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Dreißigstes Kapitel

Der drückenden Hitze, die in der letzten Zeit geherrscht hatte, folgten einige kühle regnerische Tage.

An solchen Tagen erschien Schloß Grenwitz noch öder und einsamer als gewöhnlich. Sonst kam, wenn auch niemand anders, doch wenigstens der Sonnenschein zum Besuch und blieb bis zum Abend und drang in alle Räume, selbst in die verschlossenen Gesellschaftszimmer des oberen Stocks, wo er flüchtig über die Stühle und Sofas mit den kostbaren, obgleich ein wenig verblichenen Damastüberzügen weghuschte und hier und da ein Bild an der Wand begrüßte, das er schon seit hundert Jahren und darüber kannte. Sonst waren, wenn weiter auch niemand, doch wenigstens die Spatzen lustig und guter Dinge, die in den Löchern des alten Turmes und in den Stuckornamenten des Neubaues nisteten und schon vom frühesten Morgen sich so ungeniert über ihre Angelegenheiten unterhielten und zankten, als ob das Baronenschloß ihnen nicht mehr Achtung abnötigte als eine Bauernscheune. Und wem es trotz alledem zu einsam und öde im Schlosse wurde, der konnte in den Garten hinabgehen, wo die Blumen in noch viel schöneren und vor allem frischeren Farben prangten als die Tapeten und die Stühle und die Sofas drinnen in den Prunkzimmern, wo über den bunten Blumen sich bunte Schmetterlinge wiegten, wo die Vögel jubilierten, die Bienen geschäftig summten und für den, welcher Augen hatte, zu sehen, und Ohren, zu hören, allüberall ein wundersames, still geschäftiges, an Leiden und Freuden reiches Leben herrschte.

Das war nun alles anders an Regentagen. Da konnten sich die Bilder an der Wand ohne Furcht vor dem neugierigen Sonnenschein mit den Stühlen und Sofas alte, gemeinsam erlebte Geschichten erzählen, soviel sie wollten; da ließen selbst die Spatzen ihre ewigen Streitigkeiten für den Augenblick ruhen, oder bissen sich in aller Stille um die besten und trockensten Plätze; und in dem Garten ließen die Blumen die regenschweren Köpfchen hangen; und all das bunte, reiche Leben schien erstorben. In den nassen Gängen und über die Beete weg spielten die Winde Haschens und zerzausten dabei mitleidslos die armen Blumen und warfen die Bohnenstangen um und fuhren die Bäume hinauf und schüttelten und rüttelten an den Ästen, daß die schlanken Zweige hinüber und herüber rauschten.

Dies melancholische Wetter paßte nur zu gut für Oswalds Stimmung. Seit dem Tage in Barnewitz war eine Veränderung mit ihm vorgegangen, die er sich selbst kaum zu erklären wußte. Es war, als ob ihm plötzlich ein dichter Schleier über die Augen gefallen wäre, als ob ihm eine feindliche Hand Wermut in den Kelch des Lebens gemischt hätte, aus dem er in der letzten Zeit mit so vollen, gierigen Zügen getrunken. Selbst das Bild der schönen lieben Frau, die in dem Allerheiligsten seines Herzens thronte, schien seine Wunderkraft verloren zu haben. Wo war all die Seligkeit geblieben, die ihn sonst bei der Erinnerung an sie und an die einzig wonnigen Stunden, die er mit ihr verlebt hatte, erfüllte? Wo die ruhelose Sehnsucht nach ihrem Anblick, nach dem Ton ihrer Stimme? Wo die fieberhafte Ungeduld, mit der er die Sonne in ihrem Lauf verfolgte und die Nacht herbeiwünschte, unter deren Schutz er sich die enge Treppe, die dicht neben seinem Zimmer in den Garten führte, hinabstahl, um zu ihr zu eilen, die seiner in der verschwiegenen Kapelle harrte; ihm oft schon, ohne Furcht vor den Schauern der Nacht und der Einsamkeit, in dem Walde unter den hohen, ernsten, finstern Bäumen entgegengekommen war! – Und doch wußte er, daß sie jetzt einsam um ihn trauerte, daß sie ihm längst vergeben hatte, was sein knabenhafter Trotz und seine kindische Laune an ihr gefrevelt, daß kein strafendes Wort, kein vorwurfsvoller Blick ihn empfangen würde, wenn er zu ihr zurückkäme; daß sie freudig ihre Arme ausbreiten und ihn an ihr liebevolles Herz ziehen würde. Ach, nicht an ihr zweifelte er, nicht an ihrer Liebe, aber an sich selbst, an seiner Liebe! Wie dumpfes Glockenläuten, wie Grabgesang tönten ihm noch immer die letzten Worte Oldenburgs: Wer von uns kann denn noch mit ganzem Herzen lieben? Wer von uns hat denn noch ein ganzes Herz? Und eine Stimme, die er nicht zum Schweigen bringen konnte, rannte ihm zu, wo er auch ging und stand und selbst des Nachts in seinen wirren Träumen: Du nicht! Du nicht! – In den Linien deiner Hand sieht es ja geschrieben! Das braune Weib im Walde sah es ja auf den ersten Blick, du kannst nicht treu sein; du nicht, du nicht! – Und als du zu Melittas Füßen sankst und den Schwur der Liebe und Treue stammeltest, schloß sie dir den Mund, ängstlich, hastig, als wollte sie dir das Verbrechen des Meineids ersparen: Oh, schwöre nicht! Ich kann dir Liebe schwören nun und Treue auf immerdar, aber du nicht! Du nicht! –

