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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Die jetzt vollständig versammelte Gesellschaft hatte sich allmählich aus den Zimmern in den Garten begeben, da der herrliche Sommernachmittag unwiderstehlich ins Freie lockte. Die älteren Herren und Damen promenierten in den schattigen Gängen oder besichtigten die schönen Gewächshäuser; die jungen Leute suchten auf einem großen runden Rasenplatze, der zum Teil von hohen breitkronigen Bäumen überschattet war, gesellschaftliche Spiele zu arrangieren; aus einer Ecke des Parkes, wo ein Schießstand eingerichtet war, ertönte von Zeit zu Zeit der scharfe Knall der neuen Pistolen. Melitta hielt sich, eingedenk der bewährten Regel, daß der Ruf junger Frauen in der Gesellschaft von den alten Damen gemacht wird, und wohl wissend, daß sie die Freiheiten, die sie sich während des Balles zu nehmen gedachte, durch einige vorhergehende Opfer erkaufen müsse, in der Gesellschaft der Gräfin Grieben, der Baronin Trantow, der Frau von Nadelitz, der Baronin Grenwitz und der andern ältern Damen. Oswald hatte sich zuerst der Jugend angeschlossen, bei der ihn Herr von Langen einführte, und hatte mit einigen Reminiszenzen aus den Gesellschaften Berlins und einigen geschickten Kombinationen verschiedene Spiele befürwortet und arrangiert, die mit allgemeinem Beifall angenommen und mit sichtlicher Zufriedenheit der Teilnehmer ausgeführt wurden. Als er aber sah, daß Melitta, gegen seine Hoffnungen, sich durchaus nicht in den Kreis der Spielenden mischen wollte, benutzte er eine schickliche Gelegenheit, sich zurückzuziehen. Herr von Langen war ihm gefolgt und holte ihn in einem Heckengange ein, wo Oswald sich der harmlosen Beschäftigung des Stachelbeerpflückens hingab.

»Gott sei Dank«, sagte Herr von Langen, Oswalds Beispiele folgend, und einen Johannisbeerbusch, der voll dunkelroter Früchte hing, plündernd. »Diesem Unheil wären wir glücklich entronnen. Fluch dem ersten, der gesellschaftliche Spiele erfand. Sind die Stachelbeeren reif?«

»Köstlich!«

»Sie müssen mich auf jeden Fall in nächster Zeit besuchen. Mein Gut liegt nur ein Stündchen von Grenwitz. Meine Frau, die mich erst vor ein paar Wochen mit einem allerliebsten kleinen Mädchen beschenkt hat und sich noch nicht kräftig genug fühlt, so große Gesellschaften mitzumachen, wird sich freuen, Sie kennenzulernen. Wenn Sie mir einen Tag bestimmen wollen, schicke ich Ihnen meinen Wagen.«

»Ich nehme Ihre Einladung mit Dank an«, sagte Oswald, der sich einigermaßen durch die liebenswürdige Freundlichkeit eines Mannes aus dem von ihm so sehr gehaßten Stande beschämt fühlte. »Sollen wir sagen, nächsten Sonntag?«

»Sie sind jederzeit willkommen; wenn Sie die Knaben mitbringen wollen, tun Sie es ja; ich habe ein Paar Ponys, die den Jungen besser gefallen werden als Cornel und Ovid zusammen. – Ach, Herr des Himmels! Incidit in Scyllam, qui vult vitare Charybdim! Dort biegt die Gräfin Grieben an der Spitze ihrer Suite um die Ecke. Sauve qui peut!«

Die jungen Männer schlugen einen andern Gang ein, der den ersten rechtwinklig durchschnitt, und waren bald den herankommenden Damen aus den Augen. Oswald seinerseits wäre ebensogern geblieben, denn er hatte in der »Suite« auch Melitta bemerkt und gehofft, wenigstens im Vorübergehen einen Blick von ihr zu erhaschen; aber er hielt es für seine Pflicht, gute Kameradschaft mit seinem neuen Freunde zu halten, der ihm im Laufe des Nachmittags schon mehr als eine Gefälligkeit erwiesen hatte.

