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Es war an dem Abend desselben Tages, an welchem Helene von ihrem Schreibtische aus Oswald am Brunnen der Najade beobachtete, daß in einem Zimmer des »Kurhauses« in Fichtenau, berühmt durch Doktor Birkenhains große Heilanstalt für Geisteskranke, zwei Personen, eine Dame und ein Herr, in der Nähe der geöffneten Balkontür saßen. Es dämmerte bereits; Kurgäste kamen bestäubt von ihrer Nachmittags-Promenade zurück, von Zeit zu Zeit rollte eine elegante Kutsche vorüber, in der, vornehm in die schwellenden Kissen gedrückt, schön geschmückte Frauen saßen, Dann wurde es stiller auf der Straße; drüben über den Gärten schimmerte der Abendstern aus dem safranfarbenen Himmel. Die Dame in der Tür des Ballons hatte die Augen auf den Stern gerichtet, der Herr, der tiefer im Zimmer saß, die seinen auf das Antlitz der Dame. Die beiden hatten seit einer halben Stunde kaum ein Wort gesprochen; jetzt stand der Herr auf, trat nahe an den Stuhl der Dame und sagte leise:
»Ich will fort, Melitta!«
»Wann kommen Sie morgen wieder?«
»Ich komme morgen nicht wieder; ich will fort von Fichtenau, heute abend noch.«
Melitta stand auf und blickte, sich für einen Augenblick auf das Geländer des Balkons lehnend, in die schon dunkle Straße hinab. Dann trat sie wieder in das Zimmer zurück und sagte.
»Reisen Sie direkt nach Cona zurück?«
»Nein, ich will die Zeit, die mir noch bleibt, zu einer kleinen Reise benutzen; vielleicht komme ich wieder über Fichtenau.«
»So lassen Sie mir die Czika bis dahin; es soll ein Pfand sein, daß Sie hierher zurückkommen.«
»Wünschen Sie es, Melitta?«
»Sie sind wieder einmal sehr gut gegen mich gewesen.«
»Also bloße Dankbarkeit?«
»Und – Freundschaft.«
»Leben Sie wohl, Melitta!«
»Reisen Sie glücklich, Oldenburg!«
Der Baron ging mit langsamen Schritten nach der Tür; dort angelangt, blieb er stehen, dann kam er noch einmal zurück und sagte:
»Haben Sie immer geglaubt, daß ich Ihr Freund sei, Melitta?«
»Ja.«
»Haben Sie je geglaubt, daß ich Sie liebe?«
Melitta schwieg.
»Nie? Zu keiner Zeit?« fragte der Baron mit dumpfer Stimme.
»Lassen Sie das Vergangene vergangen sein!«
»Nein, Melitta, lassen Sie uns davon sprechen. Ich finde ja eine Gelegenheit wie diese vielleicht nicht zum zweitenmal im Leben wieder; nein, nein! Denn das alte gute Verhältnis zwischen uns ist tot, seitdem ich unsinnig genug war, Ihnen zu zeigen, daß ich Sie liebte – und über diesen Schlund, der da zwischen uns aufklaffte, gibt es keine Brücke. Für den Augenblick hat uns die Not zusammengeführt, oder, wenn Sie lieber wollen: mein alter Aberglaube, ich müsse zu Ihnen eilen, an Ihrer Seite stehen, wo und wann Sie in Not, in Bedrängnis irgendwelcher Art sind; sobald ich aus diesem Zimmer gehe, sind wir uns wieder Fremde, Melitta, um unserer alten Freundschaft willen, bei der Erinnerung an die gemeinsam verlebte selige Jugendzeit, sagen Sie mir, haben Sie nie geglaubt, daß ich Sie liebe?«
»Ich weiß es nicht –«
»Das ist hart«, sagte der Baron leise, »das ist hart.« Er ließ sich auf einen Stuhl sinken, stützte den Arm auf die Lehne und verbarg sein Gesicht in der Hand.