Regenwetter! Wie der Wind die Tropfen gegen die Fensterscheiben jagt, daß sie trüb werden wie verweinte Augen! Wie schwer und tief die Wolken schleppen, die grauen Trauermäntel, als würden sie mit dem Saum die Wipfel der Pappeln drüben auf dem Schloßwalle streifen! Wer doch da draußen läge in der schwarzen nassen Erde, überhoben aller Qual des Zweifels und der Reue! Wer doch teilhaben könnte an dem ewigen Frieden der Natur! Wer doch eines sein könnte mit den Elementen! Mit dem Winde über die Erde brausen, mit der Flamme zum Himmel lodern, mit dem Wasser des Stromes im Ozean verrinnen könnte!

Hat die schwermütige Weisheit der Inder Recht? Und ist das ganze Menschenleben nur ein ungeheurer Irrtum? Sind wir alle, alle nur verlorene Söhne, die das Haus des guten alten Vaters verließen, um uns von Trebern zu nähren? Und ist es wahr, daß wir zu jeder Zeit zu ihm zurückkehren können, daß wir zurücksinken können in den Schoß der lieben Mutter Nirvana, der uranfänglichen Nacht, wenn wir es nur von ganzem Herzen wünschen? Von ganzem Herzen? Wer von uns hat denn noch ein ganzes Herz zum Leben und zum Sterben? Du nicht! Du nicht! – Oh, wer sich selbst vertrauen könnte! Wie in eine Götterwolke gehüllt, würde er die Gefahren des Lebenskampfes unverletzt durchwandern und, wenn er fällt, als Held fallen, mit der Todeswunde auf der stolzen Stirn, in der mutigen Brust. So aber ringst du mit dem feigen Zweifel, dem jähen Schwindel, der uns auf steiler Felsenhöhe packt, unser Blut gerinnen macht, die Kraft unserer Sehnen löst und uns zuletzt rettungslos in den Abgrund schleudert.

Oswald hob seufzend den Kopf von dem Fensterkreuz und lauschte. Eine helle Tenorstimme sang ein lustiges Wanderlied.

»Wohl dir«, murmelte Oswald, »der du singend die Straße des Lebens einherziehst und der Gefahren des Weges spottest.«

Er schwankte einen Augenblick, dann ging er, seinen munteren Stubennachbar aufzusuchen.

