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Drittes Kapitel

Oswald hatte bis jetzt nur in Städten gelebt. Seine Sitten, seine Anschauungen, seine Neigungen waren die eines Städters. So kam es denn, daß, als er sich jetzt plötzlich wie mit einem Zauberschlage auf das Land versetzt sah, der unsägliche Reiz der ersten leuchtenden Sommertage in einem schönen ländlichen Aufenthalte für ihn mehr als für die meisten Menschen etwas unsäglich Anziehendes, ja Hinreißendes und Berauschendes hatte. Es war ihm alles so neu und doch wieder so seltsam bekannt, wie wenn jemand in eine Gegend kommt, die er schon lange vorher in seinen Träumen gesehen. War dieser blaue Dom, der sich immer tiefer und tiefer wölbte, derselbe Himmel, der sich so trostlos bleiern über das Häusermeer der Residenzstadt spannte? Waren diese funkelnden Lichter dieselben öden Sterne, zu denen er, aus dem Theater oder einer Gesellschaft kommend, kaum einmal flüchtig emporgeblickt hatte? Konnte ein Sommermorgen so reich an Glanz und Pracht, ein Sommerabend so weich und wollüstig sein? Hatte er denn den Gesang der Vögel nie vernommen, daß er sich jetzt an ihren einfachen Liedern nicht satt hören konnte? Hatte er denn nie Blumen gesehen, daß er jetzt nicht müde wurde, ihre schönen Farben und wundersamen Gestalten zu betrachten? Es war ihm zumute wie einem, der aus schwerer Krankheit wieder zum Leben erwacht. Die jüngste Vergangenheit lag wie hinter einem dichten Schleier, aber weit Entferntes, im Meer der Vergessenheit seit langen Jahren Versunkenes tauchte wie eine glänzende, zauberische Spiegelung wie über den Horizont der Erinnerung empor. »Ei, da ist ja auch Rittersporn«, rief er einst in diesen ersten Tagen freudig überrascht, als er, träumend im Garten auf und ab wandelnd, diese Blume häufig auf den Beeten blühen sah.

»Nun freilich,« sagte Bruno, der bei ihm war, »haben Sie denn noch nie welchen gesehen?«

»Es ist lange her«, murmelte der junge Mann sich niederbeugend und die phantastische Blume mit Rührung betrachtend. In seines Geistes Aug sah er sich wieder in einem kleinen lauschigen Garten an der Stadtmauer herumspielen und Steinchen, Blumen und andere Seltenheiten, die er auf seinen Entdeckungsreisen fand, auf den Schoß einer schönen, jungen, blassen Frau sammeln, die ihm jedesmal, wenn er zu ihr kam, das lockige Haupt streichelte und mit jener Geduld, die nur eine Mutter hat, nicht müde wurde, seine unzähligen Fragen zu beantworten. Und da hatte er ihr auch diese Blume gebracht, und die schöne Frau hatte gesagt: »Das ist Rittersporn.« Und dann hatte sie die Blume lange sinnend angesehen, bis ihr von dem langen Hinstarren die Tränen in die Augen kamen und hatte ihn auf ihren Schoß genommen und sein Haupt stürmisch an ihre Brust gedrückt, und da mochte er denn wohl, von dem vielen Spielen müde, eingeschlafen sein, denn in diesem Augenblick zerflatterte das Bild. – Die junge, schöne Frau, das wußte er, war seine Mutter; sie war gestorben, als er noch nicht fünf Jahre alt war. – Wer hat nicht an sich selbst schon die traurige Erfahrung gemacht, daß wir in dem Gewirre des Lebens, wo eine Erscheinung die andere verdrängt und wir stets unter der tyrannischen Gewalt des Augenblickes stehen, alles, selbst das Teuerste, selbst die Eltern, die uns das Leben gaben, vergessen lernen. So hatte auch Oswald fast schon vergessen, daß er je eine liebe Mutter gehabt; jetzt rief eine einfache Blume die Erinnerung an die früh Verstorbene mächtig in ihm wach. Die erste Zeit, die er in der Einsamkeit des Landlebens verbrachte, verknüpfte sich eng mit der ersten Zeit seines Lebens; denn er hatte seitdem nicht wieder der Natur so unbefangen und so tief in das holde, bezaubernde Antlitz geschaut. Auch seines Vaters, der nun gerade vor zwei Jahren, einsam, wie er gelebt hatte, gestorben war, gedachte er jetzt mit jener dankbaren Liebe, die leider immer erst dann in voller Blüte steht, wenn diejenigen, denen sie gebührt, sich nicht mehr an ihrem Dufte laben können; seines Vaters, der wunderlichen Pygmäengestalt, die der Sohn schon als achtzehnjähriger Jüngling um zwei Köpfe überragte; des menschenscheuen Sonderlings, der in der ganzen Stadt der »alte Kandidat« genannt wurde, und dessen schwarzen abgeschabten Frack, in dem er Sommer wie Winter einherging, jedes Kind auf der Straße kannte; des rätselhaften Mannes, der den reichen Schatz seines Wissens und seiner Güte gegen alle Welt verschloß, nur nicht gegen den Sohn, an dem er mit unsäglicher Liebe hing, den er mit der rührenden Zärtlichkeit einer Mutter hegte und pflegte, und für den ihm, dem als Geizhals Verschrieenen, nichts zu kostbar gewesen war.

