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Sechsundfünfzigstes Kapitel

Es war einige Stunden später. Die Baronin saß in ihrem Zimmer auf ihrem gewöhnlichen Platze in der Nähe der geöffneten Fenstertür. Sie hatte eine Stickerei auf dem Schoße; aber ihre Hände waren müßig; nur, wenn sich Schritte der Tür, die nach dem Flure führten, näherten, nahm sie schnell die Arbeit auf und nähte ein paar Stiche, um sie, sobald der Schritt vorüber war, wieder in den Schoß sinken zu lassen. Das wiederholte sich mehrmals, denn es war heute ein sehr lebhaftes Treiben im Schlosse. Die Vorrichtungen zu dem Ball heute abend hielten alles in Atem und machten es der wirtschaftlichen Baronin sehr schwer, hier so müßig zu sitzen, während ihre Gegenwart in Küche und Speisekammer so nötig war. Aber sie hatte Fräulein Helene bitten lassen, wenn sie mit ihrem Klavierspiel fertig sei, zu ihr zu kommen, und Helene sollte sie ruhig, gelassen, zu einem freundschaftlichen, ernsten Gespräch aufgelegt finden.

Äußerlich wenigstens. In ihrem Herzen sah es freilich anders aus. Zwar die Sorge um den Brief schien sich als unnötig erwiesen zu haben. Offenbar war er noch nicht wieder in Helenens Hände gelangt, und das war für den Augenblick die Hauptsache. So konnte man doch alle Pfeile, die man aus der Lektüre gesammelt hatte, abschnellen, ohne fürchten zu müssen, daß sie auf den Schützen zurücksprängen. Nichtsdestoweniger hatte die kluge und mutige Frau nie einer Unterredung mit irgend jemand – und sie hatte doch, da die ganze Last der Verwaltung des großen Vermögens fast ganz allein auf ihren Schultern lag, manche wichtige Verhandlung zu führen gehabt – so voll Unruhe entgegen gesehen. Sie gab sich alle Mühe, diese Unruhe zu bekämpfen, ja, wenn irgend möglich, in einer versöhnlichen, friedlichen, freundschaftlichen Verfassung zu sein. Sie geriet sogar bei diesem Versuch in eine Art larmoyanter Stimmung. Vielleicht waren, alles in allem, Tränen das beste Mittel, das edle Herz der Tochter zu rühren und sie für ihre selbstischen Zwecke zu gewinnen.

Da klopfte es an die Tür. Die Baronin griff schnell nach ihrer Arbeit. Auf ihr »Herein!« trat Helene in das Zimmer. Die etwas kurzsichtige Frau bemerkte nicht gleich, daß das edelstolze Antlitz des jungen Mädchens sehr bleich war, aber nicht von jener krankhaften Farbe, wie sie die Feigheit auf die Wangen malt, sondern von jener Marmorblässe, die sich sehr wohl mit Augen verträgt, aus denen eine heroische Seele leuchtet.

»Es tut mir leid, liebe Tochter«, sagte die Baronin, »daß ich dich heute in deinem Morgenfleiße stören muß. Ich habe dich rufen lassen, um über eine Sache von der äußersten Wichtigkeit recht ruhig, recht freundschaftlich mit dir zu sprechen. Aber setze dich doch! Dort mir gegenüber auf den Stuhl, in welchem dein Vater zu sitzen pflegt.«

»Ich danke«, sagte Helene, stehenbleibend.

Der abgemessene, fast kurze Ton, in dem das junge Mädchen diese beiden Worte aussprach, machte die Baronin von ihrer Arbeit jäh in die Höhe blicken. Sie bemerkte jetzt zum ersten Male die blassen Wangen ihrer Tochter, und ihre eigenen Wangen entfärbten sich.