Albert brauchte nicht mehr Zeit, sich an einem fremden Orte einzurichten wie ein Araber, um sein Zelt aufzuschlagen. Und von einer Einrichtung konnte eigentlich bei ihm keine Rede sein. Er überließ es jeder seiner Sachen, deren nicht viele waren, sich in seinem Zimmer einen Platz zu suchen. Wollte der eine Stiefel lieber auf dem Stuhle stehen und der andere mit dem Absatz nach oben auf der Erde liegen – er hatte nichts dagegen. Fand es der Frack, das einzige, einigermaßen respektable Kleidungsstück, dessen er sich erfreute, behaglich, in einer Ecke des kleinen, melancholisch aussehenden Koffers zu einem unförmlichen Bündel geballt, zwischen schmutziger Wäsche sein Dasein zu vergessen, – er wollte ihn in seinem Vergnügen nicht stören. Und er selbst, der glückliche Besitzer all dieser emanzipierten Herrlichkeiten, stand trotz des kühlen Wetters in Hemdsärmeln über ein großes Reißbrett gebeugt und pfiff und sang und zeichnete, und lachte Oswald wegen seiner Leichenbittermiene, wie er es nannte, aus.

»Dottore, Dottore!« rief er, »Sie sehen aus, als ob Sie von dem Grog, den ich gestern abend getrunken, den wildesten Katzenjammer gehabt hätten! Wahrhaftig, Sie beschämen das Wetter! Die Wolken draußen sind ja verglichen mit denen auf Ihrer Stirn in hundert bunten Farben schimmernde Seifenblasen! Haben Sie je als Junge an einem schönen hellen Sommermorgen in der Bodenluke gesessen und aus einem kleinen Stummel von Tonpfeife bunte Seifenblasen in die blaue Luft hinausgesandt, während unten zwischen den bleiernen Soldaten auf dem großen Tisch der Kinderstube ein angefangenes lateinisches Exerzitium lag, für dessen fragmentarischen Zustand Sie ein paar Stunden darauf von Ihrem Lehrer die schönsten Prügel besahen: Sehen Sie, das ist das Bild des Lebens. Unser Wissen ist Stückwerk, und unsere besten Exerzitien bleiben Stückwerk, die buntesten Seifenblasen zerplatzen, und die derbsten Prügel fühlt man eine Stunde nachher nicht mehr. Es ist alles eitel, vor allem aber unser Grämen darüber, daß alles eitel ist. Zum Kuckuck! Ich habe die Welt nicht gemacht und Sie, soviel ich weiß, auch nicht. Weshalb sollten wir beide uns also darüber den Kopf zerbrechen? Ich zerbreche mir über nichts den Kopf, über gar nichts, zum Beispiel auch nicht über diese Linie, die ich offenbar zu kurz gemessen habe, und die ich nun nach Gutdünken mit Grazie verlängern muß, bis sie diese Ecke hier trifft – nebenbei eine höchst romantische Waldecke, wo ich eine allerliebste stumpfnäsige, rotbäckige, hochgeschürzte Bauerndirne traf, die jedenfalls diese ganze Konfusion veranlaßt hat. Na, schadet nicht. Die Rechnung kann ja nicht immer rein aufgehen, wozu wären denn sonst die Brüche da, und das Grenwitzsche Majorat bleibt darum doch, was es ist: eine ausgezeichnet schöne Erfindung, besonders für den Spatzenkopf, den Malte. Ist der Junge wirklich so dumm, wie er aussieht?«

»Durchaus nicht«, sagte Oswald, der mit einem Stiefelknecht und einer Botanisierkapsel, aus der ein Strumpf von blauem Garn schamhaft hervorlugte, das Sofa im Zimmer teilte. »Malte kann nicht bloß bis fünf, sondern sehr viel weiter zählen. Er hat zu manchem ein ganz entschiedenes Talent, besonders zum Rechnen, worin er Bruno, der sehr wenig Sinn dafür hat, weit vorausgeeilt ist.«

»Ja, die Vorsehung ist wunderbar weise«, sagte Albert, in einem kleinen Näpfchen schwarze Tusche anreibend, »wem sie die Schildkrötensuppe des Reichtums zugedacht hat, beschert sie gleich den silbernen Löffel dazu, und wem sie den Schiffszwieback der Armut darreichte, versieht sie freundlichst mit hohlen Backenzähnen, damit er sich nicht lange über die trockene Kost zu ärgern braucht. Ich für mein Teil habe aus Versehen vortreffliche Zähne bekommen, und so mundet mir mein Zwieback ausgezeichnet, so ausgezeichnet, daß ich mich nicht einmal über die hohlköpfigen, dickbäuchigen, silberne Löffel führenden, Schildkrötensuppe essenden, verzogenen rechten Kinder der Stiefmutter Natur erbosen kann. Aber eines sollte mich doch freuen, und das wäre, wenn sich zu dem Kodizill im Testamente des vortrefflichen, im Delirium verstorbenen und jetzt in Abrahams Schoße seinen Rausch ausschlafenden Barons Harald ein Liebhaber fände.«

