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Achtes Kapitel

Der Baron hatte Oswald angeboten, ihn nach der Kirche fahren zu lassen; der junge Mann aber, der die schwerfälligen Braunen noch von dem Abend seiner Ankunft her in bösem Angedenken hielt, hatte es abgelehnt. Bruno und Malte erwarteten heute die Knaben eines benachbarten Edelmannes zum Besuch. Bruno wäre am liebsten mit Oswald gegangen, da dieser aber selbst ihn zu bleiben bat, sagte er:

»Sie sind recht froh, daß Sie mich auf ein paar Stunden los sind, aber ich weiß, was ich tue. Ich gehe in den Wald und komme vor Abend nicht nach Hause.«

»Das wirst du nicht tun, Bruno!«

»Und weshalb nicht?« fragte der Knabe trotzig.

»Weil du mich lieb hast.«

»Nun denn, so will ich Ihnen zuliebe hierbleiben, den albernen Hans von Plüggen nicht prügeln und mich überhaupt so musterhaft benehmen, daß selbst Tante zufrieden sein soll.«

»Tue das, lieber Junge. Leb wohl!«

»Leb wohl, Lieber, Bester!« rief der Knabe und warf sich stürmisch an die Brust seines einzigen Freundes, und eilte von ihm fort, in den Garten, dort mit seinem wilden Herzen allein zu sein.

Oswald ging aus dem Schloßhofe den Weg, von dem er wußte, daß er nach dem Pfarrhofe führte. Die Sonne schien hell aus dem blauen Himmel, an dem weiße Wolkenballen unbeweglich standen. Es war nicht heiß, denn der Atem des nahen Meeres hauchte Kühlung durch die Sommerluft. Lerchen jubelten hoch droben »im blauen Raum verloren«. An dem Rande des nahen Waldes, von dem eine Ecke, Oswald zur Rechten, weit in das bebaute Land hineinschoß, zog ein Gabelweih seine Kreise. Auf den Feldern sah man keine Arbeiter; die Ackergeräte lagen müßig. In einer Koppel, an der der Weg vorüberführte, lagen in satter Ruhe Kühe und Kälber; ein paar muntere Füllen kamen an den Zaun und sahen neugierig nach dem Wanderer.

Oswald hatte schon den Hof des Gutes hinter sich. Er kam auf dem mit Weiden an beiden Seiten besetzten Weg an der Stelle vorüber, wo der Streit zwischen Bruno und dem Knechte stattgefunden hatte. Unwillkürlich blieb er stehen; die ganze Szene wurde wieder lebendig vor seinem Auge; er sah den schönen Knaben, zürnend und drohend, wie ein jugendlicher Gott; und den feigen, zurücktaumelnden Knecht. Fast tat es ihm leid, daß er seinen Liebling zum Zurückstehen vermocht hatte. Er fühlte sich so leicht, so froh an diesem schönen Morgen, und es war ihm schon zur lieben Gewohnheit geworden, wenn seine Seele ein Fest feierte, den Knaben zu Gast zu haben. Du, wie Al Hafi, Wilder, Guter, Edler! sprach er bei sich, was willst du in dieser Welt von weibischen Männern! Fürchten sie sich doch jetzt schon vor dir, da du ein Knabe bist, was werden sie tun, wenn du ein Mann geworden! Ein Mann tut uns not, schreien die Gelehrten aller Orten. Wie wollt ihr Männer haben, wenn Haus und Schule und Leben sich gegenseitig unterstützen, die stolze Kraft im Keim zu brechen! Da schnitzeln sie an dem Bogen und schnitzeln immerfort, und wundern sich, wenn das feine Ding hernach zerbricht. Pygmäengeschlecht, das den Riesen, den ein glücklicher Zufall an ihren öden Strand, geworfen, mit tausend und aber tausend Fäden regungslos an die platte Erde fesselt!

