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Vierundfünfzigstes Kapitel

Unterdessen hatte Oswald an Brunos Bette böse, angstvolle Stunden verlebt. Brunos aufgeregtes Wesen in der letzten Zeit hatte ihn schon mehr als einmal ernstlich besorgt gemacht. Die Ausbrüche leidenschaftlicher Heftigkeit, wie Oswald sie an Bruno von den ersten Wochen ihres Zusammenlebens kannte und die dann eine Zeitlang fast gänzlich aufgehört hatten, waren jetzt häufiger und gewaltiger als je. Ein Widerspruch, das Mißlingen eines Unternehmens, einer Arbeit, eine verletzende Äußerung über Tisch aus dem Munde der Baronin – waren hinreichend, die Dämonen in ihm zu entfesseln. Vergebens, daß Oswald ihn bat und beschwor, diese Heftigkeit abzulegen, durch die er sich seinen Feinden gegenüber so viel vergebe, die es seinen Freunden oft unmöglich mache, für ihn Partei zu ergreifen – »ich kann nicht anders«, war seine stete Antwort, »es kommt über mich mit einer Gewalt, der ich nicht zu widerstehen vermag. Es kocht in mir auf, es nagt an meinem Herzen, es hämmert in meinen Schläfen, und dann weiß ich nicht mehr, was ich spreche oder tue«. – Wenn dann Oswald sagte, er könne, wenn er nur wolle, so antwortete er trotzig: »Schilt mich nur auch wie die anderen; mache nur gemeinschaftliche Sache mit den anderen. Ich will keine halben Freunde; wer nicht für mich ist, der ist wider mich.« – Dann, wenn er sah, wie er Oswald durch diese und ähnliche Reden gekränkt hatte, warf er sich stürmisch in seine Arme und bat ihn unter heißen Tränen um Verzeihung. – »Habe Mitleid mit mir«, rief er. »Du weißt nicht, wie grenzenlos unglücklich ich bin.« – Vergebens, daß Oswald in ihn drang, zu sagen, ob er irgend etwas Besonderes auf dem Herzen habe? Ob die wilde Sehnsucht in die Ferne, von der er früher so gefoltert wurde, jetzt wieder in ihm übermächtig sei? – »Ich weiß es selbst nicht«, sagte Bruno, »ja, ich möchte fort, weit, weit von hier, um nimmer wiederzukehren; und dann möchte ich doch auch wieder nicht fort, nein, nicht fort, nicht um alles in der Welt; ich weiß es nicht; ich glaube, ich möchte am liebsten sterben.«

Oswald riet hin und her, was denn nur die Ursache dieses sonderbaren Zustandes sein möchte; aber wie nahe er auch manchmal der Wahrheit kam, den eigentlichen Kern des Geheimnisses, das der Knabe in der tiefsten Tiefe seines Herzens vor jedem, vielleicht vor sich selbst, scheu verbarg, entdeckte er doch nicht.

Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß ja die Zeit des Übergangs aus dem Knaben- in das Jünglingsalter für alle eine Periode innerer und äußerer Stürme zu sein pflege, und daß bei so mächtigen Naturen wie Bruno die Revolution verhältnismäßig gewaltiger sein müsse. Er hatte oft mit Bruno über Verhältnisse gesprochen, die dem erschlossenen Auge nicht länger verborgen bleiben können, denn er hielt es für die heilige Pflicht eines Erziehers, gerade in diesem Punkte der wühlenden Neugier, dem grübelnden Scharfsinn des Neophyten entgegenzukommen, und ihm die Tür zum Heiligtum der Natur lieber zu erschließen als zuzugeben, daß der Jünger durch Schuld zur Wahrheit gelange. Er wußte, daß Brunos Sinn edel und sein Herz rein. Er war nach dieser Seite hin vollkommen ruhig; er ahnte nicht, daß Bruno, edel und rein wie er war, mit allen Kräften seiner starken Seele, mit der ganzen Glut der eben erst erwachten Sinnlichkeit, mit der stummen Verzweiflung einer ersten Leidenschaft, die keine Erwiderung findet und finden kann, seine schöne Cousine liebte.