»Und wenn ich nicht an Ihre Liebe glaubte«, sagte Melitta, »wer ist denn schuld daran? Wer hatte die Szene im Garten der Villa Serra di Falco arrangiert? Ich oder Sie?«
»Wie?« sagte der Baron, sich emporrichtend. »Sind Sie wirklich ein solcher Neuling in der Liebe, daß ich Ihnen in allem Ernst die Erklärung zu dieser Farce geben muß? Glauben Sie wirkliche daß ich – dem doch sonst so leicht nichts entgeht – Sie nicht schon länger hinter den Myrtengebüschen bemerkt hatte, ehe ich zu Hortenses Füßen sank, und die Sonne, obgleich sie untergegangen war, und der Mond, obgleich er nicht schien, und die Sterne, die es besser wußten, zu Zeugen meiner heißen Liebe anrief? Das hätten Sie auch nur einen Augenblick für Ernst gehalten?«
»Was war es denn?«
»Eine Allegorie. Ich wollte Ihnen zeigen: Sieh! dies bleibt mir übrig, wenn du meine Liebe verschmähst! Du zwingst mich, der ich immerdar vor einer Heiligen anbeten möchte, in den Armen einer Buhlerin Vergessenheit zu suchen. Melitta, Melitta, gestehe es! Du wußtest recht gut, daß dies eine Farce war, aber es war dir bequem, sie für Ernst zu nehmen. Du wolltest von mir befreit sein, selbst um den Preis – eines Mißverständnisses!«
»Und wenn dies mein Wille gewesen wäre? – Und ich will annehmen, es war mein Wille – Ist es nicht des Mannes Pflicht, den Willen einer Frau, noch dazu einer Frau, die er liebt, zu ehren?«
»Habe ich es nicht getan? Bin ich nicht noch in derselben Nacht auf ein Wort, ja auf einen Wink hin, abgereist, bin ich nicht drei lange Jahre wie Ahasver ruhelos durch alle Lande geirrt, und habe ich, als ich dann endlich zurückkehrte – zurückkehrte, weil mir eine Ahnung sagte, daß dir ein Unglück bevorstände – nicht jede Gelegenheit, mit dir zusammenzutreffen, sorgfältig vermieden? War es mein Wille, daß ich dich auf dem Balle in Barnewitz traf? Ist es mein Wunsch gewesen, der uns hier zusammenführte? Nein, Melitta, du kannst nicht über mich klagen. Ich habe meine Liebe zu dir lange, lange Jahre – denn ich liebe dich, seitdem ich denken kann, seitdem ich weiß, daß Nachtigallengesang und Sonnenschein und Wogenrauschen köstlich sind – tief versteckt im Herzen getragen; und wenn ich einen Augenblick töricht genug war, die Hoffnungslosigkeit dieser Leidenschaft zu vergessen, so habe ich diese Torheit schwer genug gebüßt. Wußte ich doch schon als Knabe, daß du dein Pferd und deinen Hund lieber hattest als mich; und doch zwang ich den schwer verletzten Stolz, und doch demütigte ich mich wieder und immer wieder vor dir; ich, der ich nie in meinem Leben eine Bitte über die Lippen bringen konnte!«
Der Baron war aufgesprungen und setzte seine ruhelose Wanderung durch das Zimmer eine Zeitlang schweigend fort, dann blieb er abermals vor Melitta stehen und sagte:
»Ich habe mich noch tiefer gedemütigt. Ich habe gesehen, daß das Weib, nach dem sich meine Seele sehnt wie der Gekreuzigte nach einem Labetrunk, von einem andern geliebt wird; habe gesehen, daß sie diesen andern wiederliebt mit jener Liebe, um die ich Gott auf meinen Knien tausend und tausendmal mit heißen Tränen gebeten habe – und habe nicht mit der Wimper gezuckt; ich habe der Schlange Eifersucht den Kopf zertreten – ja, und mehr! Ich habe redlich versucht, diesen Glücklichen nicht zu hassen, ich bin ihm entgegengekommen mit Gruß und Handschlag, ich habe mir sein Vertrauen, seine Liebe zu erwerben gesucht, nicht, um zum Verräter an ihm und an dir zu werden, sondern weil ich fühlte, daß mir dein Glück teurer war als alles, und daß der, den du liebtest, auch von mir geliebt werden oder von meiner Hand sterben müsse.«
»Sie sind fürchterlich, Oldenburg!« rief Melitta, sich halb vom Stuhle erhebend. »Soll denn nicht der geheimste Winkel meines Herzens vor Ihnen verborgen bleiben?«