»Du fühlst dich doch nicht unwohl?« sagte sie, und ihre Stimme war weniger fest als sonst. »In diesem Falle wollen wir unsere Unterredung auf eine gelegenere Zeit verschieben. Du wirst so schon für heute abend deine Kräfte nötig haben.«

»Ich fühle mich vollkommen wohl«, erwiderte das junge Mädchen, »ich stand sogar eben im Begriff, dich um eine Unterredung bitten zu lassen, da auch ich dir eine Sache von Wichtigkeit mitzuteilen habe.«

»Du mir?« sagte die Baronin, ihre großen, tiefliegenden Augen spürend auf das bleiche Antlitz ihrer Tochter heftend. »Du mir? Was kann das sein? Laß doch hören!«

»Es ist dies!« sagte Helene. »Ich fand vorgestern abend in der Nähe der Kapelle einen Brief –«

Die Baronin hob ihr Haupt und warf Helenen einen Blick zu, in dem Bestürzung, Zorn, Furcht und Trotz auf eine seltsame Weise gemischt waren.

»Einen Brief«, fuhr Helene fort, »den ich vorgestern morgen geschrieben und Luisen zur Besorgung übergeben hatte. Der Brief war natürlich, als ich ihn Luisen gab, versiegelt, als ich ihn wiederfand, war er erbrochen. Ich kann nicht glauben, daß Luise, die mir überdies zugetan scheint, ein solches Interesse an meiner Korrespondenz nimmt, um sich auf die Gefahr hin, ihren Dienst zu verlieren, eines solchen Vergehens schuldig zu machen, muß also annehmen, daß irgend jemand sonst im Schloß es der Mühe wert hält, meinen Geheimnissen nachzuspüren. Nun war es meine Absicht, zu fragen, was du mir in dieser Sache zu tun rätst.«

Die Baronin hatte, während Helene sprach, sehr eifrig genäht. Jetzt blickte sie wieder auf und sagte: »An wen war der Brief?«

»An Mary Burton.«

»Hast du dich in dem Briefe frei geäußert?«

»Wie man an eine Freundin eben schreibt.«

»Standen Sachen darin, von denen du nicht gerne möchtest, daß sie anderen zu Gesicht kämen?«

»Allerdings.«

»Auch nicht deinen Eltern?«

Helene schwieg.

»Auch nicht deinen Eltern?«

»Ja.«

»Zum Beispiel, daß deine Eltern für dich tot sind, ebenso wie deine übrigen Verwandten?«

»Du hast den Brief gelesen?«

»Wie du siehst.«

»So habe ich nichts weiter zu sagen und zu fragen.«

Helene verbeugte sich und wandte sich, zu gehen.

»Bleib«, sagte die Baronin, »wenn du nichts weiter zu sagen hast, so habe ich noch mehrere Fragen an dich zu richten, die du mir gütigst beantworten wirst. Was den Brief betrifft, so beruhige dich. Wenn Eltern ihren Kindern die Erlaubnis geben, frei zu korrespondieren, tun sie's in der Erwartung, daß die Kinder dieser Erlaubnis würdig sind. Sehen sie sich in dieser Erwartung betrogen, nehmen sie ihre Erlaubnis zurück. Darin liegt nichts Außerordentliches. Das aber ist außerordentlich, wenn ein Kind, das von seinen Eltern nur Liebe erfahren hat, sich von seinen Eltern lossagt; das ist außerordentlich, wenn ein Kind die Stirn hat, dies zu denken, eine Hand es niederzuschreiben, den Mut, dieses schriftliche Bekenntnis ihrer Armut anderen unter die Augen zu bringen. Was hast du darauf zu erwidern?«

»Nichts.«

»Und wenn nun dieses Kind die Gefühle der Liebe, die sie ihren Eltern, der Zuneigung, die sie ihren übrigen Verwandten zum mindesten schuldet, nur verleugnet, um Fremde damit zu beglücken, eine sogenannte Freundin zum Beispiel, die weiter kein Verdienst hat, als mit ihr in einer Pension gewesen zu sein; einen Knaben, der aus Gnade und Barmherzigkeit in dem Hause ihrer Eltern aufgenommen wurde; einen bezahlten Diener ihrer Eltern – jawohl, mein Fräulein, einen bezahlten Diener, mit dem die Eltern nebenbei im höchsten Grade unzufrieden sind –, was hast du darauf zu erwidern?«

