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Neunundfünfzigstes Kapitel

Oswald hatte während des ganzen Tages Brunos Bett nur auf Augenblicke verlassen, nachdem er von jener denkwürdigen Unterredung mit Helene zurückgekommen war. Er hatte in der Pflege des lieben Kranken sich selbst zu vergessen gesucht.

Bruno selbst vergaß seine Schmerzen, als ihm Oswald erzählte, er habe Helene gesprochen und den Brief in ihre Hände gelegt; ja er bemerkte nicht einmal Oswalds bleiches Gesicht und verstörtes Wesen.

»Nun ist alles gut«, rief er, »jetzt weiß sie, woran sie ist. Jetzt können sie ihr nichts mehr anhaben; jetzt ist sie auf ihrer Hut. Oh, der eine Gedanke schon hat mich gesund gemacht.«

Leider war das aber nicht der Fall. Die Schmerzen in der Seite stellten sich schon nach wenigen Minuten mit desto größerer Heftigkeit wieder ein. Oswald hoffte mit Bestimmtheit, daß Doktor Balthasar sein Versprechen halten und im Laufe des Vormittags kommen werde. Aber der Vormittag verging, und kein Doktor ließ sich sehen. Brunos Zustand wurde nicht schlimmer, aber auch nicht besser, und Oswald war zu sehr Laie, um sich zu sagen, daß ein Zustand, der nicht besser wird, sich eben verschlimmert. Indessen ließ es ihm keine Ruhe, bis gegen Mittag, wo der Arzt noch immer nicht gekommen war, ein reitender Bote in die Stadt geschickt wurde. Der Bote brachte freilich die von Doktor Balthasar verordnete Einreibung aus der Apotheke mit, meldete aber, daß der Doktor selbst nicht in der Stadt gewesen sei, und Doktor Braun erst heute abend zurückkommen würde. Er sei selbst in der Wohnung des letzteren gewesen und habe dem Mädchen gesagt, daß der Herr Doktor, wenn irgend möglich, doch ja noch kommen möchte. Oswald war dem verständigen Menschen, der selbst an Brunos Krankheit den lebhaftesten Anteil nahm, sehr dankbar für diese Umsicht. Er atmete ordentlich auf, als er hörte, daß Braun, auf den er ein felsenfestes Vertrauen hatte, nicht mehr fern sei. Unterdessen vergaß er nicht, das von dem Kollegen verschriebene Mittel anzuwenden, das indessen sich ohne allen Erfolg zeigte, bis Bruno endlich bat, von dieser nutzlosen Kur abzustehen.

So vergingen, eine nach der anderen, die langen, langen Stunden, die nur der Kranke kennt, der sich ruhelos auf seinem Lager wälzt, und der, die Seele voll unaussprechlicher und ach so hilfloser Angst an diesem Lager sitzt und auf den Arzt harrt, der nicht kommen, und auf das kleinste Symptom der Besserung, das sich nicht zeigen will.

Der alte Baron schickte einige Male hinauf und ließ sich nach Brunos Befinden erkundigen; kam auch am Nachmittage selbst, dankte Oswald mit großer Herzlichkeit für seine Sorge, klopfte Bruno auf die heißen Wangen und sagte: Wenn er recht bald gesund würde, sollte er auch das Reitpferd haben, das er sich schon so lange gewünscht hätte.

»Es tut mir leid«, sagte er zu Oswald, als dieser ihn zur Tür hinaus begleitet hatte, »daß gerade heute die Gesellschaft sein muß. Es wäre mir schrecklich, denken zu müssen, daß hier im Schlosse ein Fest gegeben wird, während einer der Meinigen gefährlich krank liegt.«

Oswald suchte, soviel er es vermochte, den guten alten Herrn zu beruhigen, obgleich sein eigenes Herz voll schwerer Sorge war. Auch wagte er nicht, dem Baron gerade jetzt einen Entschluß mitzuteilen, der in diesen letzten Stunden bei ihm zur Reife gekommen war.

Es stand jetzt für ihn fest, daß seines Bleibens in diesem Hause nicht länger sein dürfe.

Wie er fürder ohne Bruno würde leben können; wie er sich von der Seligkeit, Helenen täglich zu sehen, würde lossagen können – er wußte es nicht. Er wußte nur das eine: du mußt fort.

Das wiederholte er sich immer, während er Brunos Kissen glättete, Brunos heiße Hände in die seinen nahm, ihm das üppige Haar aus der Stirn strich, seine glühenden Lippen netzte.

»Wenn meine Mutter lebte, sie könnte mich nicht besser pflegen«, sagte Bruno, ihm dankbar die Hand drückend.

