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Achtunddreißigstes Kapitel

Es war ein köstlicher Anblick, den der Schloßhof von Grenwitz in dem Augenblick gewährte, als ihn Oswald durch das finstere Tor betrat, ein Anblick, wohl geeignet, ein schmerzlich zuckendes Herz zur Ruhe zu wiegen. Während die höchsten Kuppen der gewaltigen Linden, die auf das Portal des Schlosses zuführten, und die Zinne des Turmes noch vom roten Abendlichte angestrahlt waren, lag schon tiefer Schatten unter den Bäumen, neben dem Walle, über dem langen Grase, das überall zwischen den Steinen des Pflasters emporwuchs. Aus den Kronen der Linden, die mit weißem Blütenschnee überdeckt waren, strömte ein süßer Duft, der die ganze Atmosphäre erfüllte. Ringsumher war es so still, daß man deutlich das geschäftige Stimmen der Insekten vernahm: auf dem Rand des Brunnens mit der kopflosen Najade saß ein Vögelein und sang der untergehenden Sonne nach; hoch oben in der rosigen Luft schossen noch immer einzelne Schwalben, als könnten sie sich heute, wo es doch gar so wunderschön sei, gar nicht entschließen, zur Erde zurückzukehren.

Langsam, fast zögernd, schritt Oswald dem Schlosse zu. Er fühlte tief den Zauber dieser Abendstunde und wußte, daß das erste Menschenwort ihn zerstören würde. Aber er begegnete niemandem. Der ganze Hof war wie ausgestorben. Er stieg die Wendeltreppe hinauf und ging durch die langen Korridore, die von seinem Fußtritt widerhallten, auf sein Zimmer. Die Fenster waren geöffnet, und der Lehnstuhl in der Nische hatte den rechten Platz, auf dem Tische vor dem Sofa stand eine Vase, angefüllt mit frischen Blumen, der Kopf des Apollo von Belvedere hatte sich eine schmale Krone von Efeu gefallen lassen müssen. Es war aufgeräumt in dem Zimmer, aber so, wie es nur von jemand geschehen kann, der die Eigenheiten des Bewohners ganz genau kennt.

Offenbar hatte hier Brunos Hand gewaltet.

Oswald fühlte sich durch das stumme und doch so beredte Willkommen auf das angenehmste berührt. Es war wie eine warme Hand, die freundlich die seine drückte, wie ein Hauch, der liebevoll seinen Namen flüsterte. Der Sturm in seiner Seele, den die Worte des Doktors erregt hatten, war vorübergebraust, und an die Stelle des wilden Zornes eine schwermutsvolle Trauer getreten, daß die Menschen dieser herrlichen Erde nicht wert seien und in ihres Sinnes Torheit sich, gegen das Geschick, Schmerzen und Qualen ohne Zahl bereiteten.

Er hatte, den Kopf in die Hand gestützt, am Fenster gesessen. Dann erinnerte er sich, daß es wohl an der Zeit sei, die Gesellschaft aufzusuchen und zu begrüßen. Er kleidete sich um, nahm eine Nelke aus dem Blumenstrauß und ging hinunter.

Als er die Tür des Wohnzimmers öffnete, aus dem die Fenstertür nach dem Rasenplatze führte, hörte er Stimmen, und als er ein paar Schritte in das leere Zimmer hineingetan hatte, sah er auch schon einen Teil der Gesellschaft, die auf dem Rasen mit dem Lieblingsspiel der Baronin, dem Reifenspiel, eifrigst beschäftigt war. Er näherte sich leise der Tür und blieb auf demselben Platze stehen, von dem aus Melitta an jenem Nachmittage ihn zum ersten Male erblickt hatte. als er Arm in Arm mit Bruno unter den Bäumen hervortrat.

Die Gesellschaft bestand aus dem Baron und der Baronin, Mademoiselle Marguerite und Herrn Timm, Malte und Bruno und einer jungen Dame, die Oswald den Rücken zugewandt hatte, so daß er nur die schlanke leichte Gestalt, deren reizende Formen ein einfaches weißes Gewand gar anmutig hervortreten ließ, und das üppig dichte, leicht gekräuselte, blauschwarze Haar bemerken konnte, das in der Mitte gescheitelt und hinten lose zusammengesteckt, die Linien des wundervoll schön geformten Kopfes in weichen Umrissen nachzeichnete.