»Nichts.«

»Und wenn nun deine Eltern dir doch verzeihen; wenn deine Verwandten, obgleich du es nicht verdienst, dir ihre Liebe dennoch nicht entziehen wollen; wenn du siehst, daß Eltern und Verwandte sich die Hände reichen, mit vereinten Kräften dich, die schon mehr als halb verloren ist, zu retten; wenn deine Eltern dir in der Person eines Gemahls einen Freund und Beschützer geben wollen, der dich in Zukunft vor solchen Torheiten – ich will einmal einen milden Ausdruck wählen – vor solchen Torheiten, wie du sie an Mary Burton geschrieben hast, bewahren wird; und wenn einer deiner liebenswürdigsten Verwandten die Güte haben will, dieses schwierige Amt eines Gatten, Freundes und Lehrers bei dir zu übernehmen, wirst du darauf wieder nichts zu erwidern haben?«

»Doch«, sagte Helene, die, ohne eine Miene zu verändern, bleich und still dagestanden hatte, die großen dunkeln Augen mit dem Ausdruck unerschütterlichen Mutes auf ihre Mutter richtend, die bei den letzten Worten aufgestanden war und ihr jetzt gegenüberstand, »doch! Ich habe darauf zu erwidern, daß ich tausendmal lieber sterben, als Felix' Gattin werden will.«

Sie sagte das ruhig, langsam, gleichsam jede Silbe wägend.

»Und wenn deine Eltern es befehlen?«

»So kann ich nicht, und so werde ich nicht gehorchen.«

»Und wenn sie heute abend der versammelten Gesellschaft deine Verlobung mit Felix ankündigen?«

»So werde ich der versammelten Gesellschaft sagen, was ich dir soeben gesagt habe.«

»Ist das dein wohlerwogener Entschluß?«

»So wahr mir Gott helfe: ja!«

»Nun denn! So sage ich mich von dir los, wie du dich von mir losgesagt hast! So gehe denn hin und wirf dich dem Bettler in die Arme! Aber nein! Noch gibt es Mittel, diese Schande wenigstens vor der Welt zu verbergen. Morgen packst du deine Sachen; übermorgen gehst du in die Pension zurück.«

Ein Strahl wie von Freude brach aus Helenens dunklen Augen, und ein zartes Rot flog über ihre bleichen Wangen.

»Ich gehe gern«, sagte sie.

»Aber nicht nach Hamburg«, sagte die Baronin, und es lag eine grausame Ironie in Ton und Wort, »ich habe genug von Mary Burton. Du gehst nach Sundin. Ich habe schon an Fräulein Bär geschrieben. Sie ist nicht ganz so nachsichtig wie Madame Bernhard, aber mit der Zeit der Güte und Nachsicht ist es jetzt auch vorbei. Begib dich auf dein Zimmer! Um sechs Uhr wünsche ich dich zum Ball angezogen zu sehen. Überlege dir noch einmal, was du tun willst. Ich gebe dir bis dahin Bedenkzeit. Du kannst gehen.«

Helene ging, ohne ein Wort zu erwidern, nach der Tür. Als sie sie fast erreicht hatte, trat der alte Baron herein.

»Wo willst du hin, mein Mädchen?« sagte er, die Hand freundlich nach ihr ausstreckend.

Helene ergriff die Hand; drückte sie an ihre Lippen und sagte:

»Verurteile mich nicht, Vater, ohne mich gehört zu haben.«

Dann eilte sie aus dem Zimmer.

»Was hat das Mädchen?« sagte der alte Herr, ihr voller Erstaunen nachsehend.

»Komm, Grenwitz«, sagte die Baronin, »ich habe über eine Sache von Wichtigkeit mit dir zu sprechen.«


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