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Neunundvierzigstes Kapitel

»So! Aus der Verlegenheit wären wir glücklich!« sagte Albert, ein Paket Wertpapiere in eine voluminöse, abgetragene Brieftasche stopfend, die unter andern auch verschiedene Schreiben in kaufmännischer Hand enthielt, die, obgleich die meisten darunter von nicht ganz neuem Datum, noch immer nicht beantwortet waren. »Es ist doch alles in allem ein gutes kleines Frauenzimmer; nicht übermäßig gescheit – aber das ist in diesem Falle nur eine Tugend mehr. Ich glaube wirklich, ich könnte meine Natur so weit verleugnen, die kleine Samariterin zu heiraten. Vielleicht führe ich gar nicht so schlecht dabei. Wer weiß? Am Ende steckt noch irgendwo in einem verborgenen Winkel meines Innern der Keim zu einem soliden Spießbürger, der nur der Wärme des häuslichen Herdes bedarf, um sich glorreich zu entwickeln. Die Sache ist freilich, wie ich mich kenne, äußerst problematisch, aber so ganz und gar unmöglich ist sie denn doch nicht. Ich sehe mich schon im Geiste an der Seite der kleinen Frau des sonntags nachmittags ehrsam durch die Felder wandern, das Lied der Spatzen und die Philippiken der treuen Ehehälfte gegen die steigende Unverschämtheit der Bäcker und Fleischer mit langen Ohren einsaugend, während vor uns her zwei junge Weltbürger watscheln, die eine flüchtige Ähnlichkeit mit einer mir sehr werten Person haben, und hinter uns aus einem, von einem Mädchen für alles gezogenen Wägelchen ein feines Stimmchen erschallt, das den beredtesten Kommentar zu den staatsökonomischen Abhandlungen der kleinen Frau liefert.«

Albert stöhnte, als ob er sich auf dieser imaginären Promenade den Fuß an einen sehr reellen Stein gestoßen hätte. Er sprang von dem Sofa auf und ging, die Arme auf dem Rüchen, nachdenklich im Zimmer auf und ab. »Die Karten sind fertig«, sagte er, vor seinem Zeichentische stehenbleibend, »Anna-Maria hat mich abgelohnt; ich habe eigentlich hier nichts mehr zu tun, und die Frage der gnädigen Frau, wann ich abzureisen gedächte, war auch ziemlich deutlich. Wie ich diese stolze nichtsnutzige Brut hasse – alle, keinen und keine ausgenommen, nicht einmal die schöne hochnäsige Helene, die mich immer mit so kühler Verachtung aus ihren großen Augen ansieht; und am wenigsten meinen edlen Freund Felix, der, glaube ich, nicht übel Lust hätte, mir Hörner aufzusetzen, ehe ich noch zu diesem Schmuck ein legitimes Recht habe. Könnte ich doch euch allen, wie ihr da seid, einen recht gründlichen Schabernack spielen, daß ihr euer Leben lang an mich denken solltet! Euch zum Beispiel den Erben von Stantow und Bärwalde in der Person – ja, in welcher Person? Hic haeret aqua.

Aus den Briefen, die ich habe, ist wohl etwas, aber nicht viel zu machen. Ich kann noch nicht einmal die vortreffliche Anna-Maria damit ins Bockshorn jagen. Fände ich nur Gelegenheit, den Koffer der alten Mutter Clausen durchzustöbern! Es ist bei mir zur fixen Idee geworden, daß da etwas zu finden sein muß. Aber vergebens, daß ich die Gelegenheit gründlich studiert habe, daß ich Tag und Nacht ums Haus geschlichen bin, einen Moment abzuwarten, ob die Alte sich einmal daraus entfernt; sie sitzt darin fest wie eine Kröte unter dem Stein. – Ad vocem dieses liebenswürdigen Jünglings! Ich habe schon daran gedacht, ob man ihn nicht nolens volens zum Prätendenten machen könnte; denn die ganze Farce als einen lustigen und nebenbei lukrativen Maskenscherz anzusehen, wird ihm wohl seine dumme Ehrlichkeit nicht erlauben. Es ist merkwürdig, wie ehrlich die Leute sind, denen es an nichts fehlt! Und dieser Stein ist gar nicht einmal so glücklich situiert. Er hatte kein Vermögen – warum sollte er sich sonst mit anderer Leute Kindern plagen? Er wäre gerade der Mann, ein anständiges Vermögen durchzubringen. Und es paßt soweit alles. Er hat genau das erforderliche Alter; er hat, wie er mir gesagt hat, seine Mutter kaum und andere Verwandte, excepto patre, nie gekannt. Und überdies hat er eine zufällige, aber frappante Ähnlichkeit mit der älteren Grenwitzer Linie. Ich wollte, ich wäre er, das heißt mit meinem Hirn dazu. In welcher fragwürdigen Gestalt wollte ich bald vor euch hintreten!«

Ein schüchternes Klopfen an der Tür unterbrach Alberts Meditationen. Da auf sein Herein niemand eintrat, ging er selbst und öffnete. Ein kleiner, blondköpfiger, barfüßiger Bauernknabe stand da und schaute mit nicht allzu klugen Augen fragend zu ihm auf.