»Sie scheinen die Gesellschaft nicht besonders zu lieben, Herr von Langen«, sagte er lächelnd über die Eilfertigkeit des jungen Mannes.

»Die große Gesellschaft – nein! Ich bin in fast absoluter Einsamkeit aufgewachsen. Mein Vater, der nicht eben reich ist, schloß sich in dem Interesse seiner Kinder von dem geselligen Leben des hiesigen Adels fast gänzlich ab. Hernach kam ich auf die Schule. Ich hätte gern studiert; aber der Vater bedurfte meiner für die Wirtschaft, die er bei zunehmendem Alter nicht mit derselben Rüstigkeit leiten konnte; so mußte ich denn von der Schule abgehen, als ich ein Jahr in Prima gesessen hatte. Seitdem ist der gute Vater gestorben und ich habe die paterna rura kaum verlassen. Sind Sie Jäger?«

»Nein, ich habe bis jetzt nicht die mindeste Gelegenheit gehabt, die Nimrodnatur, die möglicherweise in mir schlummert, zu kultivieren.«

»Ah, das ist schade; aber das findet sich – wir haben eine recht hübsche Hühner- und Hasenjagd. Sie sollten vorläufig etwas mit der Pistole schießen. Man lernt dabei visieren und bekommt eine sichere Hand.«

»Nun, mit Pistolenschießen habe ich im Leben leider beinahe zu viel Zeit verbracht«, antwortete Oswald. »Mein Vater, ein Sprachlehrer und übrigens ein sehr friedfertiger Mann, hatte eine wahre Leidenschaft für das Pistolenschießen; es war seine einzige Erholung. Er schoß, wie ich nie im Leben wieder jemand habe schießen sehen, mit einer fast wunderbaren Geschicklichkeit. Ich habe nie den Grund dieser seltsamen Leidenschaft erfassen können.

Einmal fiel es mir ein, ihn zu fragen, wie er dazu gekommen sei? Ich werde den Ton nie vergessen, in dem er mir antwortete: ›Es gab eine Zeit, wo ich hoffte, mich durch eine Kugel an einem Manne rächen zu können, der mich tödlich beleidigt hatte. Als ich meines Zieles vollkommen sicher war – starb der Mann. Seitdem schieße ich in Gedanken auf ihn; jedes As, das meine Kugel trifft, ist ein falsches, grausames Herz!‹ Ich drang in ihn, mir den Mann zu nennen. ›Das kann ich nicht‹, antwortete er, ›aber wenn du dir auch etwas bei der Sache denken willst, nimm an, jedes As sei das Herz irgendeines beliebigen Adligen!‹«

»Mon Dieu«, sagte Herr von Langen, »und haben Sie diesen fanatischen Haß Ihres Vaters gegen meinen Stand geerbt?«

»Nur zum Teil«, sagte Oswald, »ebenso wie ich auch nur einen Teil seiner Fertigkeit mit der Pistole geerbt habe. – Wollen wir einen Augenblick nach dem Schießstande gehen? Ich höre an dem Knall, daß wir ganz in der Nähe sein müssen.«

»Bravo, bravo!« erschallte es von dem Schießstande herüber. »Cloten, ich pariere auf Sie.«

»Ich pariere auf Breesen«, rief eine andere Stimme.

Sie fanden auf dem Schießstande ein halbes Dutzend Herren etwa, alle in größtem Eifer, mit Ausnahme des Baron Oldenburg, der, die Hände in den Taschen seiner Beinkleider, an einen Baum gelehnt, die Schützen betrachtete und Strophen aus der Marseillaise dazu zwischen den Zähnen summte.

»Bravo, Cloten, wieder Zentrum – der Kerl schießt verteufelt«, schallten die Stimmen durcheinander.

»Hat sonst jemand von den Herren Lust zu parieren?« sagte Herr von Cloten, mit einem wunderbar selbstgefälligen Lächeln sich umsehend.

»Ich, wenn Sie erlauben«, sagte Oswald.

»Sie?« erwiderte der Dandy mit einem Blick sprachlosen Erstaunens.