»Du hast deine Mutter nie gekannt, Bruno?«

»Kaum, ich war erst drei Jahre, als sie starb. Aber von meinem Vater weiß ich noch.« Und nun fing der Knabe mit fieberhafter Lebendigkeit an von seinem Vater zu erzählen: wie schön und groß und stark er gewesen sei, nicht so schlank wie du, aber noch breiter in den Schultern, und mit langen dunklen Locken, die ihm bis auf die Schultern wallten wie dem König Harfagar. Und von dem kleinen Gute, hoch oben in Dalekarlien, das der Vater mit noch zwei Knechten ganz allein bewirtschaftet habe. Und wie geschickt der Vater in allem gewesen sei, und wie er die Axt zu führen verstanden habe, trotzdem er in seiner Jugend Page an dem Hofe der Königin gewesen war und ihr die lange seidene Schleppe getragen hatte bei den prunkenden Festen. Und von Thor, dem schnellen Traber, den der Vater vor den Schlitten spannte, und von den nordischen Winternächten, wenn die Sterne an dem schwarzen Himmel funkelten wie Diamanten, Rubinen und Smaragden, so hell, daß der Schnee in ihrem Scheine glitzerte. Und von dem Nordlicht, wie es plötzlich am Horizont aufflammt und seine Feuerarme bis zum Zenit hinaufstreckt. »Wir müssen zusammen einmal nach Schweden reisen«, sagte er, »der Winter ist hier nur Kinderspiel; da sollst du einmal Schnee und Eis zu sehen bekommen! Hier ist es heiß, unerträglich heiß – ich wollte, ich läge in Eis und Schnee.«

Und der Knabe warf sein Haupt ruhelos auf dem Kissen umher und verlangte zu trinken.

Da tönte Musik herauf aus dem Garten.

»Was ist das?« fragte Bruno, in die Höhe fahrend.

Oswald trat ans Fenster.

»Es ist die ganze Gesellschaft«, sagte er, »sie kommen eben zwischen den Bäumen heraus. Graf Grieben und deine Tante eröffnen den Zug. Sie wollten hier an unserem Fenster vorüber, aber der Baron, der mit der Gräfin Grieben folgt, bedeutet ihnen, den andern Weg einzuschlagen. Die ersten Paare verschwinden schon wieder; aber immer neue Paare tauchen auf.«

»Ist Helene schon vorüber?« fragte Bruno, sich in die Höhe stemmend.

»Nein, noch nicht.«

»Oh, daß ich nicht aus dem Bette kann!« rief Bruno, von der Anstrengung und dem heftiger gewordenen Schmerz ermattet zurücksinkend.

»Da ist sie.«

»Doch nicht mit Felix?«

»Nein, mit einem jungen Mann, den ich noch nicht gesehen habe.«

»Gleichviel«, sagte Bruno, »mit allen, nur nicht mit Felix.«

»Jetzt sind die letzten vorüber«, sagte Oswald, sich wieder zu Bruno ans Bett setzend.

Brunos Unruhe schien erhöht durch diese direkte Erwähnung Helenens, die beide wie auf Verabredung seit dem Morgen vermieden hatten. Er fing wieder an, von Helene zu sprechen. Oswald sollte ihm erzählen, was sie angehabt, ob sie schön, sehr schön ausgesehen habe, viel schöner als alle übrigen Damen? Ob sie gelächelt habe, ob sie einen Blick nach dem Fenster emporgeworfen?

»Oh, könnte ich doch nur aufstehen! Könnte ich sie doch nur noch einmal sehen!«

»Du wirst sie ja bald wiedersehen, Bruno.«

»Ich weiß es nicht; gerade heute möchte ich sie nur einmal, nur auf einen Augenblick sehen. Es ist mir, als ob ich ihr etwas zu sagen hätte, was mir das Herz abdrückt. Und dann, wenn sie den Felix fortschickt, und sie wird es tun – so soll sie ja wieder in die Pension zurück, und da kann es lange dauern, bis ich sie wiedersehe. Aber ich bleibe auch nicht hier, wenn sie fort ist. Komm mit, Oswald, wir wollen nach Hamburg. Du bist ja so klug und geschickt, du wirst schon die Beschäftigung finden, und ich auch – irgendeine, gleichviel welche, wenn ich nur in ihrer Nähe sein darf, sie nur von Zeit zu Zeit sehen darf.«

Er verfiel in eine Art Halbschlaf, aus dem er plötzlich wieder emporfuhr.