»Ich bin nicht fürchterlich«, sagte der Baron, »ich bin nur unbequem; das ist das Recht des Freundes. Glaube nicht, daß ich mich auf krummen Wegen in dein Geheimnis gestohlen habe! Ich habe nur die Augen nicht geschlossen, das ist alles. Oder glaubst du, man lerne nicht zuletzt die leiseste Regung in einem Gesicht verstehen, das man stets im Wachen und ach, wie oft im Traume vor sich sieht? Und dann, wenn man die Hoffnung, je geliebt zu werden, aufgegeben hat, so will man wenigstens die Überzeugung haben, daß derjenige, dem dieses Glück zuteil wird, auch kein Unwürdiger ist.«
»Oldenburg!«
»Es ist kein Unwürdiger, aber – ich bin dein Freund, Melitta! Deiner würdig ist er nicht. Er hat viele große und schöne Eigenschaften, ich weiß es wohl; aber sein Charakter ist noch nicht im dreimal heiligen Feuer des Unglücks gestählt, und so weiß er auch das Glück noch nicht zu schätzen. Er hat eine unendliche Empfänglichkeit für alles, was schön und anmutig ist, und deshalb betet er dich an; aber, weil er seiner Natur nach eben für alles empfänglich ist, wird es ihm unendlich schwer, nicht über dem Anmutigeren und Schöneren das Schöne und Anmutige zu vergessen; das heißt: treu zu sein. Er ist ein Dichter, und des Dichters Liebe ist das Ideal. Er wird das köstlichste Gefäß beiseite schieben, weil sein feines Auge doch irgendwo einen Flecken daran bemerkt hat; er wird alles, was ihm die Erde bietet, gierig ergreifen und verächtlich wieder fortwerfen, weil es eben irdisch, weil es, und wäre es noch so himmlisch, doch immer mit einem Erdenrest behaftet ist.«
»Sie sagen mir nichts, Oldenburg, was ich mir nicht schon hundert und tausendmal selbst gesagt hätte.«
»Ich weiß es. Die Beurteilung solcher Naturen kann Ihnen nicht schwer werden, denn auch Sie sind diesem Dämon untertan. Aber Sie sind ein Weib, und über euch hat der Dämon nicht wie über uns unbedingte Gewalt. Ihr, und wenn ihr euch auch noch so sehr sträubt, laßt euch zuletzt doch in der Liebe Fesseln schlagen und seid stolz auf diese Fesseln; der Mann, und wenn er im Anfang noch so sehr mit dem neuen Schmucke prunkt, schleudert ihn zuletzt doch von sich. Und so wird es geschehen.«
»Nein, nein!«
»Ja, Melitta; es wird geschehen, und das ist das Unglück, das ich über deinem teuren Haupte wie eine finstre Wetterwolke schweben sah. Glaube es mir, der Schlag wird über kurz oder lang auf dich niederschmettern, und wenn du dann zerschmettert am Boden liegst und nicht mehr leben magst und doch nicht sterben kannst – dann, Melitta, dann vielleicht wirst du die Qualen begreifen, die ich erduldet; dann wirst du mir im Herzen das Unrecht abbitten, das du mir getan! Wollte Gott, du kämest nie zu dieser Erkenntnis! Der Preis ist ungeheuer, aber du wirst ihn bezahlen müssen. Leb wohl, Melitta! Verzeihe, daß ich dir weh getan habe; es wird nicht wieder geschehen. Es ist das erste, und es ist das letzte Mal, daß ich so zu dir geredet. Leb wohl, Melitta!«
Melitta hatte das Gesicht in die Hände gedrückt; bei der Dämmerung, die in dem Gemache herrschte, waren nur noch eben die Umrisse ihrer Gestalt zu erkennen. – Sie wollte oder konnte nicht antworten.
»Gott segne dich, Melitta!« sagte der Baron, und die Stimme des stolzen Mannes klang weich und mild wie eines Vaters Stimme.
Als Melitta die Tür sich hinter ihm schließen hörte, sprang sie von dem Stuhle auf und tat rasch einige Schritte, als wollte sie ihn zurückrufen. Aber mitten im Zimmer blieb sie wieder stehen.
»Nein, nein!« murmelte sie. »Es ist besser so, ich darf ihm keinen Schimmer von Hoffnung lassen.«
Sie ging langsam zu ihrem Stuhl zurück. Sie setzte sich wieder, sie bedeckte das Gesicht wieder mit den Händen. Und nun brachen die lange zurückgehaltenen Tränen in Strömen aus ihren Augen. »Ich weiß es ja, daß es so kommen wird«, murmelte sie, »aber weshalb den kurzen Traum des Glücks so grausam stören.«