Er hatte Helene nie vorher gesehen. Als er vor drei Jahren etwa in das Haus seiner Verwandten kam, war das junge Mädchen schon in der Pension. Es wurde selten in der Familie von ihr gesprochen, und vielleicht erregte gerade dies und noch mehr der Umstand, daß, wenn man von ihr sprach, es meistens in kühlen Ausdrücken geschah, Brunos Aufmerksamkeit. Der Verlassene ahnte in der Verbannten eine Leidensgefährtin. Nach und nach gestaltete sich für ihn das sehr undeutliche Bild der Entfernten zu einer Art von Ideal, einem Inbegriff von allem Schönen und Herrlichen, das seine reiche Phantasie erträumte. Der Name Helene, in dessen weichem Klang er sich berauschen konnte wie in dem Duft der Hyazinthe, trug nicht wenig dazu bei, ihm diese Gestalt seiner Einbildungskraft lieb und teuer zu machen. Dann waren auch Zeiten gekommen, wo er dem Kultus der schönen Unbekannten untreu geworden war, wo er in Tante Berkow den höchsten, vollendeten Ausdruck des »Ewigweiblichen« zu erkennen glaubte, wo er sich durch ein freundliches Wort Melittas, für ein: Du lieber Junge! für ein Streicheln seiner Haare von ihrer lieben Hand unbedenklich in jede Todesgefahr gestürzt haben würde. Gerade in der ersten Zeit von Oswalds Anwesenheit in Grenwitz hatte seine Liebe zu Tante Berkow in der Blüte gestanden. Melittas um ein paar Jahre jüngeren Knaben hatte er ebenso wie einen jüngeren Bruder behandelt, wie ihm die jugendlich schöne Mutter oft nur wie eine ältere Schwester erschienen war. Da Melitta gerade in jener Zeit häufig nach Grenwitz herüberkam, und Bemperlein, um seinem Julius Gesellschaft zu verschaffen, den Umgang der Knaben aufs eifrigste protegierte, so fehlte es Bruno nicht an Gelegenheit, Tante Berkow zu sehen, ihr hundert kleine Pagendienste zu leisten, ihr in den Sattel zu helfen, Bella oder Brownlock eine halbe Stunde umherzuführen, mit der Reitpeitsche, dem Federhut und den Handschuhen hinter ihr zu stehen, wenn sie danach fragte. Tante Berkow war in dieser Zeit sein drittes Wort, und Oswald hatte es sich gern gefallen lassen, wenn ihm Bruno lange Geschichten erzählte, in denen Tante Berkow immer die erste Rolle spielte.

Melitta hatte vielleicht nicht wenig dazu beigetragen, daß Bruno in Monaten ein Stadium der Entwicklung zurücklegte, zu dem weniger feurige Naturen ebenso viele Jahre brauchen. Sie hatte sich in ihrer Harmlosigkeit des Irrtums schuldig gemacht, zu glauben, daß sie einen Knaben, der schon beinahe Jüngling war, noch als Kind behandeln dürfe, daß sie sich mit ihm kleine Freiheiten erlauben könne, die schon in ganz kurzer Zeit ganz große Freiheiten gewesen sein würden. Sie hatte nicht bedacht, daß die Sinnlichkeit in dieser Zeit ein Schlaf in der Morgendämmerung ist, den die leiseste Störung verscheuchen kann; daß die Begierde in dieser Periode wie ein Feuer ist, das in grünem Holze langsam fortglüht und bei dem geringsten Windstoß in heller Lohe emporflammt. Sie würde außer sich gewesen sein, wenn man ihr gesagt hätte, daß sie in aller Unschuld einer Unschuld gefährlich gewesen sei. Und doch war es der Fall.