»So kennen Sie auch die traurige Geschichte?« sagte Oswald.

»Wer sollte die nicht kennen«, erwiderte Albert, sich eine Zigarre anzündend und sich auf die Lehne eines Stuhles setzend, so daß seine Füße auf dem Sessel standen. »Wird doch die Geschichte durch die testamentarisch vorgeschriebene Publikation zum fürchterlichsten Ärger der hochmütigen und ebenso geizigen wie hochmütigen Anna-Maria alljährlich in den Zeitungen aufgewärmt, obgleich ich glaube, daß es in den letzten Jahren gar reicht einmal mehr geschehen ist.«

»Es wundert mich«, sagte Oswald, »daß ich von der Sache niemals hörte, bis ich hierher kam, und auch in den Blättern nie davon gelesen habe.«

»Wer bekümmert sich denn um die Publikandas, Steckbriefe, und sonstigen heitern Bekanntmachungen, wenn man, wie wir, von denselben weder etwas zu fürchten noch zu hoffen hat! Ich wüßte wahrscheinlich von dem originellen Streich, den Vetter Lüderlich Cousine Gieremund gespielt hat, auch nicht mehr wie Sie, wenn mein Vater, den als Juristen die Sache interessierte, und der, glaube ich, irgendwie dabei beteiligt war – möglicherweise war er dem Vetter Lüderlich bei der Abfassung des Testamentes behilflich gewesen –, nicht manchmal davon gesprochen hätte.

Übrigens war die Aufforderung in ziemlich vagen Ausdrücken abgefaßt und lief ungefähr darauf hinaus, daß die betreffende junge Dame oder ein von ihr bis zum Ende, ich erinnere mich nicht mehr, welchen Jahres, geborenes Kind, gleichviel ob masculini oder feminini generis, sich bei den unterzeichneten Testamentsexekutoren – natürlich unter Beibringung der nötigen Legitimationsurkunden – schleunigst melden möchte, da ihnen von dem zu seinen Vätern – die jedenfalls ebenso saubere Kunden waren wie der würdige Sohn – versammelten Baron Harald ein bedeutendes Legat vermacht sei. Worin dies Legat besteht, ist nicht gesagt. Ich aber weiß, und es wissen's auch noch viele, daß damit nichts weniger als zwei der schönsten Güter hier auf der Insel: Stantow und Bärwalde, die ich ganz genau kenne, da ich sie im vorigen Sommer vermessen habe, gemeint sind.«

»Es müßte allerdings eine reizende Überraschung für unsere liebenswürdigen Freunde sein, wenn der im Testament vorgesehene Fall einträte«, sagte Oswald.

»Na ob!« erwiderte Albert. »Leider ist dazu nur noch sehr wenig Aussicht, da das Legat nur fünfundzwanzig Jahre in suspenso bleibt und dann an die Familie zurückfällt. Von den fünfundzwanzig müssen aber mindestens zwei- oder gar schon dreiundzwanzig verflossen sein, denn ich bin jetzt sechsundzwanzig und erinnere mich, daß ich mich jedesmal ärgerte, nicht das testamentarische Alter zu haben.«

»Warum?«

»Um mich wenigstens in der reizenden Ungewißheit wiegen zu können, ob ich nicht am Ende doch der Ivanhoe wäre, der, aus seinem väterlichen Erbe vertrieben, unbekannt im Lande umherschwirrt, trotz seiner ritterlichen Abstammung mit Schweinehirten Freundschaft schließen und von alten schmutzigen Juden borgen muß, bis er endlich das Inkognito fallen lassen und die schöne Rowena als sein eheliches Gemahl heimführen kann, obgleich ich für mein Teil auf den letzten Punkt weniger Gewicht legen würde.«

