sah Le Moan ein treibendes Boot und fuhr darauf zu. Sie schloß aus der Lage des Fahrzeugs und der Nichtbenutzung des Ruders, daß es in die Mittelströmung geraten war.

Als sie näher kam, erkannte sie Taori in dem Boot. Sie rief ihn an, und er erwiderte ihr, daß er die Richtung verloren hätte. Darauf sagte sie ihm, daß er ihr folgen sollte, wandte ihr Boot und teilte mit starken Ruderschlägen das Wasser. Obwohl von den kleinen Kanus aus das Korallenriff nicht zu sehen war, verriet ihr doch ihr Instinkt die Richtung. Sie wußte genau, wo alle hervorragenden Punkte des Ufers lagen. Der merkwürdige Kompaß in ihrem Kopf war so unfehlbar, daß sie ebenso wie dieses Boot ein großes Schiff auf hoher See hätte lenken können. Sie wußte genau, wo das Dorf am nördlichen Ufer und wo ihre Hütte an der Südküste lag, wo die Matamatabäume und die großen Palmen standen.

Aber sie steuerte jetzt nicht zur Nordküste, von der Dick ausgefahren war und wo er wohnte, sondern zum südlichen Ufer, wo ihre eigene Hütte stand. Sie sprach kein Wort, aber Dick erkannte an den charakteristischen Bäumen bald, wohin sie fuhren. Er hatte Sehnsucht nach Katafa, und er wäre auch umgekehrt und zu dem nördlichen Dorf gerudert, wenn er sich nicht müde und hungrig gefühlt hätte. So ließ er sich von Le Moan führen.

Ein Kanu lag am südlichen Ufer, und als Dick näherkam, sah er Palia und Tafuta, die beiden alten Gefährten Aiomas. Sie standen neben dem Boot, in dem eine Frau saß. Hinter ihnen lagen die letzten bewohnbaren Häuser eines Dorfes, und etwas weiter davon entfernt erhoben sich die drei Kokospalmen. Sie zeichneten sich scharf von dem zartblauen Himmel ab, dessen Farbe sich in größerer Höhe zu leuchtendem Kobaltblau vertiefte. Außer den beiden alten Männern und der Frau war keine Seele an der Küste zu entdecken.

Le Moan rief sie an.

»O he, Palia, wo sind denn die Leute, und was macht ihr dort mit dem Kanu?«

»Es kam Botschaft, daß wir zur Nordküste kommen und beim Bau der Kanus helfen sollen. Wir brechen jetzt auf. Die anderen sind schon in dem großen Kanu hinübergefahren, das die Nachricht brachte.«

Dick wußte sofort, um was es sich handelte. Gestern hatte Aioma gesagt, die Arbeit wäre weit genug vorgeschritten, daß alle, auch Palia, Tafuta und die übrigen Leute des südlichen Stamms sich beteiligen könnten.

»Dann fahrt fort!« rief Le Moan, als ihr Kanu auf dem sandigen Ufer auflief. »Aber laßt mir die Sachen und ein Messer zurück.« Sie ging zu dem Kanu und nahm einige Matten, einen Korb aus Kokosfasergeflecht und ein Messer heraus. Als Dick sein Boot an die Küste zog, stießen Palia und die anderen gerade ab.

»Kommt ihr nach?« fragte Palia, als sich die Ruder ins Wasser senkten.

»In einiger Zeit«, entgegnete Le Moan. Sie wandte sich dem Land zu und machte ein Feuer, um die Fische zu kochen, die sie gefangen hatte, und um Brotfrucht zu rösten. Dick saß mit hochgezogenen Knien im Sand und sah dem Kanu nach. Le Moan beachtete er kaum. Sie war ein Mädchen von der Insel, und wenn sie sich auch von den anderen unterschied, bedeutete sie ihm doch nichts. Einen gewöhnlichen Mann hätten ihre Schönheit, ihre Anmut und ihr fremdartiges Wesen bezaubert. Aber die Liebe zu Katafa machte Dick blind für die Reize anderer Frauen. Es war, als ob sie einen Zauber um ihn gewoben hätte, einen magischen Kreis, der ihn vor jedem anderen weiblichen Einfluß schützte.

Le Moan blickte nicht zu ihm hinüber, während sie die Fische schuppte und die Brotfrucht röstete. Er war da. Er, der auf ungewöhnliche Weise plötzlich ein Teil ihres Lebens geworden war. Sie fühlte nicht die gewöhnliche Leidenschaft, die eine Frau für einen Mann empfindet; eine viel tiefere, dunkle Regung trieb sie zu ihm. Vielleicht war es das Verlangen nach der Kultur ihrer Rasse, das in ihr schlummerte, vielleicht ein Ahnen geheimer Verwandtschaft und die Erkenntnis, daß sie beide anders waren als die Bewohner der Insel.

Er gehörte ihr ebenso, wie die Sonne ihr gehörte.

Im ersten Beginn ihrer Liebe hätte sie eher sterben als ihm durch einen Blick oder ein Wort verraten wollen, was in ihr vorging.

Wie von einem Opferaltar stieg der Rauch des kleinen Feuers zum Himmel auf.

Wer weiß es? Vielleicht war die Frau, die für den Mann kochte, die erste Priesterin, das Lagerfeuer der erste Altar, der Mann der erste Gott und seine Speise das erste Brandopfer.

Eine Stunde später hatte Dick gegessen und geruht. Er schob sein Kanu wieder ins Wasser, und Le Moan half ihm dabei.

Dann stieg auch sie in ihr Boot und begleitete ihn, bis das nördliche Ufer klar vor ihnen lag mit dem Dorf und der großen Gruppe von Matamatabäumen. Drei davon waren gefällt worden, seit Le Moan sie zuletzt gesehen hatte.

Hier trennten sie sich und winkten sich noch einen Gruß mit dem Ruder zu. Le Moan kehrte zu dem einsamen Südufer zurück. Dick wußte es nicht, und er kümmerte sich auch nicht darum, wohin sie fuhr.


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