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Sechsunddreißigstes Kapitel

Während der acht Tage, die seit der Abreise der Familie verflossen waren, hatte Oswald in der Einsamkeit des Fischerdorfes Sassitz, von allem Verkehr mit der Welt abgeschlossen, gelebt. Wie er nach Sassitz gekommen war, wußte er selbst kaum.

Seit ihm Melitta so plötzlich geraubt war, hatte ihn eine grenzenlose Gleichgültigkeit gegen alles ergriffen, was nicht in irgendeiner Beziehung zu ihr stand, die jetzt seine ganze Seele erfüllte. In dieser Apathie hatte er sich selbst von Bruno ohne Schmerz getrennt. Auf die Wünsche der Baronin ging er um so bereitwilliger ein, als er sich in seiner augenblicklichen Stimmung nach Einsamkeit sehnte wie ein Kranker nach Ruhe. So sagte er denn zu allem ja, und als er den Wagen, der die Familie entführte, sich in Bewegung setzen sah, fiel es ihm wie eine schwere Last vom Herzen. Er wünschte den Zurückbleibenden, Herrn Timm und Mademoiselle, flüchtig Lebewohl und wanderte, ein leichtes Ränzel, das noch aus seiner Studentenzeit stammte, auf dem Rücken, zum andern Tore hinaus, wie der Held eines Märchens, ohne eine Ahnung davon zu haben, wohin er seine Schritte lenken sollte und wo er heute Nacht sein Haupt zur Ruhe legen würde.

Die Sonne brannte heiß; es fiel ihm ein, daß es im Walde frisch und kühl sein müsse. So bog er denn rechts vom Wege ab und bald rauschten über ihm die Tannen des Forstes, der halb zu Grenwitz und halb zu Berkow gehörte. Das Rauschen der hohen Bäume lullte ihn in süße Träume. Träumend wanderte er weiter, bis er plötzlich auf die Lichtung heraustrat, wo in dem Schutze der vielhundertjährigen, breitastigen Buche Melittas Kapelle lag.

Die Tür des Häuschens war verschlossen, die grünen Jalousien vor den Fenstern waren heruntergelassen, die Treppe und die Veranda waren sorgsam gefegt, wie es die strenge Ordnungsliebe des alten Baumann erheischte, der jetzt das Regiment in Berkow führte. Oswald setzte sich auf die Stufen der Treppe und stützte den Kopf in die Hand. So saß er in Nachdenken versunken, während in den Zweigen der Buche über ihm ein Waldvögelein sein eintöniges Lied mit dem stets gleichen melancholischen Refrain ertönen ließ. Wie einsam er sich fühlte – wie einsam und wie verlassen! Dem Kinde gleich, das auf weitem ödem Moore den Weg zum Hause der lieben Eltern verloren hat. Hier an dieser selben Stelle hatte er in der Nacht vor der Gesellschaft in Barnewitz mit Melitta gesessen – sie hatte den Kopf an seine Brust gelehnt gehabt, und süßeste, köstlichste Worte der Liebe hatte ihr Mund geflüstert. Jetzt war es still, so still um ihn her. Sehnsüchtige Gedanken an die Entfernte glitten durch seine Seele wie Vögel, die den Süden suchen, durch den weiten Himmelsraum.

Ein Sonnenstrahl, der heiß und stechend durch das Laubdach auf ihn fiel, mahnte ihn, daß es Zeit sei, aufzubrechen. Eile hatte er freilich nicht, es war noch früh am Nachmittage, und irgendeinen, gleichviel welchen Ort, wo er sein Quartier für die Nacht aufschlagen konnte, mußte er immer noch erreichen. So schlenderte er durch den Wald auf einem Wege hin, den er noch nie betreten hatte und der ihn, ehe er sich's versah, an den Strand des Meeres führte. Nun wanderte er am Strande fort, bald auf der Höhe des Ufers, wenn die See, wie es häufig geschah, unmittelbar den Fuß der Kreidefelsen bespülte, bald auf dem festen körnigen Sande des schmalen Vorstrandes. Hier und da hatte einer der kurzen wasserreichen Bäche, die aus dem Innern der Insel dem Meere zueilen, das Ufer durchbrochen und eine Schlucht gehöhlt, die mit einer fast südlich üppigen Vegetation bedeckt war. Aber mit Ausnahme dieser wenigen grünen Oasen zeigte sich dem Auge nichts als kahler Fels, nackter Sand, das eintönige blaue Meer, auf dem hier und da ein weißes Segel schwamm, und der eintönige blaue Himmel, an dem hier und da eine weiße Sommerwolke unbeweglich stand. Und zu diesem eintönigen Bilde die einförmige Musik der brandenden Wellen und dann und wann der grelle Schrei der Möwe oder das melancholische Pfeifen der kleinen Strandläufer.

