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Vierzigstes Kapitel

Oswald konnte es sich nicht versagen, noch ein wenig im Garten zu promenieren, als er am nächsten Morgen aus dem Wald zurückkehrte, wo Baumann den Brief entgegengenommen hatte. Er wollte eigentlich nur einige Minuten bleiben, nur eben einmal auf dem Wall die Runde um den Garten machen; aber er hatte die Promenade nun schon zweimal vom großen Tor bis wieder zum großen Tor gemacht – und begann sie eben zum dritten Male, denn der Morgen war allerdings köstlich, und, wenn ihn seine Augen nicht täuschten, so schimmerte durch die Büsche und Bäume auf der andern Seite ein helles Gewand. Ohne Zweifel eines der Mädchen aus dem Dorfe, die im Garten arbeiteten. Wie erstaunt war er deshalb, als er bald darauf in der ihm Begegnenden Fräulein Helene erkannte. An ein Ausweichen war nicht zu denken. Es führten von dem Wall nur sehr wenige schmale Treppen in den Garten hinab. So blieb ihm freilich nichts übrig, als, die Hände auf dem Rücken, und die Vögel, die über ihm durch die Zweige flatterten und die Enten auf dem Graben mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtend, langsam weiterzuschlendern, und ein ganz klein wenig überrascht zu sein, Fräulein Helene genau um dieselbe Zeit und an derselben Stelle wie gestern zu begegnen.

Fräulein Helene erwiderte seinen Gruß mit jener vornehmen Ruhe, die dem etwas düstern Charakter ihrer Schönheit so gut stand, obgleich sie für ein Mädchen von diesem jugendlichen Alter fast zu kalt und vornehm schien. Und doch wäre ihr Gruß nicht ganz so förmlich gewesen, wenn Oswald selbst nicht jede Spur einer freudigen Erregung geflissentlich unterdrückt hätte. Eine kurze, nichts weniger als geistreiche Unterhaltung über das Wetter, ein paar gleichgültige Fragen Oswalds über den Spaziergang von gestern abend und ein paar kurze Antworten Helenes folgten. Darauf abermalige höflich kühle Begrüßung von beiden Seiten. Fräulein Helene setzte ihren Spaziergang fort, Oswald hatte seine Promenade, die er »regelmäßig zwischen sechs und sieben auf dem Walle mache« – eine Angabe, die mit der Wahrheit nicht besonders genau übereinstimmte – beendet und begab sich auf sein Zimmer. Schade, daß diese prächtige Schönheit doch nur die Hülle einer ziemlich alltäglichen Psyche zu sein scheint, sprach er bei sich. Was Professor Berger wohl sagen würde, wenn er seine liebliche Knospe jetzt zu einer dunkelroten Rose entfaltet sähe? Ob er wieder einen Sonettenkranz flechten und auf das üppige Haar drücken würde? Edler Berger, war es ein Stück des guten oder bösen Engels, die sich ewig in deiner großen Seele bekämpfen, daß du mich hierher ins Lager unserer Feinde schicktest? Ich sollte dir viel ruhmreiche Trophäen zurückbringen, Skalps erschlagener Irokesen, die wir in unserem Wigwam aufhängen wollten, um unsere Freude daran zu haben – wie würdest du erstaunen, wenn du hörtest, wie oft schon dein Unkas nur mit genauer Not dem Skalpiertwerden entgangen ist! Aber das eine Versprechen will ich halten: Ich werde mich nicht in diese frühbesungene Schönheit verlieben – nein, und wenn sie ebenso geistreich wäre, wie sie schön ist.

Als Oswald zur Mittagstafel nach unten kam, wurde er aufs angenehmste durch die Gegenwart des Doktor Braun überrascht, der vor einigen Minuten angelangt war und die Einladung der Baronin, zu Mittag auf dem Schlosse zu bleiben, angenommen hatte.

Der Doktor erwies sich in dem größeren Kreise als ein ebenso bequem geselliger, feingebildeter Mann, wie ihn Oswald bis dahin gekannt hatte; ja, dieser hatte jetzt noch mehr Gelegenheit, die ausgezeichnete Unterhaltungsgabe und die sichere Haltung des jungen Arztes zu bewundern. Und was ihn noch mehr für Doktor Braun einnahm, war, daß jener sich seiner Vorzüge nicht bewußt zu sein schien. Nichts lag ihm offenbar ferner als ein Geltendmachen seiner Person; im Gegenteil, es schien ihm nur darum zu tun, andere zur Entwicklung ihrer Ansicht zu bringen; und so zeigte er sich als ein ebenso geduldiger und guter Zuhörer wie gewandter Sprecher.