Oswald war in dem besten Zuge, sich in eine misanthropische Stimmung hineinzureden, aber der helle, leuchtende Morgen duldete die Nachtgedanken nicht. Ein Bild, das Bild einer schönen Frau, das gestern abend, bevor der Schlummer sein Auge schloß, noch zuletzt vor seiner Seele gestanden hatte, das als ein lieber Schatten durch seine Träume geglitten war, und, wie der Nachklang einer köstlichen Musik, ihn schon den ganzen Morgen umschwebt hatte, trat wieder vor seine Seele. Aber vergebens suchte er es zu bannen. – Während er nur an Melitta dachte, nur an sie denken wollte, sah er die Baronin, Mademoiselle Marguerite, diese oder jene Dame seiner Bekanntschaft, aber die Amazone im grünen Reitkleide zerflatterte ihm immer wie neckischer Nebel. »So flattre fort, du schöner Spuk!« rief der junge Mann und suchte seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben.

Das Terrain war bis dahin wellenförmig gewesen, jetzt wurde es eben, wie die Fläche des Meeres in der Windstille. Eine weite Heide lag vor ihm, jenseits das Kirchdorf, welches das Ziel seiner Wanderung war. Andere Gehöfte begrenzten in weiter Ferne die Fläche. Die Weiden, die dein Weg begleitet hatten, wurden spärlicher und verschwanden zuletzt ganz. Hier und da hatte man auf der Heide die Rasendecke entfernt, um Torf zu gewinnen, der nun in langen schwarzen Reihen zum Trocknen aufgeschichtet dalag. In den so entstandenen tiefen Gräben blinkte das Wasser. Kiebitze und anderes Sumpfgevögel flatterte hin und wider. In der weiten, öden Runde sah Oswald keine Menschen, außer einer Frau, die ein paar hundert Schritte vor ihm auf einem Grenzsteine saß. Als er näher kam, fand er, daß es eine alte, sehr alte Frau in einem armseligen, aber äußerst reinlichen Anzug war. Sie mußte wohl, von dem Wege ermüdet, auf dem Steine eingenickt sein; denn sie richtete den tief gesenkten Kopf schnell in die Höhe, als Oswald in ihre Nähe kam und betrachtete verwundert den jungen Mann.

»Guten Morgen, Mütterchen!« sagte dieser, stehenbleibend. »Ist das Dorf dort gerade vor uns Faschwitz?«

»Ja!« sagte die Frau mit für ihr Alter auffallender Lebhaftigkeit, »der junge Herr will wohl auch in die Kirche?«

»Ja, Mütterchen! Wann fängt die Predigt an?«

Die Alte warf einen Blick nach der Sonne und sagte:

»Ich hab zu lang geschlafen; für mich ist es nun schon zu spät; meine alten Beine tragen mich nicht mehr so schnell; aber Sie sind ein junger Mensch. Sie kommen schon noch zur rechten Zeit. Nichts für ungut, wie ist Ihr Name, junger Herr?«

»Stein – Oswald Stein.«

»Stein? Den Namen muß ich schon gehört haben.«

»Wohl möglich, er ist eben nicht selten.«

»Stein – hm, hm; nichts für ungut, wo sind Sie her, Herr Stein?«

Oswald, dem es Vergnügen machte, sich so harmlos ausgefragt zu sehen, und dem die Art der alten Frau wohl gefiel, setzte sich, da es ihn eben nicht drängte, in die Kirche zu kommen, der Matrone gegenüber, die ihn, die runzligen Hände auf die Knie gestemmt, aus ihren tiefgesunkenen, immer aber noch ausdrucksvollen Augen forschend ansah, auf den Stamm einer umgefallenen Weide und sagte: »Aus Grenwitz, Mütterchen.«

»Aus Grenwitz? Sieh einmal! Da bin ich auch her. Mit Verlaub, Sie sind wohl zum Besuch auf dem Schlosse?«

»Nicht so eigentlich; ich bin der Hauslehrer der Knaben.«

»Das ist wohl nicht möglich?«

»Warum?«

»Nun, die Herren Kandidaten sehen sonst ganz anders aus.«

Oswald lachte.