»Ich pariere einen Louis auf den Herrn«, sagte Baron Oldenburg grinsend. »Wer hält?«

»Ich, ich!« riefen mehrere Stimmen.

»Ich halte alles«, sagte Oldenburg, dem die Sache einen köstlichen Spaß zu machen schien.

»Unser Einsatz ist bisher ein Taler gewesen; es ist Ihnen doch recht?« sagte Herr von Cloten zu Oswald.

»Natürlich.«

»Aber Doktor Stein kennt die Pistolen nicht«, sagte von Langen, »und Cloten muß sich bereits vollständig eingeschossen haben. Die Partie ist ungleich.«

»Wenn nur mein Geld auf dem Spiele stände«, sagte Oswald, »so würde ich den Versuch wagen. Da aber auf mich gewettet ist, so möchte ich bitten, mir vorher einen Schuß zu erlauben.«

»Natürlich«, rief Herr von Breesen, »das versteht sich von selbst, Herr von Barnewitz.«

»Wird nicht viel helfen«, sagte von Cloten leise zu einem andern.

»Sehen Sie den Tannenzapfen dort, Herr von Langen?« sagte Oswald, nachdem ihm eine geladene Pistole gereicht war. »Den an dem äußersten Ende des Zweiges?«

»Ja, aber das sind mindestens fünfzig Fuß.«

»Tut nichts. Diese Pistolen scheinen mir noch auf weitere Distanzen einen sichern Schuß zu erlauben.«

Oswald hob die Pistole. Aller Augen waren gespannt auf den Tannenzapfen gerichtet.

»Ja so«, sagte Oswald, die erhobene Pistole sinken lassend. »Wollen Sie nicht die Güte haben, Herr von Barnewitz, mich dem Herrn vorzustellen, der ein so günstiges Vorurteil für meine sehr fragliche Fertigkeit im Schießen an den Tag gelegt hat.«

»Hatte ganz vergessen; bitte um Entschuldigung. Baron Oldenburg – Doktor Stein.«

»Ah, Baron Oldenburg!« sagte Oswald, mit der linken Hand den Hut abnehmend. »Sie sehen doch den Tannenzapfen, Herr Baron.«

»Vollkommen deutlich«, sagte Oldenburg, sich höflich verbeugend.

Oswald hob die Pistole wieder, zielte eine Sekunde – der Tannenzapfen kam in Stücken zur Erde.

»Famos!« schrie Herr von Barnewitz, »Cloten, du findest deinen Meister.«

»Nous verrons«, sagte Herr von Cloten, »Sie haben den ersten Schuß, Herr Doktor.«

Oswald nahm die andere Pistole, und schoß, ohne scheinbar auch nur zu zielen.

»Zentrum!« schrie der Bediente an der Scheibe, eine Reverenz nach dem Schützen machend, bevor er das Loch mit einem Pflaster verklebte.

»Cloten, zahlen Sie Reugeld!« rief Oldenburg, mit dem Gelde in seiner Tasche klappernd.

»Zentrum!« ertönte es von der Scheibe.

»Sehen Sie?« sagte von Cloten, Herrn von Barnewitzens Jäger die Pistole zum Laden gebend.

»Ich denke, wir nehmen eine größere Distanz oder ein anderes Ziel«, sagte Oswald, »bei diesem tellergroßen Zentrum auf vierzig Schritt werden Herr von Cloten und ich wohl noch lange ohne Entscheidung fortschießen können. Sind keine Karten zur Hand?«

»Ich bin's zufrieden«, sagte von Cloten.

»Hast du Karten mitgebracht, Friedrich?« rief Herr von Barnewitz.

»Ja, Herr!«

»Nimm die Scheibe ab und nagle ein As an den Baum!«

»Natürlich gilt nur die Kugel, die durch das As schlägt oder es wenigstens berührt hat«, sagte Oswald.

»Natürlich«, sagte von Cloten.

»Jetzt kommt die Sache in Gang«, rief der junge Breesen und rieb sich vor Vergnügen die Hände.