»Haben Sie Ihrem Herrn Vater, wenn Sie sich mit ihm von der mysteriösen Angelegenheit unterhielten, auch diesen für ihn so äußerst schmeichelhaften Wunsch mitgeteilt?«

»Ich erinnere mich nicht; indessen, wenn ich es getan habe, so hat der Alte meine kindliche Regung wahrscheinlich sehr natürlich gefunden, denn er war ein sehr aufgeklärter Mann. Einen Vater muß doch nun einmal jeder Mensch haben, obgleich diese so äußerst weise Einrichtung der Natur auch manchmal, zum Beispiel, wenn man einen dummen Streich ausgeführt hat oder auszuführen gedenkt, ziemlich unbequem ist; und da sehe ich nicht ein, weshalb ich einem Vater, der mir zwei prachtvolle Güter hinterläßt, nicht einem andern, der mich in die Welt laufen läßt wie ein Krokodil sein Junges ins Wasser, das heißt, mit zwei Reihen ausgezeichneter Zähne und nichts zum Beißen dazu, nicht den Vorzug geben sollte, auch wenn der erstere in betreff gewisser, bei christlichen Nationen landesüblicher Gebräuche mehr orientalisch-mohammedanischen Ansichten huldigte.«

»Das ist Geschmackssache«, sagte Oswald.

»Gewiß«, erwiderte Albert, »obgleich ich überzeugt bin, daß von hundert Menschen, wenn ihnen die Alternative nicht bloß als Problem, sondern in greifbarer Wirklichkeit gestellt würde, sich neunundneunzig, versteht sich, mit obligatem schamhaftem Erröten, zu meiner Ansicht bekennen, oder sich auch noch immer zu Ihrer Ansicht bekennen, jedenfalls aber mit beiden Händen zugreifen würden. Verspürte doch selbst der große Goethe ähnliche Gelüste, obgleich er natürlich vermöge seiner Größe noch ein paar Zweige höher nach den goldenen Äpfeln schielte, und gern eines Kaisers Sohn gewesen wäre, während ich schon mit einem Papa Baron zufrieden bin.«

»Der große Goethe war, als er diese Gelüste verspürte, eben noch nicht der große, sondern ein ganz kleiner Goethe und hatte wie andere Kinder kindische Einfälle.«

»Na, ich weiß nicht, ob dem alten Geheimrat die beiden Güter nicht auch willkommen gewesen wären; denn in gewisser Hinsicht, zum Exempel darin, daß uns gebratene Äpfel besser schmecken als Pellkartoffeln, bleiben wir alle Kinder, und wenn wir Methusalems Alter erreichten. Indessen, dem sei, wie ihm wolle. Wenn Sie ein besonderes Gewicht darauf legen, Ihres Herrn Vaters Sohn zu sein, so wäre es unrecht von mir, Ihnen dies kindliche Vergnügen zu verleiden. – Wie wär's, Dottore, wenn wir unser philosophisches Gespräch als Peripatetiker im Freien fortsetzten? Der Himmel sieht freilich noch immer aus wie ein nasser Scheuerlappen, aber es hat doch wenigstens für den Augenblick aufgehört zu regnen, und ich meinesteils will lieber in die Sündflut hineinschwimmen als den ganzen Tag in dieser langweiligen Arche Noah sitzen, wo man sogar gegen alle Natur- und biblische Geschichte gezwungen ist, ohne das betreffende weibliche Exemplar der Spezies, die man selbst repräsentiert, leben zu müssen. Sie können doch schwimmen?«

»O ja«, sagte Oswald lächelnd.

»Nun, dann setzen Sie sich eine Mütze auf und kommen Sie; die Jungen sind jetzt unten beim Vesperbrot und werden ihren Mentor wohl auf eine Stunde entbehren können.«

Die beiden neuen Freunde gingen die enge Treppe hinab, die dicht neben Oswalds Zimmer durch die gewaltige Mauer des unteren Stocks in den Garten führte. Es regnete nicht mehr, auch der Wind hatte aufgehört zu wehen, aber der ganze Himmel war mit schweren, trüben Wolken bedeckt, die mit jedem Augenblick tiefer zu sinken schienen. Aus den Kelchen der Blumen tropften die Regenperlen wie helle Tränen aus überströmenden Kinderaugen. Dann und wann ertönten leise klagende Vogellaute aus den breiten Kronen der Bäume, sonst tiefe Stille allüberall.