Die Monotonie dieser Linien, dieser Farben, dieser Töne wäre für ein glückliches, lebensfrohes Gemüt unerträglich gewesen, aber sie paßte wunderbar zu Oswalds Seelenzustand. Seine Schwermut harmonierte mit dieser tiefernsten Natur, die von Glück und Freude nichts zu wissen schien, desto mehr aber von dem Jammer und der Qual des Lebens. Klang der grelle Schrei, das schrille Pfeifen der Meeresvögel nicht wie Klaggesang? War es nicht, als ob das Meer in den Wellen, die sich in monotonen Kadenzen unaufhörlich am Strande brachen, das verworrene Rätsel der Existenz wie im halben Wahnsinn vor sich hinmurmelte? Und sein eigenes Leben kam ihm so ziel- und zwecklos vor wie dies sein Umherirren zwischen den Uferklippen. Glich es nicht seinem Fußtritte auf dem harten Sande, wo die nächste Welle schon die leichte Spur gänzlich verwischte? Warum geboren werden, anderen und sich selbst Schmerzen und Sorgen ohne Zahl bereiten, wenn alles doch zu nichts führt, wenn die Vergangenheit sich hinter uns auftürmt wie das steile unersteigliche Ufer, die Zukunft uns angähnt wie das öde wüste Meer und die Gegenwart ein schmaler Strand ist, den die unbarmherzig glühende Sonne nur deshalb so grell zu erleuchten scheint, ihn in seiner ganzen trostlos dürftigen Nacktheit zu zeigen? Und wenn wirklich einmal das Glück uns zu lächeln scheint, so scheint es eben nur; so ist es eben nur eine trügerische Spiegelung, die eine schadenfrohe Fee aus dem unwohnlichen, tückischen Meere aufsteigen läßt, damit sie in dem Augenblicke versinkt, wo wir das palmengeschmückte, palastumsäumte Ufer zu berühren glauben.

Ein Dörfchen, dem sich Oswald mit raschen Schritten näherte, lag in dem innersten Winkel einer tiefen, von mäßig hohen Uferfelsen umschlossenen Bucht, wo das Wasser so still und glatt war wie in einem Gartenteich. Einige der Hütten lagen hart am Strande, andere waren an den Ufern eines Baches, der sich an dieser Stelle ins Meer ergoß, in der tiefen breiten Schlucht erbaut, die er sich gewühlt hatte. Vor den Türen waren kleine mit Muscheln eingefaßte Gärtchen; auf den mit weißem Sande ausgefüllten Gängen zwischen den Häusern hingen Netze zum Trocknen an langen Stangen; ein paar rothaarige Buben waren eifrigst mit Anteeren eines umgestülpten Bootes beschäftigt; vor einer der größeren Hütten saßen ein paar Frauen, Netze flickend.

Oswald näherte sich den Frauen, die, als sie seinen Schritt vernahmen, neugierig von ihrer Arbeit aufsahen, und fragte sie begrüßend, ob es ihm verstattet sei, sich hier etwas auszuruhen, und ob er einen Trunk Wasser und ein Stück Brot haben könne.

»Stine«, sagte die ältere von den drei Frauen, eine Matrone von stattlichem Umfang und einem überaus gutmütigen, wettergebräunten Gesicht, zu einem der beiden jungen Mädchen an ihrer Seite, »steh auf und laß den Herrn sitzen. Siehst du nicht, daß er müde und ausgehungert ist? Geh ins Haus, und bring, was wir haben. Setzen Sie sich, junger Herr. Sie sind gewiß auch ein Maler?«

»Warum meinen Sie das?« fragte Oswald, den angebotenen Platz annehmend.

»Nun, ein vernünftiger Mensch klettert nicht bei der Hitze am Strande herum; nichts für ungut, Herr Maler. Ich hab schon einen von Ihren Kameraden bei mir wohnen gehabt, der zwei Wochen hiergeblieben ist; und wenn Sie ein ebenso ordentlicher, ehrlicher Mensch sind, so können Sie auch bei Mutter Karsten wohnen; aber die Wände dürfen Sie nicht vollkritzeln, das sage ich Ihnen gleich im voraus.«