Oswalds Blicke waren wie von einem Zauber an diese jugendliche Gestalt gefesselt, die, ohne den Platz zu verlassen, beinahe regungslos dastand, und nur in regelmäßigen Zwischenräumen die Arme hob, um den Reif aufzufangen, den Bruno, ihr Nachbar, mit nie fehlender Sicherheit stets so schleuderte, daß er in einem Halbbogen unmittelbar auf ihren Stock herabschwebte, oder den eben aufgefangenen Reif weiter zu schicken an Malte, der ihn ein jedes zweite Mal fallen ließ und sich bitter beklagte, Helene werfe so schlecht, und Helene tu es ihm nur zum Ärger und es müsse ein anderer an Helenes Stelle treten.

»So komm hierher, Helene«, sagte die Baronin, »du wirfst auch wirklich sehr schlecht.«

Mutter und Tochter tauschten mit den Plätzen, und Oswald konnte jetzt Helene voll ins Antlitz sehen.

Es war eins der Gesichter, die man nie wieder vergißt, wenn man einmal mit fühlenden Augen hineingeschaut, an die sich noch der Greis über ein halbes Jahrhundert weg mit wehmütiger Freude erinnert, wie er sich an einen warmen Sommerabend erinnert, als er – ein kleiner Schulknabe – mit den Brüdern im Garten spielte und aus der Laube das Lachen der großen Mädchen klang, eins der Gesichter, die uns, wenn wir noch so traurig sind, anlächeln, wie ein Sonnenblick an einem düstern Herbsttage, die, wenn es in unserm Herzen noch so öde ist, uns wieder an Poesie und alles, was schön und göttlich ist, glauben machen.

Oswald stand in Bewunderung verloren, wie man vor einem wunderherrlichen Gemälde anbetend stehenbleibt. Es war nicht das liebliche Oval des reizenden Gesichtes; es waren nicht die großen, dunkeln, träumerischen Augen, die aus den langen schwarzen Wimpern mit einem so zauberischen Lichte leuchteten; es waren nicht die vollen rosigen Lippen, die so freundlich lächeln konnten; es war eben alles in allem. Wer kann die Sonnenstrahlen fangen? Wer die Töne der Nachtigall auf Noten bringen? Wer die Schönheit zergliedern? Oswald versuchte es auch nicht; er fühlte nur, daß er etwas Schöneres nie im Leben gesehen habe, nie wieder sehen werde, und es war ihm, als ob ein holder Traum, den er oft und oft geträumt, nun endlich in Erfüllung gegangen, als ob etwas Ungeheures geschehen müsse, als werde in diesem Augenblick von geheimen Mächten des Schicksals über das Wohl und Wehe seines Lebens entschieden; er hätte fliegen mögen, weit, weit fort, in die tiefste Einsamkeit.

Da bemerkte er, daß der alte Baron, dem es draußen zu kühl werden mochte, aus dem Kreise ausgeschieden war und sich dem Hause näherte. Er raffte sich gewaltsam empor und trat durch die Fenstertür dem Kommenden entgegen. Sein Erscheinen wurde natürlich sofort bemerkt und ein allgemeines: Ah, Herr Stein! Sieh da, Herr Doktor! bewillkommnete ihn, während Bruno, den anderen voraus, mit ein paar mächtigen Sprüngen bei ihm war und ihn umarmt hatte, ehe er an jene herantreten und sie begrüßen konnte.

»Das ist ja charmant, Herr Doktor!« sagte die Baronin mit ihrem gnädigsten Lächeln. »Wir waren schon untröstlich bei dem Gedanken, Sie noch wochenlang entbehren zu müssen, und nun sind Sie schon wieder in unserer Mitte. Was sagen Sie denn, daß wir so bald wieder umkehren mußten! Der arme Grenwitz, er ist recht krank gewesen! Geh hinein, lieber Grenwitz; es ist wirklich schon sehr kühl draußen. Wir wollen alle hineingehen. Und unser kleiner Kreis hat sich unterdessen vergrößert. Wo ist denn Helene – Hélène, venez ici, ma chére! Lassen Sie mich Ihnen meine Tochter Helene vorstellen; ich habe ihr Hoffnung gemacht, daß Sie die Güte haben wollen, ihr zu helfen, die vielen, vielen Lücken in ihren Kenntnissen etwas auszufüllen, denn Sie glauben nicht, welch eine Stümperei eine solche Pensionatserziehung in wissenschaftlicher Hinsicht ist! Nicht wahr, Sie werden die Kleine in die Zahl Ihrer Schüler aufnehmen? Wollen wir hineingehen? Ich denke, wir bleiben alle etwas im Salon beisammen.«