Eine unaussprechliche Wehmut kam über Oswalds Herz. Das Leben erschien ihm wie ein dumpfer, beängstigender Traum, durch den geliebte Gestalten mit verhülltem Antlitz glitten. Er gedachte Melittas, aber wie einer Toten.

Auch Albert war still geworden in dem stillen Garten. »Lassen Sie uns weitergehen«, sagte er, »es ist hier wie auf einem Friedhof.«

Sie gingen aus dem alten verfallenen Tore über die Zugbrücke in den Wald, den Weg nach Berkow, denselben Weg zwischen den hohen ernsten Tannen, den Oswald an dem Abend seiner Ankunft auf Schloß Grenwitz dahergefahren kam und den er seitdem mit wie verschiedenen Empfindungen nun schon so oft zurückgelegt hatte.

Jener Abend hatte eine Kluft in sein Leben gerissen, deren Tiefe er jetzt erst inneward. Seit jenem Abend war die weite Welt draußen hinter den stillen Wäldern für ihn versunken, und eine neue Welt war für ihn emporgeblüht, eine paradiesische Welt voll Liebe und Sonnenschein; und jetzt war es ihm, als versänke ihm auch diese Welt unter den Füßen, und die alte Welt draußen jenseits der stillen Wälder läge ihm weit, unerreichbar weit. Würde er je mit frischen, mutigen Sinnen in diese Welt zurückkehren? Nicht sich stets zurücksehnen nach der blauen Blume, die ihm hier nahe wie noch nie geblüht hatte, so nahe, daß ihm der Duft bis ins Herz gedrungen war? Was war aus den stolzen Ideen geworden, denen nachzudenken sonst die Freude seines Lebens gewesen, aus den kühnen Plänen, mit denen er sich schon jahrelang getragen? War alles nun dahin? Und dahin um eines Weibes willen, um der Liebe willen zu einer Frau, die nie die seine werden konnte?

Nein und tausendmal nein! Er mußte sich losreißen aus dieser sinnverwirrenden Zauberwelt, und sollte es ihm das Herz zerreißen! Ihm! Was war an ihm gelegen! Er hatte ja kein ganzes Herz mehr zu verlieren! Aber sie – was sollte dann aus ihr werden?

»Ich glaube, Ihre Melancholie steckt an, Dottore«, sagte Albert, als sie eine Zeitlang schweigend nebeneinander hergegangen waren, »wie kann sich nur ein so geistreicher Mann wie Sie von den Einflüssen der Witterung, oder was Ihnen sonst in den Gliedern steckt, so gänzlich beherrschen lassen! Ihr melancholischen Genies seid doch pudelnärrische Menschen. Immer heißt es bei euch: hie Welf! oder hie Waiblingen! Die aurea mediocritas des Horaz ist für euch umsonst gepredigt. Ihr wollt nicht darauf hören, weil euch der Stolz nicht erlaubt, jemals mittelmäßig zu sein, und doch müßtet ihr einsehen, daß wir mittelmäßigen Kinder der Natur uns zehntausendmal wohler in unserer Haut fühlen als ihr. Wahrhaftig, Dottore, Sie können sich porträtieren und unter die Familienbilder der Grenwitze oben im Saale hängen lassen; es findet Sie keiner als einen Fremden heraus. Die haben auch alle so verteufelt melancholische Gesichter. Mir deucht, man sieht es der Rasse an, daß jeder von ihnen so oder so zum Teufel gehen mußte, wie sie es denn auch, soviel ich weiß, bis jetzt ohne Ausnahme getan haben. Die Gesichter – ich habe sie heute nach Tische der Reihe nach durchgemustert – können alle als Titelkupfer zu grauslichen Räuber- und Rittergeschichten gestochen werden. Die Gesichter erzählen von tausend übertollen Streichen, von durchzechten Nächten und vor allem: von vielen, vielen schönen Weibern, die sich an ihnen den Tod küßten. Denn für die Weiber, wie ich sie kenne, müssen Kerle mit solchen Fratzen unwiderstehlich sein, vor allem, wenn die Kerle, wie in diesem Falle, reiche Barone sind. Besonders ist mir der Harald, dieser Rattenfänger von Hameln, aufgefallen. Er ist nicht so schön wie sein Vater Oskar, mit dem Sie nebenbei, wenn Sie so finster aussehen wie eben, ohne Schmeichelei eine merkwürdige Ähnlichkeit haben – aber er scheint mir mit seinen großen, verführerischen blauen Augen, seinen so feinen und doch so wollüstigen Lippen der wahre Typus dieser hochadeligen und hochgefährlichen Rasse.«