Oswald mußte lächeln, als er so ohne Umstände zu einem auf einer Studienreise begriffenen Landschafter gemacht wurde. Wie, wenn er sich die harmlose Rolle, die ihm aufgenötigt wurde, gefallen ließ? Es war ihm ja so gleichgültig, wo er blieb – alles, was er wollte, war Einsamkeit – und konnte er eine tiefere Einsamkeit finden, als hier in dieser stillen Bucht unter diesen gutmütigen, kindlichen Menschen, die nichts dagegen haben würden, wenn er halbe Tage lang zwischen den Felsen des Strandes umherirrte? Und dann war er doch hier in der Nähe von Berkow, von dem er sich nicht allzuweit entfernen durfte. Er hatte mit Melitta verabredet, daß, im Fall sich ihre Abwesenheit in die Länge zöge, der alte Baumann, der in Berkow zurückgeblieben war, die Korrespondenz zwischen ihnen übermitteln sollte.

»So wollen Sie mich ein paar Tage hierbehalten?« fragte er.

»Ja, aber die Wände dürfen Sie nicht vollkritzeln«, sagte Mutter Karsten.

»Das verspreche ich«, sagte Oswald lächelnd.

»Dann können Sie bleiben, solange Sie wollen. Das ist recht, Stine, rücke den Tisch näher an den Herrn; und, hörst du, hol auch von dem alten Kognak, den der Clas Jochen aus England mitgebracht hat, das bloße Wasser tut nicht gut bei der unvernünftigen Hitze.«

 

Oswald war beinahe schon acht Tage in Sassitz, und er bereute keinen Augenblick, der Einladung Mutter Karstens gefolgt zu sein. Er stand in sehr großer Gunst bei Mutter Karsten. Er hatte stets ein freundliches Wort für jeden, selbst für den steinalten, halb blödsinnigen Vater von Mutter Karsten, der den ganzen Tag in seinem Lehnstuhle in der Sonne saß und unverwandt auf das Meer hinausstarrte, wenn ihm nicht, was freilich oft geschah, die alten noch immer scharfen Augen vor Müdigkeit zufielen. Mutter Karsten erklärte, daß Oswald ein ebenso »ordentlicher, ehrlicher« Mensch sei wie sein Vorgänger, daß es aber bei ihm hier (mit einer bezeichnenden Bewegung des Fingers nach der Stirn) noch weniger richtig sei als bei jenem. Was Mutter Karsten zu diesem Ausspruch veranlaßte, war der allerdings verdächtige Umstand, daß der junge Mensch, welcher doch nun einmal verrückt genug war, eine in ihren Augen so überflüssige Hantierung zu treiben, nicht nur nicht die wieder übertünchten Wände seiner Schlafkammer mit Kohleskizzen von Schiffen unter vollem Segel, einsamen Klippen, über denen Möwen flatterten, und originellen Matrosengesichtern bedeckte wie sein Vorgänger weiland, sondern überhaupt gar nicht zeichnete und malte, sondern den lieben langen Tag nichts tat, als am Strande umherlaufen oder auf einem der kleinen Ruderboote mutterseelenallein so weit aufs Meer hinausfahren, daß man ihn vom Strande aus kaum noch sehen konnte. Wie und womit er sich auf diesen stundenlangen Spaziergängen und Fahrten die Zeit vertrieb, war Mutter Karsten ein unergründliches Rätsel, würde selbst dann für sie noch immer ein Rätsel gewesen sein, wenn sie gesehen hätte, daß Oswald, sobald er sich allein wußte, einen Brief, den ihm vor ein paar Tagen ein alter, sonderbar aussehender Mann gebracht hatte, aus der Tasche nahm und ihn wieder und immer wieder studierte, als ob er ihn nicht schon längst Buchstab für Buchstab und Zeichen für Zeichen auswendig gewußt hätte. Der sonderbar aussehende alte Mann, der »so ein hochbeiniges, langhalsiges Pferd ritt, wie sie der Clas Jochen in England gesehen hatte«, war nämlich niemand anders gewesen als der alte Baumann auf dem Brownlock. Oswald hatte ihm gleich am nächsten Tage nach seiner Ankunft in Sassitz mitgeteilt, daß er sich entschlossen habe, bis auf weiteres hierzubleiben (auch nach Grenwitz hatte er dieselbe Botschaft geschickt, mit der Bitte, ihm etwa ankommende Briefe nachzusenden), und einen Tag später konnte die treue Seele schon einen Brief der vielgeliebten Herrin in Oswalds Hände legen. Es waren wenige Worte nur, auf der Reise in einer Stadt Mitteldeutschlands kurz vor dem Schlafengehen in einem Hotel geschrieben – wenige Worte, verwirrt und traurig, aber süß und köstlich, wie Küsse von geliebten Lippen in dem Augenblicke der Trennung. Er hatte Baumann seine Antwort mitgegeben und erwartete nun täglich einen zweiten, ausführlicheren Brief mit einer Ungeduld, die keineswegs eine freudige war.