»Cloten, zahlen Sie Reugeld«, sagte Oldenburg wieder und durch die Zähne murmelte er:

»Tannenzapfen – Herzenas –
Ei, mein Schätzchen, merkst du was?
Ist es Liebe? Ist es Haß?«

Von Cloten zielte lange, aber sei es, daß das neue Ziel ihn verwirrte, sei es, daß seine Hand schon unruhig geworden war – seine Kugel traf nur den oberen Rand der Karte. Oswald trat vor; sein Auge schweifte über die Schar der Edelleute, die um ihn herum stand. Denke dir, das As sei das Herz irgendeines beliebigen Adeligen, hörte er eine wohlbekannte Stimme flüstern... Sein Schuß krachte. An der Stelle des Asses war das Loch der Kugel in der Karte.

»Trösten Sie sich, Cloten«, sagte Oldenburg. »Non semper arcum tendit Apollo – zu deutsch: Vorbeischießen muß auch sein.«

»Wirklich meisterhaft«, sagte von Barnewitz, die Karte herumzeigend, »das As rein herausgeschossen.«

»Wollen Sie Revanche haben, Herr von Cloten?«

»Nein, danke, ein andermal. Fühle, daß meine Hand nicht mehr sicher –«

»Warum haben Sie nicht Reugeld gezahlt, Cloten?« sagte Oldenburg, das gewonnene Geld lachend in die Tasche steckend.

»Hier sind sie! Hier sind sie!« riefen da auf einmal helle Mädchenstimmen, und um das Gebüsch herum, das den Schießstand vom Wege trennte, kamen Emilie von Breesen, ihre Cousine Lisbeth von Meyen und eine von den jungen Fräulein von Nadelitz wie ebensoviele weiße Schmetterlinge.

»Sie sind allerliebste Herren – Spielverderber – Im Augenblick kommen Sie wieder zurück –« so schallten die Stimmchen durcheinander.

»Du könntest auch etwas Besseres tun, Adolf, als hier den ganzen Nachmittag bei dem alten dummen Schießen zubringen«, sagte Emilie von Breesen zu ihrem Bruder.

»Er muß auch mit«, rief Lisbeth, »wir nehmen sie gefangen. Du, Emilie, nimm den Doktor, du bist die Stärkste, und er ist der Rädelsführer – Natalie, Natalie, halt Herrn von Langen fest! Er will davonlaufen.«

»Meine Herren«, rief Oswald, »jeder Widerstand wäre Hochverrat! – Meine Damen! Wir ergeben uns auf Gnade und Ungnade«, und er bot Fräulein von Breesen den Arm.

Die beiden andern Herren folgten seinem Beispiele; die drei hübschen Pärchen eilten lachend und scherzend davon.

»Eine Entführung in optima forma«, sagte Oldenburg.

»Wir gehen auch wohl, ihr Herren«, rief Barnewitz, »denn ich fürchte, wenn wir warten wollen, bis wir von den jungen Damen abgeholt werden, so können wir lange warten.«

»Allons enfants de la patrie!« sang Oldenburg in möglichst falschen Tönen mit einer Stimme, die wesentlich dem Krähen eines heisern Hahnes an einem regnerischen Tage glich, und faßte von Cloten unter den Arm.

»Cloten, mon brave, wir werden alt«, sagte er, während sie in einiger Entfernung hinter den andern dem Hause zuschritten. »Wenn wir nicht bald machen, daß wir unter die Haube kommen, so ist uns jede Hoffnung auf eheliches Glück, legitime Vaterfreuden und ein seliges Ende, Amen, abgeschnitten.«

»Ah, Spaß! Baron, Sie sind mindestens fünf Jahre älter als ich.«

»Das hindert nicht, daß die jungen Damen einen wie den andern en canaille behandelt haben.«

»Die kleine Emilie ist ein verdammt hübscher Backfisch.«

»Si, Signore, und was für ein Paar große, graue, verliebte Augen sie dem Doktor machte! Mit sechzehn Jahren! Wahrhaftig alles mögliche!«