»Zu wem willst du, Kleiner?«

»Sind Sie der Kandidat auf dem Schlosse?«

»Jawohl!« sagte der allezeit zu Scherz und Kurzweil aufgelegte Albert.

»Mutter Clausen hat mich hergeschickt –«

»Wer?«

»Mutter Clausen hat mich hergeschickt –«

»Komm herein, Kleiner«, sagte Albert, den Knaben bei der Hand in das Zimmer führend, und die Tür hinter ihm schließend: »Was will denn Mutter Clausen von mir?«

»Mutter Clausen liegt auf den Tod, und hat mich hergeschickt zu dem Herrn Kandidaten, er soll doch noch einmal zu ihr kommen.«

Der Knabe atmete tief auf, als er die Bergeslast seiner Kommission vom Herzen hatte. Albert griff nach seiner Mütze.

»Ich komme gleich mit dir, oder lauf nur voran, und sag', ich käme gleich. Und höre! Wenn dich jemand im Schlosse fragt, woher du kommst, sag nur: Du hättest deine Bestellung schon ausgerichtet. Hier hast du einen Silbergroschen und nun mache, daß du fortkommst!«

Der Knabe entfernte sich, über Alberts großmütigem Geschenk Alberts wohlüberlegten Befehl, sich möglichst schnell davonzumachen, vergessend. Er setzte sich, unten auf dem Schloßhofe angekommen, auf den Rand des Brunnens der Najade und überlegte, den Groschen in der Hand herumdrehend, ob er sich jetzt gleich die ganze Welt, oder vorläufig nur den Stieglitz kaufen sollte, den ihm ein anderer Bauernknabe heute morgen angeboten hatte?

Er mochte wohl eine Viertelstunde da gesessen haben, bis er zuletzt, vom vielen Umherlaufen ermüdet, einnickte. So fand ihn Oswald, der von einem einsamen Spaziergange zurückkehrte. Da das Bild des auf dem Rande des Brunnens schlafenden zerlumpten Knaben ihn interessierte, trat er näher. Der Knabe fuhr in die Höhe und rieb sich verwundert die Augen.

»Wie kommst du hierher, Kleiner?« fragte Oswald.

»Mutter Clausen hat mich hergeschickt!« sagte jener, der in diesem Augenblicke nicht wußte, ob er seine Bestellung schon ausgerichtet hatte oder nicht.

»Was ist mit Mutter Clausen?« fragte Oswald, der sofort ahnte, es müßte seiner alten Freundin etwas zugestoßen sein.

»Mutter Clausen hat mich hergeschickt«, wiederholte der Knabe, »sie liegt auf den Tod und läßt dem Herrn Kandidaten sagen, er möchte –«

Mehr hörte Oswald nicht. – Die gute, alte Frau, an der er im Anfang so lebhaftes Interesse nahm und die er doch in der letzten Zeit so ganz vergessen hatte, im Sterben, vielleicht allein, ohne Hilfe, ohne daß ihr eine freundliche Hand das Kissen glättete – er eilte, was er konnte, durch das kleinere Tor auf dem Wege hin, der zu den Häuslerwohnungen führte, denselben Weg, welchen Albert eine Viertelstunde zuvor, mit nicht geringerer Eile zurückgelegt.

Albert war, als der Knabe sich entfernt hatte, durch den Garten nach dem kleinen Tor geschlichen. Niemand hatte ihn fortgehen sehen. Die Familie war ausgefahren; Oswald glaubte er auf seinem Zimmer.

Fortes fortuna iuvat; dachte er, während er unter den Weidenbäumen, mit denen der Weg besetzt war, hinlief. Es ist jetzt noch alles auf dem Felde. Die Alte hätte sich keine passendere Stunde zum Sterben aussuchen können. Ich will nur hoffen, daß sie schon tot ist, wenn ich komme, und ich so aller unnötigen Auseinandersetzungen überhoben bin.

In wenigen Minuten hatte er das Dorf erreicht; aber er vermied die Hauptstraße und lief lieber an den Gärtchen, die hinter den Hütten lagen, entlang, bis er zu der Wohnung Mutter Clausens kam. Hier sprang er über den niedrigen Zaun und trat durch die offene Hintertüre auf den kleinen Flur. Er horchte, ob sich etwas im Hause rege. Er hörte nichts als das Ticken der großen Schwarzwälderuhr aus der Stube Jochens, und von der Dorfstraße her das Lachen von ein paar Kindern – Mutter Clausens kleinen Pflegekindern – die sich in der Abendsonne im Sande balgten. »Jetzt nur um Himmels willen keine mitleidige Seele bei der Kranken in der Stube«, murmelte Albert, leise die Tür, die zu dem Stübchen der Alten führte, aufdrückend.