»Warum ist Helene fortgegangen?«

»Du träumst, Bruno; sie ist nicht hiergewesen.«

»Auch Tante Berkow nicht?«

»Nein, Bruno.«

»Wie deutlich ich beide gesehen! Sie kamen Hand in Hand zur Tür herein; Helene in weiß, mit einem Kranz von dunkelroten Rosen im Haar; Tante Berkow in schwarz, das Haar, wie sie es immer trägt. Tante Berkow führte dir Helene zu, und ihr sankt euch in die Arme und weintet und küßtet euch; und dann trat Tante Berkow an mein Bett und sagte: ›So, Bruno, nun kannst du schlafen gehen.‹ Da fielen mir die Augen zu; es wurde Nacht um mich her, ich sank mit dem Bett tiefer und tiefer und schneller und immer schneller – darüber bin ich vor Schreck aufgewacht.«

»Fühlst du dich kränker, Bruno?« fragte Oswald, den die Phantasien besorgt machten.

»Im Gegenteil«, erwiderte Bruno, »der Schlaf hat mir sehr wohlgetan. Meine Schmerzen sind bedeutend geringer; aber ich fühle mich sehr matt. Ich glaube, ich könnte schlafen.«

Er legte sein Haupt auf die Seite; aber schon nach wenigen Augenblicken fuhr er wieder auf:

»Oswald, willst du mir einen recht, recht großen Gefallen tun?«

»Gewiß! Was soll ich?«

»Bitte, zieh dich an und gehe hinunter in die Gesellschaft.«

»Um alles in der Welt nicht.«

»Bitte, bitte, tu's mir zuliebe. Sieh! Ich fühle mich ja jetzt viel besser und möchte gern schlafen und werde auch schlafen. Da kannst du mir ja doch nicht helfen.«

»Aber was soll ich unten?«

»Sieh, Oswald«, sagte Bruno, »ich möchte doch Helene so unbeschreiblich gern sehen. Und ich kann nicht auf; ich fühle gar keine Kraft in meinen Gliedern. Wenn nun du sie siehst, so ist mir, als hätte ich sie auch gesehen. Bitte, bitte! Geh hinunter! Du brauchst ja niemand zu sprechen; nur, wenn es möglich ist, sage Helenen, ich ließe vieltausendmal grüßen – und wenn du das gesagt hast, und sie hat vielleicht geantwortet: Und grüßen Sie Bruno auch von mir! – dann komme schnell, recht schnell wieder, daß du den Ton, in dem sie es gesagt hat, nicht vergissest. Und höre, Oswald, da ich gerade daran denke: Es könnte ja doch sein, daß ich plötzlich sterbe, nein, – lache nicht! Ich rede im Ernst – dann gib nicht zu, daß man mich umkleidet; ich will so, wie ich gestorben bin, in den Sarg gelegt werden. Sieh! – Du weißt, daß ich stets ein Medaillon auf dem Herzen trage; es ist von meiner Mutter, aber nicht deshalb allein halte ich es so heilig! Es liegt eine Locke von Helenens Haar darin, die ich ihr gleich in der ersten Zeit einmal im Scherz abgeschnitten habe. Wenn mir das Medaillon genommen würde – ich glaube, ich hätte keine Ruhe im Grabe. Und nun, bitte, geh! Es wird sonst so spät.«

Oswald wußte nicht, was er tun sollte. Gab er dem Verlangen des Knaben nicht nach, so mußte er fürchten, dessen fieberhafte Unruhe, die sich jetzt fast gänzlich gelegt zu haben schien, wieder hervorzurufen. Auf der anderen Seite war ihm der Gedanke, ihn, wenn auch nur auf kurze Zeit, zu verlassen, sehr peinlich. Und doch hätte er auch Helenen so gern gesehen – nur für einen Augenblick – mußte sich doch in diesen Stunden alles entschieden haben.

Bruno machte seinen Zweifeln ein Ende.

»Du hast es mir versprochen«, sagte er traurig, »und nun willst du nicht, du hast mich nicht lieb!«

Oswald ging in das Nebenzimmer, sein Schlafgemach, und kleidete sich um. Er hatte sich wohl noch nie in einer solchen Stimmung zu einer Gesellschaft angekleidet. Das Ganze erschien ihm eine schauerliche Ironie. Er erschrak, als er sein verwüstetes Gesicht im Spiegel betrachtete. In diesen letzten Stunden schien er um ebenso viele Jahre gealtert zu sein.

Er trat wieder an Brunos Bett.

»Laß dich doch einmal betrachten«, sagte der Knabe, sich halb aufrichtend. »Wie stattlich du aussiehst! Wie schön! – küsse mich, Oswald!«

Oswald nahm den Knaben in seine Arme und küßte ihn auf die schönen, stolzen – jetzt ach, so bleichen Lippen. Dann ließ er ihn sanft auf das Kissen gleiten.

»Ich fühle mich sehr, sehr wohl«, sagte Bruno, »beeile dich nicht, ich werde, bis du zurückkommst, köstlich schlafen.«


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