Er hatte an sich selbst die schlimme Entdeckung machen müssen, wie tief verborgen der Verrat in einem Herzen lauert, das sich bis in seine geheimsten Tiefen ganz von Liebe erfüllt glaubt. Zwar hatte er sich über die Szene in der Fensternische auf dem Balle in Barnewitz mit der Entschuldigung zu trösten gesucht, ich war außer mir; ich wußte nicht was ich tat; aber kann Eifersucht eine Entschuldigung für Treulosigkeit sein? Und dann: war diese Eifersucht denn nun wenigstens tot? War sie nicht, als er Melittas Bild in dem Zimmer des Barons hinter dem Vorhang entdeckte, in hellen Flammen aufgeschlagen? Hatte er nicht der Erzählung Melittas mit atemloser Spannung gelauscht, immer fürchtend, daß jetzt – jetzt ein Umstand erwähnt werden möchte, der seinen Verdacht, daß sie den merkwürdigen Mann dennoch – vielleicht ohne es selbst zu wissen – geliebt habe, bestätigen würde? Hatte sie nicht gesagt: Ich glaubte ihn zu lieben? – Und nun gerade in dem Augenblicke, wo die Erzählung bis zu dieser Katastrophe gekommen war, die alles und auch die Feindschaft, die jetzt offenbar zwischen ihr und dem Baron herrschte, erklären mußte – wird ihr eine Botschaft gebracht, so sonderbarer, so unheimlicher Art, so ganz geeignet, Oswalds ohnedies schon verstörtes Gemüt ganz und gar zu verwirren! Nicht genug, daß ihm in Baron Oldenburg ein Nebenbuhler, den zu verachten unmöglich war, in Fleisch und Blut gegenüberstand – hier kommt ein Gemahl, das Gespenst eines Gemahls, aus einer sieben Jahre langen Wahnsinnsnacht emporgetaucht und winkt sie zu sich an sein Sterbebett – sie, seine Geliebte, seine Melitta – – Oswald fühlte, daß er selbst wahnsinnig werden würde, wollte er diesen Gedanken zu Ende denken. Er hatte es so ganz und gar vergessen, daß Melitta jemals vermählt gewesen war, daß sie jemals in den Armen eines anderen Mannes, gleichviel, ob sie ihn geliebt – und um so gräßlicher, wenn sie ihn nicht geliebt – geruht, daß sie jemals die Liebkosungen eines andern Mannes entgegengenommen hatte – er zerknitterte den Brief Melittas, er hätte laut aufschreien mögen vor wildem Schmerz, er hätte sein Haupt an den Felsblöcken zerschellen mögen. Warum dieses Gift in den köstlichen Trank seiner Liebe? Warum mußte das leuchtende Gewand seines Engels in dem Schmutz des Lebens schleifen? Warum mußte die duftige Blüte vom schnöden Wurm benagt werden? – Und wäre sie denn nur jetzt wenigstens frei – aber sie ist es nicht –, selbst dann nicht, wenn jenes Gespenst aus der Nacht des Wahnsinns in die Nacht des Todes sinkt. Sie ist die Mutter ihres Kindes – seines Kindes, und diese Rücksicht, die sie jetzt für einen Augenblick vergessen hat, wird in den Vordergrund treten, und mich wird sie aufgeben – aufgeben müssen. Und wozu soll es auch führen? Solange dies heimliche Verhältnis dauert, das ein tückischer Zufall seines Geheimnisses berauben kann, steht ihr guter Ruf auf eines Messers Schneide – und kann aus diesem Verhältnisse jemals ein anderes werden? Kann ich, der pfenniglose Abenteurer, der Freiheitsschwärmer, jemals daran denken, die reiche Aristokratin zu heiraten, daran denken, mich in die Gesellschaft der verhaßten Menschen zu drängen, die den Parvenu stets über die Achsel ansehen würden? Nie! Nie! Lieber leben wie die armen Fischer, die täglich mit Gefahr des Lebens dem grausamen Meer den kärglichen Unterhalt abringen müssen! So irrte Oswalds Geist in einem Labyrinth von schmerzlichen Zweifeln ruhelos umher, wie er selbst zwischen den Uferklippen auf dem öden Strande ruhelos umherirrte, als plötzlich ein Ereignis eintrat, das ihn sehr gegen seine Vermutung und seinen Wunsch zwang, in die Gesellschaft, die er jetzt so gründlich haßte, zurückzukehren.


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