Melitta selbst sah zuletzt ein, daß sie Bruno nicht länger, wie sie es bisher getan, mit Julius oder auch nur mit Malte auf eine Stufe stellen dürfe; und wenn sie jetzt »von den Knaben« sprach, so meinte sie damit vorzüglich die beiden letzteren. Sie hatte angefangen, Bruno wie einen Freund, wie einen jungen Bruder zu behandeln, wie einen Pagen, den man noch halbe Frauendienste tun läßt, von dem man aber weiß, daß man sich im Fall der Not auf sein mutiges Herz und seinen starken Arm verlassen könnte. Und in der Tat, ein Kenner würde in einem Ringkampf, in irgendeiner athletischen Übung unbedingt auf Bruno gegen viel ältere und scheinbar gefährlichere Gegner gewettet haben. Die klassische Statue eines Merkur oder jugendlichen Bacchus konnte nicht zarter gegliedert, nicht ebenmäßiger geformt sein als Brunos schlanker und bei aller Schlankheit starker Körper. Für Oswald war es schon eine Lust, den Knaben nur gehen zu sehen. Er war entzückt, wenn er Bruno beim Baden am Strande des Meeres beobachten durfte, wie der Knabe von einem Felsblock zum anderen sprang, mit einer Sicherheit, die das Gefühl der Furcht gar nicht aufkommen ließ, bis er den am weitesten hinausliegenden erreichte, von dem er sich kopfüber in die Wellen stürzte. Dabei war für Bruno eine Gefahr nicht vorhanden, oder vielmehr, er wollte nicht, daß dergleichen für ihn existiere. Wenn es irgendetwas auszuführen gab, das andere auszuführen Anstand nahmen: ein durchgehendes Pferd aufzuhalten, eine Kirsche von dem obersten Gipfel eines hohen Baumes zu holen, über einen Graben zu springen, der ohne Brücke nicht passierbar schien, – Bruno mußte das Wagstück unternehmen; er zitterte vor Verlangen, seine Wange glühte; er warf einen bittenden Blick auf die, welche er liebhatte, und man mußte ihn gewähren lassen sind ließ ihn gewähren, weil man sich sagte: Er kann mehr als die übrigen.

So war Bruno: ein Jüngling mehr wie ein Knabe, mit einem Herzen, an dessen Feuer sich eine tote Welt hätte beleben können.

So sah er Helenen.

Und alle Melodien, die in ihm geschlummert hatten, erklangen, und alles, was er bisher Schönstes und Lieblichstes geträumt hatte, stand wahr und wirklich, verkörpert vor ihm. Der Knabe traute seinen Augen kaum; er war wie geblendet, wie trunken; er war wie jemand, der aus einem schönen Traum zur schöneren Wirklichkeit erwacht und nicht zu sprechen, ja kaum zu atmen wagt, um das, was er noch immer halb und halb für eine Sinnestäuschung hält, nicht zu verscheuchen. So ging er in den ersten Tagen nach der Rückkehr der Familie wie im Traum umher, gegen die Gewohnheit mild und freundlich gegen alle. Dann aber verschwand die Traumesseligkeit und das Entzücken über die köstliche Wirklichkeit wurde zum Schmerz. Ruhe hatte er nie gehabt, und leicht war sein Herz nie gewesen; aber jetzt folterte ihn eine Unrast, die ihm Schlaf und Hunger und Durst verscheuchte, die wie ein wildes Fieber in ihm brannte, und sein armes Herz war wie ein Mann, der, was er Liebstes und Teuerstes hat, auf seinen Schultern vor dem verfolgenden Feinde davonträgt und schaudernd dem Augenblick entgegensieht, wo er unter der Last zusammenbrechen wird. Er wagte Helenens Namen nicht auszusprechen, aus Furcht, sein Geheimnis zu verraten; er wagte nicht mehr, die Augen zu ihr aufzuschlagen. Und dennoch sah er alles, was um ihn her vorging, und der Plan der Baronin blieb für ihn nicht lange ein Geheimnis. Sein Haß gegen Felix kannte keine Grenzen, und er gab sich wenig Mühe, diesen Haß zu verbergen. Er forderte den Roué bei jeder Gelegenheit durch höhnische und satirische Bemerkungen heraus, immer in der Hoffnung, Felix werde doch endlich einmal den hingeworfenen Handschuh aufheben; aber dieser ließ sich, wie alle, welche im Grunde sich und die ganze Welt verachten, sehr viel gefallen und erwiderte des Knaben grausame Sarkasmen mit mehr oder weniger guten Witzen, so daß er die Lacher meistens auf seiner Seite behielt. Und dann hatte er andererseits doch auch wieder eine viel zu gute Meinung von sich, um sich mit einem Gegner, den er so tief unter sich glaubte, in einen ernstlichen Streit einzulassen. Wäre er gestern auf Bruno, der ihm sein Rendezvous gestört hatte, nicht so ärgerlich gewesen, und hätte Bruno sich nur ein wenig glimpflicher ausgedrückt, es wäre auch selbst jetzt noch nicht zum Äußersten gekommen.