»Ohne Zweifel«, sagte Herr Timm, der gegen seine Gewohnheit bis jetzt sehr still gewesen war, »saure Wochen, frohe Feste, Tages Arbeit und abends eine gemütliche Bowle. Das soll keine Anspielung sein, gnädige Frau, beileibe nicht!«

»Aber es wäre Ihnen doch nicht unlieb, wenn ich es für eine Anspielung nähme«, sagte die Baronin, die heute abend entschlossen schien, alle zu bezaubern.

»Ich müßte lügen, wollte ich das Gegenteil behaupten«, sagte Herr Timm, die Hand aufs Herz legend, »und Sie wissen, gnädige Frau, daß mir alle Lüge in den Tod verhaßt ist.«

»Eh bien!« sagte die Baronin. »Und Sie sollen die Ingredienzien selbst bestimmen; wollen Sie sich darüber mit Mademoiselle ins Einvernehmen setzen?«

»Famos«, sagte Herr Timm, »gnädige Frau, ich muß Ihnen die Hand küssen«, und nachdem er den Worten die Tat hatte folgen lassen, zog er die kleine Französin beiseite, ihr das Rezept zu einer »famosen Bowle« mitzuteilen.

Man war vielleicht eine Stunde plaudernd im Salon beisammen gewesen, Herr Timm hatte einige komische Lieder eigener Kompositionen am Klavier recht hübsch vorgetragen, einige burleske Szenen ausgeführt, in denen er zu gleicher Zeit als zwei oder drei verschiedene Personen auftrat und mit zwei oder drei verschiedenen Stimmen redete, kurz, er hatte alles, was in seinen Kräften stand, getan, um die nach den ersten zehn Minuten ziemlich einsilbig gewordene Gesellschaft zu unterhalten, und trotz alledem die von ihm selbst gebraute Bowle auch ziemlich allein ausgetrunken – als die Baronin zum Aufbruch mahnte. Herr Timm erbat sich als einzigen Ehrensold für seine Bemühungen am heutigen Abend die Erlaubnis, den Damen vom Hause die Hand küssen zu dürfen, eine Erlaubnis, die ihm von der Baronin mit gnädiger Bereitwilligkeit, von Fräulein Helene aber nicht zugestanden wurde, die kurz und trocken, und die schönen Brauen ein wenig zusammenziehend, bemerkte, der Künstler müsse seinen Lohn in sich selbst tragen. Herr Timm wollte dagegen Einwendungen erheben, aber Oswald schnitt die weiteren Auseinandersetzungen ab, indem er »gute Nacht« wünschte und mit Bruno (Malte hatte sich schon früher entfernt) das Zimmer verließ und so Herrn Timm, der in demselben Teile des Schlosses wohnte, zwang, sich ebenfalls zu empfehlen. Überhaupt hatte Oswald seinen neuen Freund heute abend nicht gerade freundlich behandelt, wodurch sich dieser in keiner Weise stören ließ, sondern in seinem übermütigen Geschwätz fortfuhr, bis sie sich, vor ihren Türen angekommen, trennten.

»Gott sei Dank!« sagte Oswald, als er sich mit Bruno in seinem Zimmer allein sah. »Endlich sind wir den lästigen Schwätzer los. Und ich habe dich noch gar nicht um Verzeihung bitten können, daß ich neulich beim Abschied so kalt und gleichgültig war; dir noch nicht danken können, daß du brüderlich alles vergessen – mir ein so freundliches Willkommen bereitet hast. Nicht wahr, diese Blumen sind von dir?«