»Sie tun mir wahrlich eine unverdiente Ehre an, wenn Sie mich so ohne weiteres mit dieser noblen Sippschaft zusammenstellen«, sagte Oswald.

»Nein, Scherz beiseite«, erwiderte Albert, »Sie haben wirklich in Ihrer Physiognomie den verhängnisvollen Grenwitzer Zug; ich will Ihnen damit nicht etwas Angenehmes sagen, denn andere, ich für mein Teil zum Beispiel, ziehe es bei weitem vor, ihn nicht zu haben. Ja, ich gehe noch weiter. Ich wette meine Karten der Grenwitzer Güter gegen die Güter selbst, daß Sie, im erb- und eigentümlichen Besitz dieser Güter, dasselbe Leben führen würden, das den Grenwitzern bis auf die jetzt regierende Seitenlinie, die gänzlich aus der Art geschlagen ist, erb- und eigentümlich war.«

»Sie verpflichten mich in der Tat durch die so überaus wohlwollende Meinung, die Sie zu meinen Fähigkeiten und Neigungen haben, zu dem lebhaftesten Dank.«

»Ironisieren Sie, soviel Sie wollen; ich bleibe dabei, Sie würden es gerade so machen wie die tollen Barone, gegen die Sie eine so gründliche Antipathie zu haben vorgeben, vielleicht auch wirklich haben, etwa so wie eine Dogge, die an den Karren gespannt ist, eine Antipathie gegen die andere hat, die frei umherläuft.«

»Aber was, ums Himmels willen, bringt Sie – was berechtigt Sie zu diesen wunderlichen Hypothesen?«

»Meine tiefsinnigen und ebenso oberflächlichen wie tiefsinnigen Studien in der Physiognomie«, erwiderte Albert. »Ich war ein Adept dieser Wissenschaft von Kindesbeinen an, ja ihr Märtyrer, denn ich habe mir für den allzugroßen Eifer, mit dem ich ihr oblag, oft sehr derbe Prügel geholt, wenn ich in den Schulstunden, anstatt aufzupassen, die geistreichsten Karikaturen von den Spatzen-, Affen-, Schafs- und anderen Köpfen um mich her zeichnete; denn Ihnen brauche ich natürlich nicht zu sagen, daß man das Charakteristische eines Gesichts, einer Gestalt am schnellsten faßt, wenn man sie zu karikieren versucht. Aus Ihrem Gesicht nun, wenn ich das Charakteristische stark betone, wird das schwermütige, und das bei aller Schwermut so verführerisch-sinnliche Gottseibeiuns-Gesicht der Grenwitzer – Gottseibeiuns-Gesicht, nämlich aus der armen Seele oder für die arme Seele der Mägdelein gesprochen, die sich darin vergaffen. Ich will mich hängen lassen, wenn Sie nicht noch im Leben ein rasendes Glück bei den Weibern machen – und schon gemacht haben.«

»Und wenn ich Ihnen nun das Gegenteil versicherte?«

»So ist der Baron Harald kein Rattenfänger, sondern ein Nachtwächter gewesen, und nicht an seiner allzugroßen Neigung für junge schöne Weiber und guten alten Wein, sondern vom vielen Studieren gestorben; so hat die kleine Marguerite – die nebenbei ein bildhübsches und auch nicht allzusprödes Kind ist – gelogen, die mich gestern versicherte, sie hasse Sie, was doch auf deutsch soviel heißt als, sie sei sterblich in Sie verliebt, und so hat die Fama gelogen, die Ihren Namen mit dem einer anderen und allerdings zu höheren Ansprüchen als die kleine Marguerite berechtigten Dame in Verbindung bringt.«

»Was meinen Sie?« fragte Oswald, der fühlte, daß ihm das Blut in die Schläfen schoß.