Oswald sah mit einigem Erstaunen, daß, wenn der Doktor irgend jemand in der Gesellschaft auszeichnete, es nur Fräulein Helene sein konnte, und mit nicht minder großer Verwunderung, daß die junge Dame dem Doktor gegenüber einen Teil ihrer vornehmen Kälte ablegte. Sie hatten schon vor Tische eine Sonate à quatre mains gespielt; sodann hatte Helene einige Lieder gesungen, die ihr der Doktor begleitete. Bei Tische saßen sie nebeneinander und unterhielten sich lebhaft über die verschiedenen Stile in der Musik, wobei der Doktor eine sehr detaillierte Kenntnis des Generalbasses und Fräulein Helene zum mindesten ein lebhaftes Verständnis für musikalische Dinge entwickelte; und als er sich gleich nach Tisch empfahl, bedauerte sie seine Eile so lebhaft, bat sie ihn so dringend, ihr die versprochenen Noten recht bald zu schicken – nein, lieber selbst zu bringen, damit sie sie gleich zusammen durchgehen könnten, daß der Doktor, wenn er es darauf angelegt hatte, einen möglichst günstigen Eindruck auf die junge Dame zu machen, mit seinem Erfolge ganz wohl zufrieden sein durfte.

»Sie sind nicht musikalisch?« fragte er Oswald, dem er noch für ein paar Minuten, bis die Pferde angeschirrt wurden, auf sein Zimmer gefolgt war.

»Nein, und die Eintracht süßer Töne lockt mich so wenig, daß ich gestern abend, als Fräulein Helene die Barkarole sang, von der Sie so entzückt waren, sogar das Fenster schloß.«

»Das ist in der Tat merkwürdig. Ich erinnere mich nicht, eine so weiche – ich möchte sagen – mystische Altstimme gehört zu haben.«

»Sollte die Schönheit der Sängerin nicht die Reinheit des Urteils in etwas trüben?«

»Nein, ich versichere Sie, daß ich ganz objektiv urteile; obgleich ich gern zugebe, daß eine so dämonische Schönheit mehr in das Reich der Träume, als in die reale Welt zu gehören scheint.«

Der Doktor hatte sich in Oswalds Lehnstuhl gesetzt sind blies den Rauch der Zigarre, die er sich eben angezündet, in blauen Wolken durch das offene Fenster.

»Es ist eine Schönheit«, sagte er, »die einen Maler zur Verzweiflung bringen könnte, weil sie sich gerade in ihrer duftigen Blüte durch Linien und Farben gar nicht mehr ausdrücken, sondern nur durch Musik übersetzen läßt. Ich wollte, Beethoven hätte sie gesehen oder Robert Schumann; und dann sollten Sie die geisterhafter dämonische Komposition hören, zu der diese Erscheinung die beiden begeistert hätte.«

»Aber wer von uns beiden ist denn nun der Schwärmer?« fragte Oswald lächelnd. »Sie oder ich?«

»Sie«, sagte der Doktor, »denn der höchste Grad der Ekstase ist tiefes Schweigen. Wer Worte für seine Begeisterung findet, hat die Zügel noch in der Hand. Und dann kann ich ein schönes Mädchenbild sehen und auch dafür schwärmen, ohne daß mir die Zigarre auch nur einen Grad weniger gut schmeckte. Sie aber sind imstande, darüber Essen und Trinken und alles zu vergessen und sich Hals über Kopf in die Charybdis Ihrer Begeisterung zu stürzen, ohne auch nur daran zu denken, ob Sie imstande sein werden, jemals wieder zum rosigen Lichte aufzutauchen.«

»Wissen Sie das so gewiß?«

»Ganz gewiß; ich habe Ihnen in der letzten Zeit ein eingehendes Studium gewidmet, und gefunden, daß Sie eines der vortrefflichsten Exemplare einer in unseren Tagen ziemlich weit verbreiteten Spezies generis humani sind, Nachkommen des weiland vom Teufel geholten Doktor Faustus, Faustuli postumi, sozusagen, die den langen Dozentenbart abgeschnitten, auch nicht im romantischen Ritterkostüm, sondern einfach im modernen Frack einherspazieren; im übrigen aber auf gut faustisch von Begierde zum Genuß taumeln, und im Genuß nach Begierde verschmachten.«

»Problematische Naturen nennt sie der Baron Oldenburg«, bemerkte Oswald.