»Ja –«

»Und der Efeukranz dort um die Stirn des Apollo ist von dir?«

»Ja –«

»Und du hast den Lehnstuhl an die rechte Stelle gerückt?«

»Ja –«

»Du lieber, lieber Junge! Komm, wir wollen uns beide hineinsetzen, und nun sollst du mir von deinen Irrfahrten erzählen, von den Städten, die du gesehen, von den Zyklopen, die du geblendet, von den Leiden, die du erduldet hast in deiner lieben Seele – alles der Ordnung gemäß, weißt du, wie Polyphem seine Schafe melkt.«

Oswald hatte sich in den Stuhl geworfen und Bruno zu sich gezogen. So saßen sie; und der Knabe schmiegte sich innig an seinen einzigen Freund und fing an zu erzählen, erst mit satirischer Laune die Hinfahrt schildernd, wie bald der Baron und bald Malte nicht hatten rückwärts fahren können, wie zuletzt beide auf dem Bock gesessen hatten und der Diener im Wagen – und wie er, Bruno, vergnügt gewesen sei, als immer neue Städte und neue Dörfer vor seinen Blicken auftauchten, und nun zuletzt das große Hamburg.

Dann nahm seine Erzählung einen andern Ton an. Er schilderte mit allem Ernste den Eindruck, den die Stadt auf ihn gemacht hatte. Die vielen stattlichen Häuser, das Gedränge in den Straßen, das Treiben im Hafen, die vielen Schiffe, das Alsterbassin, in dem sich die vielen Lichter spiegelten und welche zauberische Wirkung das hervorbringe, wenn man langsam am Rande hinspaziere, und wie er einmal beinahe ins Wasser gefallen wäre, wenn ihn Helene nicht gehalten hätte. Und nun, nachdem Helenens Namen erst einmal genannt war, tauchte er immer wieder auf, wie ein leuchtender Stern aus treibenden Wolken, wie Helene geweint habe, als sie von Hamburg abreisten, wie sie auf das Wort ihrer Mutter: es scheint dir nicht viele Freude zu machen, zu deinen Eltern zurückzukehren, die Tränen getrocknet, aber auch auf der ganzen Reise kaum einmal wieder gelächelt habe. Denn sie sei sehr stolz, aber auch sehr, sehr gut gegen alle, die sie liebhabe, zum Beispiel gegen ihren Vater, und auch gegen ihn, obgleich er nicht behaupten wolle, daß sie ihn liebhabe – so arrogant sei er durchaus nicht – aber soviel sei gewiß, daß sie eines Abends, als es schon sehr spät war und er, von dem vielen Fahren müde, die Augen nicht mehr aufhalten, vor all dem Rütteln und Schütteln aber nicht zum Schlafen kommen konnte, es sich ruhig gefallen ließ, als sein Kopf in der Schlaftrunkenheit auf ihre Schulter sank und dort wohl eine halbe Stunde liegenblieb.

Das werde er ihr nie vergessen, und wenn er einmal Gelegenheit haben sollte, ihr einen Dienst zu leisten, dann wünsche er nur, daß es dabei um Hals und Kragen gehe, sonst hätte es doch keine rechte Art.

So sprach der Knabe, und seine Worte fielen dicht wie Feuerfunken aus einem Gebäude, das in hellen Flammen steht, und seine Wangen glühten. Oswald bemerkte wohl, daß das schöne Mädchen einen großen Eindruck auf den wilden Knaben gemacht hatte; aber wie groß, wie allmächtig dieser Eindruck war, welche Revolution in dieser frühreifen, übermächtigen Natur eine erste, wie ein Lavastrom hereinbrechende Liebe hervorgebracht hatte – das ahnte er nicht. Er scherzte über seines Lieblings feurigen Enthusiasmus, um so witziger und feiner, als er ihn in nicht geringem Grade teilte, und Bruno, der sich von Oswald alles gefallen ließ, lachte mit, und lächelnd und scherzend sagten sie sich gute Nacht. Bruno ging in seine Kammer, Oswald setzte sich wieder in seinen Lehnstuhl.