»Verdammte Puppe!«

»Wer? – Fräulein Emilie?«

»Ah – der Mensch, der Doktor!«

»Ja, so! Ich hab's Ihnen ja gleich gesagt! Die Mägdelein reißen sich um ihn! Und wie vortrefflich der Kerl schießt, Cloten! Möchte ihm nicht fünf Schritte Barriere und zehn Distanz gegenüberstehen!«

»Ah! Danke für ein Duell mit so einem Bürgerlichen. Partie ist zu ungleich. Meinen Sie nicht auch, Baron?«

»Vielleicht ist der Mann die Frucht einer Liaison zwischen einem Sohn des Himmels und einer Tochter der Erde.«

»Was heißt das?«

»Wissen Sie nicht, daß vor Abraham die Kinder von Adeligen mit Bürgermädchen so bezeichnet wurden?«

»Nein, habe nie gehört! Sohn des Himmels – famos! Übrigens traue Schrift nicht. Müssen doch selbst zugeben, Baron, diese Idee, alle Menschen von einem Paar abstammen zu lassen, Adelige und Bürgerliche, geradezu abgeschmackt, horribel – lächerlich! Habe mir immer gedacht: daß Schrift von diesen Bürgerlichen in ihrem Interesse zurechtgemacht ist. Hat mich stets geärgert, wenn Hauslehrer mir die alte Geschichte erklären wollte.«

»Cloten«, sagte Oldenburg stehenbleibend und seinem Begleiter die Hand auf die Schulter legend, »Cloten, Sie sind ein großer Mann. Dieser Gedanke bringt Sie in eine Reihe mit den tiefsinnigsten Denkern aller Jahrhunderte.«

»Ah, wah – reden Sie nun im Ernst, Baron, oder scherzen Sie, wie gewöhnlich?«

»Lieber Cloten«, sagte Oldenburg, seinen Arm wieder unter den seines Begleiters steckend und weitergehend, »lassen Sie sich ein für allemal gesagt sein, daß es mir immer um das, was ich sage, fürchterlich ernst ist, und der Gegenstand, von dem wir sprechen, ist wahrlich von zu ungeheurer Bedeutung, als daß er eine scherzhafte Behandlung vertrüge. So hören Sie denn – aber machen Sie keinen ungeeigneten Gebrauch von der Sache, Cloten –«

»Gott bewahre – parole d'honneur!«

»So hören Sie denn, daß dieselbe Frage, deren richtige Beantwortung Sie mit dem sichern Takte des Genies sofort fanden, mich jahrelang beschäftigt hat. Auch ich sagte mir: der Unterschied des Namens, des Standes – enfin: der ganzen Natur. Wie können nun zwei so verschiedene Wesen von demselben Menschenpaare abstammen? Der Geist verwirrt sich in diesem schauderhaften Widerspruch.«

»Gott, Baron, endlich sprechen Sie doch einmal wie –«

»Wie ein Baron. Hören Sie weiter. Diese Frage beschäftigte mich so unausgesetzt, daß ich endlich beschloß, sie zu lösen, es koste, was es wolle. Ihr habt alle über mein einsames Leben, über mein Studieren und so weiter gespottet. Wissen Sie, Cloten, was ich studierte, während Ihr Euch auf der Jagd oder beim Pharao amüsiertet?«

»Nein – auf Ehre –«

»Aramäisch, Chaldäisch, Syrisch, Mesopotamisch, Hindostanisch, Gangobrahmaputraisch – Sanskrit –«

»Herr Gott des Himmels! Das ist ja schauderhaft? Wozu?«

»Weil ich die feste Überzeugung hatte, daß sich in den Klöstern Armeniens, in den Katakomben Ägyptens, oder sonst irgendwo im Orient eine alte Handschrift, welche die Sache aufklärte, entdecken lassen müsse. Als ich alle jene Sprachen und Dialekte so fertig wie Deutsch und Französisch sprach, trat ich vor drei Jahren meine letzte große Reise nach dem Orient an. Im Vorübergehen durchstöberte ich die Bibliotheken Italiens. In Rom traf ich Barnewitzens. Dies Zusammentreffen war mir im Grunde sehr unangenehm. Aus Höflichkeit mußte ich sie bis Sizilien begleiten. In Palermo aber machte ich, daß ich davonkam.«