Und Felix konnte von Glück sagen, daß der Kampf keinen schlimmeren Ausgang für ihn genommen hatte. Er war dem Tode näher gewesen, als er wohl selber glaubte. Brunos Haß war durch die Vorgänge des Tages zur Raserei geworden, und Felix' brutale tätliche Beleidigung machte das Gefäß des Zornes und Hasses überlaufen. Und nun, nachdem der Lavastrom den Krater durchbrochen – was konnte ihn in seinem vernichtenden Laufe aufhalten? Daß Felix von seiner Hand sterben müsse, daß ihn Gott in seine Hände geliefert habe, damit er, koste es, was es wolle, das Weib, das er anbetete, von dem Scheusal, das er so glühend haßte, befreie, – das war in den kurzen und doch so langen Minuten, wo er mit Felix rang und auf Felix' Brust kniete, der einzig blutigrote Lichtschein in der Nacht seiner Seele. Wenige Sekunden nur – und Felix stand nicht wieder auf.

Da war Bruno durch einen Schrei dicht neben ihm von seiner fürchterlichen Arbeit aufgeschreckt worden. Emporblickend hatte er flüchtig eine weibliche Gestalt gesehen, die er im ersten Augenblick für Helene hielt. Er hatte sein Opfer losgelassen und war aufgesprungen. Die Gestalt hatte sich eilig entfernt, er war ein paar Schritte gefolgt, bis jene in der Richtung nach dem Leutehaus verschwunden war und er seinen Irrtum eingesehen hatte. Sich wieder über seine Beute stürzen, nachdem er einmal weggescheucht, war ihm unmöglich; er sah, wie Felix nach einigen vergeblichen Versuchen sich in die Höhe richtete. Das war ihm genug gewesen; er konnte sich in seine Kammer und in sein Bett stehlen, ohne einen Mord auf dem Gewissen zu haben.

Und doch war er kaum weniger erregt. Sein Herz hämmerte, seine Pulse flogen; glühende Hitze und Fieberfrost wechselten miteinander ab. Das verworren klare Bild der Kampfesszene drängte sich immer wieder in den Vordergrund; der Triumph, seinen Todfeind so gänzlich besiegt zu haben, wurde durch den Gedanken verbittert, daß Helene trotzdem noch immer nicht frei sei. Das quälte ihn fast noch mehr als die heftigen Schmerzen, die er, sobald er nur einigermaßen zur Ruhe gekommen war, in der Seite empfand, und die gar nicht nachlassen wollten, ja, wie es schien, nur immer heftiger wurden und sich von einem anfänglich kleinen Punkte aus immer weiter verbreiteten.