»Und Sie kommen den weiten Weg ganz allein, Mütterchen?«

»Ich hab keinen Menschen, der mit mir gehen könnte. Mein Mann ist längst tot, und meine Jungens sind tot und meine Dirnens sind tot – alles tot.«

Die alte Frau strich sich die Falten ihres Rockes über den Knien glatt, als wollte sie sagen: Alle eingescharrt, und die Erde glatt drüber gedeckt, keine Spur mehr von ihnen.

Oswald jammerte das einsame, hilflose Alter der Frau. Er sagte, um doch etwas zu sagen, wovon er glaubte, daß es der einfältigen Seele tröstlich sein könnte:

»In jenem Leben werden Sie alle Ihre Lieben wiederfinden.«

»In jenem Leben?« sagte die Alte und blickte zum blauen Himmel hinauf. »Daran glaube ich nicht.«

»Wie? Daran glauben Sie nicht?« fragte Oswald verwundert.

Die Alte schüttelte den Kopf.

»Sie sind noch jung, Herr – wie war Ihr Name? Stein – ja – Sie sind noch jung, Herr Stein; wenn Sie erst so viele Menschen haben sterben sehen wie ich, glauben Sie auch nicht mehr daran. Wenn ein Mensch gestorben ist, dann ist er richtig tot – richtig tot. Und dann, wo sollten wohl all die Menschen hin bei der Auferstehung, wie sie es nennen? In unserm Dorfe lebt kein einziger mehr von allen, mit denen ich jung gewesen bin. Und die anderen, die nach mir geboren sind, sind alt geworden und auch gestorben. Und so kommen immer neue und immer neue. Nein, auf der ganzen weiten Welt wäre kein Platz für all die Menschen!«

»Aber vielleicht auf anderen Sternen?« warf Oswald ein.

»Wie sollen sie dort hinkommen? Nein, von der Erde kommt keiner, aber unter die Erde kommen alle – alle«, und die alte Frau strich die Falten ihres Rockes wieder über den Knien glatt.

»Die Körper wohl, aber die Seelen –«

»Na, ich weiß nicht«, sagte die Matrone, den Kopf schüttelnd, »aber das weiß ich, daß wenn einer gestorben ist, er richtig tot ist, und wir sagen: nun hat die liebe Seele Ruhe. Und etwas Besseres als Ruhe kann sich auch keiner nicht wünschen, er mag ein Edelmann oder ein Bauersmann sein, jung oder alt.«

»Weshalb aber gehen Sie denn noch den weiten Weg in die Kirche, wenn Sie an nichts mehr glauben?« fragte Oswald.

»Wer sagt das?« sagte die Matrone fast entrüstet. »Ich glaube an Gott wie jeder Christenmensch; und rechtschaffen und fromm muß man sein, das hat mit der Auferstehung nichts zu schaffen; und seine Pflicht muß man tun, das versteht sich von selbst. Und nun, junger Herr, machen Sie, daß Sie fortkommen, es wird sonst gar zu spät. Ich will nur wieder umkehren. Adjes!« Damit stand sie auf, ergriff einen Eichenstock, der neben ihr an dem Stein gelehnt hatte, streckte Oswald die welke, zitternde Hand hin, die dieser nicht ohne ein Gefühl der Ehrfurcht drückte, und begann den Weg, den sie gekommen, langsam zurückzuwandern.

Das ist eine merkwürdige Frau, sprach der junge Mann bei sich, während er rascher weiterschritt; ich muß mich näher nach ihr erkundigen. Wer hätte geglaubt, daß die Sätze der Philosophen vom neuesten Schlage, Sätze, die freilich nur uralte Münzen mit etwas anderem Gepräge sind, selbst in diesen Schichten des Volkes kursieren. Nun, nun, wenn selbst die Einfältigen und Friedfertigen anfangen, sich zu besinnen, daß sie Augen zum Sehen und Ohren zum Hören haben, so ist ja wohl der letzte Tag der Dunkelmänner gekommen.


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