»Ah, das erklärt Ihr plötzliches Verschwinden – das unterbrochene Opferfest, ha, ha, ha!«

»Unterbrochenes Opferfest – der Ausdruck stammt nicht von Ihnen, Cloten.«

»Nein, auf Ehre – ist 'ne Erfindung von Hortense, wollte sagen, von der Barnewitz«, verbesserte sich der junge Edelmann. »Sie behauptet – entre nous, Baron –, daß euer Zusammentreffen in Rom gar nicht so absichtslos von Ihrer Seite und die ganze Reise von Rom nach Palermo – heißt ja wohl Palermo? – ein reiner Triumphzug für die Berkow gewesen sei; Opferfest – unterbrochenes Opferfest! Ha, ha!«

»Aber ich verstehe Sie gar nicht, Cloten.«

»Na, entre nous, Hortense weiß von der Reise allerlei Geschichten zu erzählen. So eine Szene auf der Überfahrt von Ciproda –«

»Procida«, verbesserte Oldenburg. –

»Procida, meinetwegen, der Teufel mag all die verrückten Namen behalten, von Procida nach Neapel.«

»Nun?«

»Aber zum Teufel, Baron, Sie fragen einem auch die Seele aus dem Leibe. – Sie hatten einen kleinen Fischerkahn, und es kam ein richtiger Sturm auf – die Wellen gingen haushoch, und Sie mußten jeden Augenblick erwarten, daß das Boot kenterte. Da sollen Sie auf Italienisch –«

»Die Barnewitz versteht kein Wort italienisch, soviel ich weiß«, sagte Oldenburg.

»Hortense nicht, aber die Schiffer, die sie hernach ausgefragt hat –«

»Hm«, murmelte Oldenburg. »Nun?«

»Da sollen Sie zu der Berkow gesagt haben: Liebe Seele, mit dir zusammen zu ertrinken ist mehr wert, als mit deiner Cousine oder irgendeiner andern Frau hundert Jahre zusammen zu leben!' »

»In der Tat? Erzählt Hortense ihren guten Freunden so hübsche Geschichten? Nun, Cloten, ich will Ihnen einen guten Rat geben: Glauben Sie jedem Kuß, den Sie von Hortenses Mund schon geküßt haben oder noch küssen werden –«

»Ah, dummes Zeug, Baron«, sagte der Dandy mit jenem Lächeln, das bescheiden sein soll und doch so entsetzlich unverschämt ist.

»Aber glauben Sie keinem Wort, das aus ihrem Munde geht. Können Sie wirklich denken, daß ich nichts Besseres zu tun hatte, als Melitta von Berkow den Hof zu machen, während so ernste, ja sozusagen heilige Dinge meine Seele beschäftigten. Lassen Sie sich erzählen: Ich reiste also von Sizilien nach Ägypten hinauf bis Abu Simbul, zurück nach Kairo, von da nach Palästina, Persien, Indien – durchsuchte jeden Tempel, jede Felsenspalte –, ich fand nicht, was ich suchte. Endlich – als ich schon an dem Erfolge verzweifelte, als ich schon auf der Rückreise war, da – in der Bibliothek des Klosters auf dem Vorgebirge Athos –«

»Wo ist das, Baron?«

»Zwischen dem Indus und dem Oregon – dort in der Klosterbibliothek entdeckte ich endlich das langgesuchte Manuskript. Da stand denn die ganze Geschichte.«

»Was stand da?«

»Da stand im reinsten Hochbrahmaputraisch, daß – ich übersetze alles in unsere modernen Begriffe und Ausdrücke –«

»Ja, machen Sie's um's Himmels willen so, daß ich es verstehe.«

»Daß gleich von vornherein zwei Menschenpaare geschaffen wurden, wie es auch gar nicht anders sein kann; ein adeliges und ein bürgerliches. Der Name dieses ersten adeligen Geschlechts ist aus dem Manuskript nicht zu ersehen. Gerade an der einen Stelle, wo er ausgeschrieben gestanden hat, ist ein großer Klecks. Soviel ist sicher, Oldenburg hat es nicht geheißen; es war noch ganz deutlich ein C zu erkennen, und in der Mitte ein t.«

»Vielleicht Cloten«, sagte der andere.