Es war eine lange, bange Nacht für den unglücklichen Knaben, diese kurze Sommernacht. Gegen Morgen ließ ihn die Müdigkeit in einen Zustand verfallen, der sich vom Wachen nur dadurch unterschied, daß noch fürchterlichere Bilder durch sein Gehirn jagten. Er fuhr, vom Schmerz geweckt, wieder auf; er versuchte sich zu erheben, um Oswald zu wecken, der in dem Zimmer nebenan schlief – Malte schlief schon seit Wochen unten – aber er vermochte es nicht. Endlich – es dauerte lange, bis sein Stolz sich dazu entschließen konnte, rief er Oswalds Namen. Ein paar Augenblicke später war Oswald an seinem Bette.

Er erschrak, als er den Knaben erblickte, in dessen Gesicht diese eine Nacht furchtbare Verwüstungen angerichtet hatte. Das schwarze Haar hing in verworrenen Locken über das bleiche Gesicht, die dunklen Augen waren tief in den Kopf gesunken und glühten im Fieber. »Gib mir Wasser!« rief Bruno, sobald Oswald in seine Kammer trat.

»Um Gottes willen, was ist dies, Bruno?« sagte Oswald, während der Knabe gierig von dem Wasser, das er ihm reichte, trank. »Warum hast du mich nicht früher gerufen; so schlimm ist ja der Anfall noch nie gewesen.«

»Es ist nicht der alte Schmerz«, sagte Bruno, »aber es wird wieder vorübergehen; es ist schon jetzt bedeutend besser. Ängstige dich nicht, Oswald; sieh, wenn ich so liege, fühle ich es weniger, fast gar nicht; es war nur in der Nacht so bös; nun, da du hier bist und die Sonne scheint, wird es gleich besser.«

»Es soll sofort jemand zu Doktor Braun reiten!« sagte Oswald aufspringend.

»Nein, nein«, bat Bruno, »tue es nicht; du weißt, wie fatal mir das immer ist. Jetzt ist überdies noch niemand im Hause auf; du würdest dich vergeblich bemühen. Und dann – ich wollte dich um etwas bitten. Komm, setze dich wieder zu mir aufs Bett; ich fühle, daß ich nicht aufstehen kann, und es ist die höchste Zeit, daß der Brief in Helenens Hände kommt.«

Oswald glaubte, Bruno deliriere; er faßte unwillkürlich nach des Knaben Stirn.

Bruno lächelte. Es war ein schwermütiges Lächeln.

»Nein, nein«, sagte er, »fürchte nichts, ich bin noch vollkommen bei Sinnen. Höre selbst, ob alles, was ich dir sagen werde, nicht ausgezeichnet zusammenpaßt.«

Bruno erinnerte nun Oswald, wie er von Anfang an behauptet habe, Felix sei gekommen, sich mit Helene zu verloben. Bis gestern habe er allerdings keinen unumstößlichen Beweis dafür gehabt; seit gestern sei aber auch dafür gesorgt. Er erzählte nun weiter, wie er am Nachmittage die alte Kapelle im Garten, seinen Lieblingsplatz, wo er am ungestörtesten seinen Grillen nachhängen konnte, aufgesucht habe und durch Stimmen in seiner Nähe aus dem Schlaf, in den ihn der schwüle Tag versenkt, aufgeweckt worden sei; wie er notgedrungen das Gespräch zwischen der Tante und Felix habe belauschen müssen, wie er, als sie fortgegangen, den Brief Helenens gefunden habe. Wie es ihm gestern nicht möglich gewesen, ihr den Brief zuzustellen; wie er den Plan gehabt, ihr denselben in der Nacht, wenn sie wie gewöhnlich bei offenem Fenster spiele, mit ein paar Zeilen, worin er ihr sagte, wo und wann er den Brief gefunden, in ihr Zimmer zu werfen. Wie er sie nicht habe erschrecken wollen und gewartet habe, bis sie ans Fenster treten würde, es zu schließen, um ihr mit ein paar Worten zu sagen, um was es sich handle; und wie er von Felix überrascht sei und wie es ihm leid tue, daß er den Elenden nicht vollends erwürgt habe.