»Eine sehr gute Bezeichnung«, sagte der Doktor. »Freilich, der Baron muß es wissen, der ist selbst von der Brüderschaft, und ich vermute, daß er einen ziemlich hohen Grad einnimmt. Wenigstens nach allem, was ich von ihm höre, denn gesprochen habe ich ihn nie und nur einmal flüchtig gesehen.«

»Es dürfte sehr schwer halten, sich über den Baron ein richtiges Urteil zu bilden.«

»Wäre er sonst eine problematische Natur? Ich höre, Sie sind einer seiner speziellen Freunde, einer von den wenigen, die er, wie es heißt, besitzt. Und gerade deshalb spreche ich offen. Ich kann es nicht billigen, daß ein Mann von den eminenten Gaben des Barons sein Leben in Müßiggang verdämmert – in einem geschäftigen Müßiggang, der schwerste Vorwurf, der meiner Meinung nach einen Mann in unserer Zeit treffen kann, wo es wahrlich so viel, so viel zu tun gibt.«

»Was kann der arme Baron dafür, daß ihm das Brot des Alltagslebens nicht schmeckt?«

»Glauben Sie denn, daß es mir schmeckt?« sagte Doktor Braun, und seine Wangen röteten sich und seine Augen leuchteten. »Glauben Sie, daß der herrliche Gott Apollo, als er die Rinder des Admet weidete und im Schatten der Eiche das schnöde Sklavenmahl verzehrte, sich nicht zurücksehnte nach der Ambrosia und dem Nektar auf den goldenen Tischen im Hause des Vaters? Dennoch trug er sein Los und duldete das Verhängnis, wie der noch viel herrlichere Jesus von Nazareth das seinige. Und ich muß gestehen, mir erschien es immer als eine grobe Inkonsequenz, daß des Menschen Sohn von allen, zum wenigsten von den stärksten menschlichen Banden los und ledig dargestellt wird. Sollte er den Leidenskelch wirklich bis auf den letzten bittersten Tropfen leeren, so muß er durch die stille Nacht auf dem Ölberge die Stimmen eines angebeteten Weibes, geliebter Kinder zu hören glauben, die ängstlich nach dem Gatten, dem Vater riefen. Denn menschlich allem Menschlichen ergeben sein und dennoch bis an den Tod mit den reißenden Wölfen der Tyrannei und Lüge kämpfen und das schwere Kreuz des ganz Gemeinen und ewig Gestrigen, das auf uns lastet, bis nach Golgatha tragen – das erscheint mir als das eigentliche Los des Menschensohnes.«

Der Doktor ging ein paarmal mit raschen Schritten in dem Gemache auf und ab, dann blieb er vor Oswald stehen, streckte ihm mit herzgewinnender Freundlichkeit die Hand entgegen und sagte: »Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie durch dies oder jenes Wort, das vielleicht weniger überlegt war, gekränkt, haben sollte. Aber ich gerate jedesmal in Aufregung, wenn ich eine hohe Intelligenz feiern oder in einer falschen Richtung tätig sehe. Das erste ist die Sünde gegen den heiligen Geist, die unserer Sünden größte ist, die zweite ist nicht ganz so groß, aber kommt jener fast gleich. Von jener spreche ich Sie los, dieser erkläre ich Sie für schuldig. Sie wissen, wie ich über Ihre Stellung hier schon neulich dachte; jetzt, nachdem ich Sie zum ersten Male in dem Kreise selbst gesehen habe, finde ich das Verhältnis noch viel bedenklicher. Geben Sie es auf, ehe es zu spät ist! Es mag eine entsetzliche Indiskretion sein, daß ich mir erlaube, so zu Ihnen zu sprechen; aber Sie wissen, wir Ärzte haben einmal das Recht, indiskret zu sein. Sind Sie mir bös?«

»Ich wäre der lächerlichste Narr, wenn ich es wäre«, antwortete Oswald. »Im Gegenteil, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mir eine Teilnahme zeigen, die ich so gar nicht verdient zu haben mir bewußt bin. Aber ich glaube, Sie sehen die Dinge ein wenig zu schwarz –«

»Bloß zu schwarz?« sagte der Doktor lachend. »Ich sehe sie weder grau noch schwarz, ich sehe sie gar nicht; ich bin blind, stockblind auf beiden Augen. Adieu, mon cher, adieu. Wenn Sie sich über kurz oder lang nicht mehr so kerngesund fühlen sollten wie zu dieser Stunde – so schicken Sie nur zu mir! Sie sollen sehen, daß ich nicht nur ein Arzt für die Gesunden bin, sondern auch für die Kranken.« Mit diesen Worten eilte der Doktor zur Tür hinaus, und einen Augenblick später hörte Oswald das Knirschen der Räder seines Wagens auf dem Kies vor dem Portale.


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