»Es ist möglich, aber beschwören kann ich es nicht. Auch was für eine Geborene seine Gemahlin gewesen ist, die schlechtweg Fräulein genannt wird, ist nicht ersichtlich.«

»Aber ich denke, sie ist aus der Rippe des Mannes gemacht und gar nicht geboren.«

»Ah, lassen Sie sich doch kein dummes Zeug einreden, Cloten. Sie wird ausdrücklich Fräulein genannt, dann muß sie doch auch ein Fräulein von Soundso gewesen sein.«

»Das ist ja aber eine verflucht verwickelte Geschichte.«

»Gar nicht so sehr, wie Sie glauben. Genug, der Herr und das Fräulein, das bald genug zur gnädigen Frau wurde, hatten ein Landgut, welches Paradies hieß; – warum soll ein Landgut nicht Paradies heißen, Cloten?«

»Verdammt schnurriger Name indessen.«

»Warum? Nennt doch einer sein Gut Solitude, der andere Sanssouci, der dritte Bellevue, warum soll nicht einmal einer das seine Paradies genannt haben? Eh bien! Der Bediente des Herrn hieß Adam. Vortrefflicher Name für einen Bedienten. Als er steif und lahm wurde, schimpften sie ihn den alten Adam – haben Sie je von einem Adeligen gehört, der Adam geheißen hätte, Cloten?«

»Im Leben nicht.«

»Sehen Sie, da haben Sie wieder den schönsten Beweis. Er rief also seinen Kerl Adam, und die Zofe seiner Gemahlin Eva, Evchen – allerliebster Kammerzofenname das. Meine Mutter hatte ein Kammermädchen Evchen, ein bildhübsches Ding. Der Adam war aber ein großer Schlingel, wie die Bedienten das bekanntlich bis auf den heutigen Tag sind. Das Ding, die Eva, war auch nicht viel besser. Zuletzt trieben es die beiden zu arg. Schließlich ergriff der Herr denn einmal die Hetzpeitsche und jagte die beiden vom Hofe. In das Gesindebuch schrieb er: Entlassen wegen Unehrlichkeit, Putzsucht und Arbeitsscheu. Das ist so in großen Umrissen der eigentliche Verlauf der Geschichte.«

»Wirklich merkwürdig – ganz famos, auf Ehre! Haben Sie das Buch mitgebracht. Baron?«

»Nein; aber eine von dem dortigen Landrat beglaubigte Abschrift.«

»Gibt's denn dort auch Landräte?«

»Aber, lieber Freund, wie kann denn ein Land ohne Landräte bestehen?«

»Natürlich; aber es wäre doch besser, wenn wir das Buch selber hätten.«

»Vielleicht macht es sich. Die Mönche sind entsetzlich obstinat; ich hatte schon vor, sie alle mit Blausäure zu vergiften. Wahrscheinlich tue ich das auch noch, wenn ich wieder in die Gegend komme. Bis dahin müssen wir uns mit der Kopie begnügen.

»Hören Sie, Baron, können Sie mir nicht auch so eine Kopie geben? Ich meine natürlich in deutscher Übersetzung, nicht in brahmaputraisch oder wie der verdammte Jargon heißt.«

»Hm; aber versprechen Sie mir, es niemand zu zeigen.«

»Verlassen Sie sich drauf!«

»Höchstens einem oder dem andern aus unserm Zirkel.«

»Das also darf ich?«

»Meinetwegen; aber nennen Sie meinen Namen reicht. Sagen Sie, es wäre eine bloße Hypothese von Ihnen –«

»Eine was?«

»Eine bloße Vermutung, die noch der Bestätigung bedürfe; wenn wir dann hernach das Original in die Hände bekommen, so ist das Ihr Triumph und der Triumph der guten Sache zu gleicher Zeit.«


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