Die leidenschaftlichen und doch so klaren, so überzeugenden Worte Brunos machten auf Oswald den fürchterlichsten Eindruck. Morgen schon sollte das Entsetzliche geschehen; allem Anschein nach ahnte sie nichts davon. Man wollte sie durch Überraschung zwingen; ihr ein Wort abnötigen, das sie hernach zurückzunehmen zu stolz sein würde. Und welche Bewandtnis hatte es mit diesem Brief, von dem Bruno und Oswald nur die Aufschrift kannten, der mit Helenens Petschaft zugesiegelt gewesen war und den die Baronin doch offenbar verloren hatte. Daß dieser Verrat im Spiele sei, daß dieser Brief den Zwecken der Baronin hatte dienen müssen, daß es notwendig sei, diesen Brief wieder in Helenens Hände gelangen zu lassen, damit sie erfuhr, welcher Waffen man sich gegen sie bediene, und sie diese Waffen in dem nötigen Augenblick, der morgen schon eintreten mußte, gegen ihre Gegner richten könne – das alles war natürlich auch Oswald sofort klar, und nur über den einzuschlagenden Weg konnten sie sich anfänglich nicht einigen. Bruno wollte, daß Oswald Helenen nicht nur den Brief gebe, sondern ihr auch den Inhalt des Gesprächs zwischen der Baronin und Felix mitteile. Oswald erklärte, daß das letztere schlechterdings unmöglich sei; Bruno in seiner Eigenschaft als Verwandter und als erklärter Günstling Helenens, dürfe sich schon eher eine solche Indiskretion erlauben; ihm, dem Fremden, verbiete die Schicklichkeit jede Anspielung auf so delikate Verhältnisse.

»Aber«, rief Bruno, »ich denke, du bist ihr Freund; ich denke, du hast sie lieb! Wie kannst du dich denn nur durch solche Bedenken, ob dies oder das auch nach den Regeln des Komplimentierbuches erlaubt sei oder nicht, abhalten lassen, wenn es sich um das Wohl oder Wehe ihres ganzen Lebens handelt. Denke, wenn man ihr durch Überraschung das Ja abpreßt; ich würde verrückt, ich ertrüge es nicht –«

»Und dennoch, Bruno, ich muß über diesen Punkt schweigen; ich kann darüber nicht reden – ich nicht.«

»Weshalb du nicht?«

»Weil – ich sagte dir ja schon, weil ich ein Fremder bin; weil sie mir sagen könnte, sagen würde: Mein Herr, was geht dies alles Sie an? Den Brief will ich ihr geben, es ist ihr Eigentum: sie kann verlangen, daß der Finder es ihr sobald wie möglich wieder zustellt – und bedenke doch, Bruno, dies einzige Faktum spricht ja laut genug. Sie wird dann wissen, wessen sie sich von jener Seite zu versehen hat, und der Angriff trifft sie auf ihrer Hut.«

»So willst du ihr den Brief geben?«

»Das will ich, und zwar sofort. Ich denke, Helene wird heute wie gewöhnlich ihre Morgenpromenade machen. Aber wie steht es mit dir?«

»Besser, viel besser«, sagte Bruno, der von den heftigsten Schmerzen gefoltert wurde, aber fürchtete, daß Oswald in der Sorge um ihn die einzige Gelegenheit, Helenen zu sehen und zu sprechen, versäumen könnte, »viel besser, wenn ich die Hand so in die Seite drücke, fühle ich beinahe gar nichts. Mache nur, daß du in den Garten kommst, und höre: Grüß sie von mir und sage ihr nicht, daß ich krank bin, nur ein wenig unwohl – ich bin ja auch eigentlich nicht krank –«

Der Knabe sank auf sein Lager zurück und gab sich Mühe, Oswald freundlich anzulächeln. Aber es war ein schmerzliches Lächeln trotz alledem, und als die Tür sich hinter Oswald geschlossen hatte, verbarg Bruno sein Gesicht in dem Kissen, um das dumpfe Stöhnen zu ersticken, das ihm die Qualen seiner Seele ebenso auspreßten wie die Schmerzen seines Körpers.


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