Diese lieben und doch auch wieder schmerzlichen Erinnerungen zogen durch Oswalds Seele, während er in seinen Freistunden allein oder mit seinen Zöglingen im Garten, Feld und Wald umherstreifte, sich von Tag zu Tag mehr für das Landleben begeisterte, und wenn er des Morgens, ehe die Unterrichtsstunden begannen, noch schnell einmal in den Schloßgarten geeilt, in die taufrischen Kelche der Blumen geschaut und sich am Gesang der Vögel entzückt hatte, schlechterdings nicht mehr begreifen konnte, wie es die Menschen in den Städten, wie er selbst es nur jemals in der Stadt habe aushalten können.

Und in der Tat hätte Schloß Grenwitz und seine Umgebung auch wohl einem durch landschaftliche Schönheiten verwöhnteren Auge das lebhafteste Interesse abgewinnen müssen, obgleich es von den Touristen, die alljährlich die Insel durchschwärmten, niemals aufgesucht, höchstens von einem oder dem andern zufällig aufgefunden wurde, der sich dann nicht genug wundern konnte, wie ein so lieblicher und in vieler Hinsicht so merkwürdiger Punkt in seinem Reisehandbuche, in dem doch sonst jeder nichtsnutzige Gasthof verzeichnet stand, übergangen sein konnte, bloß weil er eine Meile von der großen Landstraße entfernt lag.

Das Schloß trägt noch bis auf den heutigen Tag die Spuren von dem Reichtum und der Macht des alten ritterlichen Geschlechts derer von Grenwitz, das seit undenklichen Zeiten hier begütert gewesen ist und die Burg zu seinem Schutz und den benachbarten Baronen zum Trutz in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts erbaute. Das untere Stockwerk des einen Flügels mit seinen riesigen Quadersteinen stammt noch aus dieser Zeit, ebenso wie der gewaltige runde Turm, in welchem jetzt das alte und neue Schloß zusammenstoßen. Das neue Schloß wurde gegen das Ende des siebzehnten Jahrhunderts in dem bizarren Stil jener Zeit gebaut und nimmt sich mit seinen verschnörkelten Säulen und wunderlichen Ornamenten neben dem alten schmucklosen Turm, mit welchem es jetzt in einer Front liegt, aus wie ein zierlicher Herr aus Louis XIV. Zeit neben einem eisengeharnischten Kämpen aus den Tagen von Crecy und Poitiers.