Er trat auf den Fußspitzen ein. Es dunkelte schon in dem niedrigen engen Raum. Alberts erster Blick fiel auf die große Lade, die noch wie damals in der Ecke stand; sein zweiter auf die Gestalt der Alten. Sie saß auf dem großen Lehnstuhle, »in dem Baron Oskar gestorben war«. Sie hatte ihren Sonntagsstaat angelegt; ihr Eichenstock lehnte neben ihr – man hätte glauben sollen, sie hätte sich bereitgemacht, nach Faschwitz in die Kirche zu gehen, und sei nur eben noch ein wenig eingenickt, sich auf den langen, langen Weg vorzubereiten.

»Bist du es, Junker!« sagte sie mit zitternder Stimme, und sie hob das Haupt mit dem schneeweißen Haar empor und blickte nach der Tür. »Tritt näher – ganz nahe, daß ich dich mit der Hand berühren kann. Wo bist du? Es ist dunkel um mich her, ich sehe dich nicht. Scheint nicht der Mond durch die Bäume? Hörst du, wie die Nachtigall singt? Horch! Wie süß, wie schön! Oskar, du darfst die Liese nicht verlassen; sie weint sich sonst die alten Augen aus. Und dem Harald mußt du sagen, daß er die arme Marie nicht so quält. Sonst muß sie hinaus in die wilde Nacht. Leb wohl, liebes Kind! Ja, ja, ich will alles verbrennen; es liegt sicher in der Lade. Mutter Clausen kann nicht lesen; es kommt der Rechte schon zur rechten Zeit.«

Der Kopf der Sterbenden sank herab auf die Brust. Albert glaubte sie tot. Er trat an die Lade, hob den schweren Deckel und durchwühlte hastig und doch methodisch genau den Inhalt. Es lagen Frauenkleider darin, die nicht der Mutter Clausen gehört haben konnten, städtische Kleider, wie sie junge Mädchen vor fünfundzwanzig Jahren trugen; verwelkte Blumensträuße, verblichene Bänder, ein paar einfache Schmucksachen: ein Band von roten Korallen, ein kleines goldenes Kreuz an einem schwarzen Sammetbande. Das alles mochte für einen andern von hohem Interesse sein, aber für Albert hatte es nicht das mindeste. Er wurde ungeduldig, als er, ein Stück nach dem andern herausnehmend, nichts von dem fand, was er suchte. Endlich – da! Auf dem Boden des Koffers, in der Ecke, unter einer schwarzseidenen Robe versteckt – ein ziemlich bedeutendes Paket – Briefe, Papiere – das war's! – Er ließ es in die Tasche seines Rockes gleiten; er nahm mit beiden Armen, was er aus dem Koffer genommen hatte, stopfte es hinein, so gut es gehen wollte, drückte den Deckel wieder zu – und, wie er sich jetzt von den Knien aufrichtete, waren das nicht Schritte, die eilig näher kamen? Im Nu war er an dem Fensterchen, das von der Stube aus in das Gärtchen hinter dem Hause führte. Er riß es auf, er zwängte sich mit einer Schnelligkeit hindurch, die dem gewandtesten Gauner zu hoher Ehre gereicht haben würde; kroch auf allen vieren durch die Johannisbeerbüsche. sprang über den niedrigen Zaun und war im nächsten Augenblick in den goldenen Wogen eines Roggenfeldes verschwunden.

Als Albert seinen Rückzug durch das Fenster eben bewerkstelligt hatte, trat Oswald, atemlos von seinem raschen Lauf, in das Zimmer. Er glaubte schon zu spät zu kommen, er kniete neben der Alten nieder und nahm ihre welken, erkalteten Hände in die seinen.

Und diese Berührung schien die Sterbende noch einmal zum Leben zu erwecken. Sie richtete sich gerade auf und sagte, dem vor ihr Knienden die Hände aufs Haupt legend, mit einer Stimme, die schon von jenseits des Grabens herüberzutönen schien: »Der Herr segne und behüte dich! Der Herr gebe dir Frieden!«

»Amen!« murmelte Oswald.

Die Hände der Alten glitten sanft auf ihren Schoß. Oswald blickte empor. Der Schein der untergehenden Sonne fiel durch das niedrige Fenster; das Antlitz der Alten war wie verklärt in dem rosigen Licht. Aber das rosige Licht verschwand; und der graue Abend schaute herein auf das bleiche Antlitz einer Toten.

Oswald drückte ihr die Augen zu. – Von drüben her schallte durch die offene Tür das monotone Ticktack der Wanduhr; von der Straße tönte das Lachen und Jauchzen der spielenden Kinder. »Was weiß das Leben vom Tode? Was der Tod vom Leben? Was die Ewigkeit von beiden?« murmelte Oswald, als er sich nach einigen Minuten von der Seite der Toten aufrichtete und die Tränen abwischte, die ihm heiß über die Wangen rollten.


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