Auf dem Tisch vor dem Sofa brannte die Lampe, dennoch bemerkte Oswald das Flimmern des Mondes, der eben über die Buchen des Walles heraufstieg; ein einzelner Stern in der Nähe der Mondsichel schimmerte aus dem tiefen Blau des nächtlichen Himmels. Durch das offene Fenster strömte die weiche balsamische Nachtluft – es war so still, daß man die fallenden Tautropfen hörte. Und jetzt, während Oswald saß und lauschte, klangen, wie die Töne einer Äolsharfe, auf einem Flügel mit kunstgeübter Hand angeschlagene Akkorde zu ihm herüber, erst leise, leise als fürchte man die Nacht aus dem Schlafe zu wecken, dann ganz allmählich lauter. Die Akkorde flossen zusammen zu der Melodie eines Liedes, und bald begann eine weiche Altstimme das Lied zu der Melodie zu singen. Oswald konnte die Worte nicht vernehmen, aber sie schienen sanft und traurig zu sein wie die Melodie, deren einfache rührende Klage wunderbar zum Herzen sprach.

Diese Musik zu dieser Stunde würde Oswald entzückt haben, auch wenn er nicht hätte ahnen können, wer die Sängerin war. Jetzt aber, wo er wußte, daß es niemand sein konnte als das schöne Mädchen, vor dem sich heute abend wie vor einer überirdischen Erscheinung seine Seele anbetend geneigt hatte, bei dessen Anblick es über ihn gekommen war wie die Offenbarung einer höheren Welt – klangen die tiefsten Saiten seines Herzens mit, und wie der Gläubige, was in ihm wogt und drängt, in ein Gebet zu gießen versucht, so fühlte Oswald den Drang, in Worten auszusprechen, was seine Seele so mächtig erregte. Er erhob sich wie trunken aus dem Sitz am Fenster; er schritt an den Tisch und schrieb, kaum wissend, was er schrieb:

    »Nie, seit der wunderbaren heil'gen Stunde,
    Die Miltons keuscher Dichtermund besang,
    Als von des ersten Menschen reinem Munde
    Das erste süße Wort der Liebe klang. –
    Und alle Vöglein sangen's in der Runde,
    Und jedes Blümlein aus der Knospe sprang –
Nie ist ein Weib auf Erden je erschienen,
Dem, so wie dir, die Engel sichtbar dienen.

    Oh, du bist lieb! Lieb, wie der Gott der Träume,
    Der uns Vergessenheit der Schmerzen bringt;
    So hold wie Mondschein, der durch die Blütenbäume
    In unser lauschig dunkles Zimmer dringt –
    Süß, wie dein Sang, der durch die stillen Räume
    In tiefer Nacht zu mir herüberklingt –
Du bist so schön, daß man wie sie dich nannte,
Für die der Krieg um Troja einst entbrannte.

    Doch Krieg und Wunden ziemen nicht dem Schönen!
    Als unser Heiland ist es uns gesandt.
    Es soll uns wieder mit uns selbst versöhnen,
    Die wir zu stürmisch durch die Welt gerannt;
    Und wie mit seiner Harfe goldnen Tönen
    Isais Sohn des Saulus Weh gebannt,
So wird aus deinen liebetiefen Augen
Manch düstrer Blick sich Licht und Hoffnung saugen.

    Aus deinen holden Augen! Wo sie strahlen
    In ihrer dunklen, märchenhaften Pracht,
    Da sind vergessen alle Erdenqualen,
    Da wird es hell in tiefster Leidensnacht,
    Wo sie erglänzen, wird in kummerfahlen
    Gesenkten Stirnen Leben neu entfacht
Tiefmüder Pilger, die in allen Landen
Die blaue Blume suchten und nicht fanden.

    O Blume, Mädchen! Nie leg ab die Krone,
    Die jetzt auf deinem jungen Haupte ruht.
    Gib nimmer Raum dem frevelhaften Hohne,
    Daß, was so engelschön, nicht engelgut!
    Wie heute, stets, in heil'ger Unschuld, wohne
    In aller guten Geister treuer Hut,
Auf daß getrost in trüber Erdenferne
Verirrte Wand'rer folgen deinem Sterne.«

Oswald trat wieder ans Fenster; der Mond und der Stern waren von einer schweren Wetterwolke bedeckt, die hinter ihnen her über den Wall heraufgezogen war; der Gesang war verstummt, lauter rauschte der Nachtwind in den Bäumen.

Er schloß das Fenster und suchte sein Lager auf, aber es dauerte lange, bis der Schlaf das fieberhafte Wogen seines Blutes sänftigte.


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