Ein zwanzig Fuß und darüber hoher Wall, der in ein noch weit ehrwürdigeres Alter hinaufragt als selbst der alte Turm, umgibt das Schloß in einem so weiten Kreise, daß es samt den Nebengebäuden von dem eingeschlossenen Raume nur den kleinsten Teil einnimmt. Der Wall ist jetzt längst schon in eine friedliche Promenade umgewandelt, über der hohe Buchen, Nußbäume und Linden ein dichtes Laubdach bilden. Der breite Graben, der ihn in seiner ganzen Ausdehnung umzieht, ist jetzt zum Teil versumpft, mit dichtem Röhricht angefüllt, und, wo das Wasser sich noch einen Raum frei gehalten, mit einem grünen Teppich von Wasserpflanzen bedeckt, in dem halbwilde Enten lustig schnattern. Offenbar hatte dieser Wall den Zweck gehabt, im Fall einer Fehde nicht nur die Hörigen der fehdelustigen Barone mit ihren Weibern und Kindern, sondern auch die Herden und die Vorräte zu schirmen; auch hatten bis zur Zeit des Neubaues die Wirtschaftsgebäude, die jetzt ziemlich entfernt vom Schlosse außerhalb des Walles lagen, innerhalb desselben gelegen. Damals hatte der Wall nur einen Durchgang gehabt, ein festes, mit einem Turm versehenes Tor, aus dem eine Zugbrücke über den Graben nach einem Brückenkopfe führte. Jetzt war der Turm abgetragen, die Brücke konnte nicht mehr aufgezogen werden, und aus dem Brückenkopfe hatte man längst Backöfen und andere nützliche Dinge gebaut. Von diesem Haupttor führte eine Allee vielhundertjähriger prachtvoller Linden auf das Portal des Schlosses zu. Rechts von der Allee und vor der Front des Schlosses war ein großer Rasenplatz, in dessen Mitte ein steinernes Becken mit einer Najade als Schutzpatronin stand, die, wahrscheinlich aus Schmerz, daß ihrem Brunnen schon seit einem halben Jahrhundert das Wasser fehlte, den Kopf verloren hatte.

Der ganze übrige Raum innerhalb des Walles war mit Gartenanlagen ausgefüllt, die aus der Zeit des Neubaues herrührten und mit ihren geraden Gängen, kunstvoll verschnittenen Taxushecken, Buchsbaumpyramiden und ihren Sandsteingöttern, die allen Regeln der Ästhetik und allen Gesetzen der Anatomie so naiv Hohn sprachen, den Charakter dieser Zeit deutlich genug dokumentierten. Hier und da freilich war ein Geist der Neuerung in die Anlagen gefahren. Der Buchs hatte seine verkrüppelten Glieder, so gut es gehen wollte, in eine naturgemäße Baumgestalt auszurenken versucht; die beiden Seiten eines Heckenganges hatten gemeinschaftliche Sache gemacht und sich zu einem undurchdringlichen Gestrüpp vereinigt; ein Gärtner, der für die stumme Sprache von Taxuspyramiden kein Verständnis mehr besaß und eine praktischere Richtung verfolgte, hatte, unbekümmert um den ästhetischen Eindruck, Äpfel-, Birnen-, Kirschen- und Pflaumenbäume gepflanzt, wo er gerade Platz fand, und hier und da seinen Gemüsebeeten den Luxus der Blumenrabatten geopfert. Eine Schwester der Najade im Hof war von Himbeer- und Stachelbeersträuchern fast überwuchert, aber sie hatte sich in ihr Schicksal zu finden gewußt, ihren Kopf behalten, und plauderte in stiller Nacht geschwätzig von der guten alten Zeit.

So hatte von dem Riesenwalle, der aus der grauen Heidenzeit stammte, bis zu den Spargelbeeten, die gestern angelegt waren, seit einem Jahrtausend jede Generation etwas zur Befestigung, Verschönerung oder Verbesserung dieses Wohnsitzes beigetragen. Vieles war spurlos verschwunden, vieles hatte sich erhalten; Altes hatte der Zeit gespottet, Neues war mit der Zeit alt geworden; aber da selbst das Älteste die Spuren des Lebens, der fortdauernden Nutzbarkeit trug, so war nirgends ein Sprung, ein Riß bemerkbar, und das Ganze machte den wohltuenden Eindruck, als ob es eben nicht anders sein könnte. Zwar seinen primitiven Charakter hatte das Schloß Grenwitz gänzlich eingebüßt, und wenn Oswald des Abends, von einem Spaziergang mit seinen Zöglingen zurückkommend, auf einer Stelle des Walles stehenblieb, von der er den schattigen, grasbewachsenen Hof, den blumenreichen Garten und das Schloß überblicken konnte, um dessen graue Mauern das Zwielicht wogte und die schnellen Schwalben zwitschernd kreisten, da glaubte er nicht die alte Stammburg fehdelustiger Barone, sondern das stille Klosterasyl beschaulicher Mönche vor sich zu sehen.


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