»Nichts, mein Prinz, nichts!« erwiderte Albert lachend. »Muß man denn immer etwas meinen, wenn man etwas sagt? Ich wollte nur auf den Busch klopfen, ob die Vögel vielleicht herausflögen. Denn daß an Ihrer Melancholie nicht bloß das Wetter schuld ist, das zu sehen, braucht man nicht einmal wie ich eine Brille zu tragen und ein Physiognom trotz Lavater und Lichtenberg zu sein. Wenn unsereiner melancholisch ist, sind immer ein paar schwarze oder blaue Augen mit im Spiele. Die schwarzen Augen der kleinen Marguerite sind es aber nicht, denn ich habe selbst gesehen, mit welcher souveränen Gleichgültigkeit Sie das arme Ding behandeln, folglich sind es ein Paar andere Augen; und folglich, wenn es ein Paar andere Augen sind, müssen diese Augen doch irgendwem gehören; und wenn sie irgendwem gehören –«

»Genug, genug!« sagte Oswald, trotz seiner bösen Laune über das lustige Geschwätz des wunderlichen Gesellen an seiner Seite lachend. »Sie werden mir noch nächstens beweisen, daß ich der Mann im Monde bin und vor Liebe zu einer schönen Prinzessin, die auf dem Sirius wohnt, mich kopfüber in den Weltraum hineinstürze.«

»Warum nicht?« sagte Albert. »Ich bin Merlin der Weise. Ich kenne alle Raupen, die ein Mensch im Kopf haben kann; ich höre einen Bären, besonders wenn ich ihn selber angebunden habe, schon von weitem brummen, und prophezeie, daß, wenn wir nicht in fünf Minuten unter Dach und Fach kommen, wir so ausgewaschen werden, wie man es nur im Interesse seiner Reinlichkeit wünschen kann.«

Die beiden befanden sich jetzt, nachdem sie aus dem Walde getreten waren, auf dem offenen Felde zwischen dem Walde und den Häuslerwohnungen von Grenwitz. Alberts Prophezeiung schien in Erfüllung gehen zu sollen. Die trüben, schweren Dunstmassen senkten sich tiefer und tiefer, daß es trotz der nicht allzu späten Stunde beinahe Nacht wurde; schon fielen einzelne große Tropfen.

»Sauve qui peut«, rief Albert. »Wie wär's mit einem kleinen Dauerlauf, Dottore, bis zu jenem Häuschen?«

»Nur zu!« sagte Oswald.

»Na, das war noch gerade vor Torschluß«, sagte Albert, als sie unter dem vorspringenden Dache der Hütte angelangt waren, und schüttelte sich wie ein Pudel. »Meinem Rock hätte die Wäsche freilich nichts geschadet, aber ich bin hier doch lieber. Nein, wie das regnet! Wollen wir nicht in das Innere dieses Palazzo dringen, Dottore, oder glauben Sie, daß das alte Weib, das da zum Fensterchen hervorlugt, dieselbe Hexe ist, die dieses Hexenwetter gemacht hat?«

»Guten Tag, Mutter Clausen!« sagte Oswald, der seine alte Freundin vom Kirchgang nach Faschwitz erkannte.

»Schönen Dank, Junker!« sagte Mutter Clausen und nickte freundlich mit dem grauen Haupte. »Ich habe dich schon erwartet. Komm nur herein, und der andere auch, wenn er dein Freund ist.«

»Na, was bedeutet denn das?« fragte Albert verwundert.

»Folgen Sie mir nur«, erwiderte Oswald, »Sie sollen eine merkwürdige alte Frau kennenlernen.« Und sie traten, nicht ohne sich zu bücken, durch die niedrige Tür der Hütte.


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