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Sechsundvierzigstes Kapitel

Eine Zeit fieberhafter Spannung war für die vor kurzem noch so stille Gesellschaft auf Schloß Grenwitz hereingebrochen. Brunos plötzlicher Unfall, von dem er sich übrigens schon am nächsten Tage erholte, hätte für den Scharfsichtigeren ein Symptom von dem sein können, was da alles unter der glatten Hülle geselliger Höflichkeit und peinlich genau beobachteter Formen in der Tiefe gärte und kochte: geheime Liebe und tief versteckter Haß! Feindschaften unter der Maske trefflichsten Einvernehmens und guter Kameradschaft! Herzliche Sympathien, die sich unter dem Anschein von Gleichgültigkeit, ja Abneigung verbargen! Selbst die Physiognomie des äußeren Lebens war verändert. Die tiefe, fast beängstigende Stille, die sonst in dem weiten Raume herrschte, den der Schloßwall einschloß, wurde jetzt gar vielfach gestört. Baron Felix mochte es sich nicht versagen, wenigstens einer oder der andern seiner gewohnten Beschäftigungen in der Einsamkeit von Schloß Grenwitz nachzuhängen. Am Tage nach seiner Ankunft waren seine beiden schönen Reitpferde glücklich angelangt, und so konnten bei den weiteren Ausflügen wenigstens zwei der Herren beritten gemacht werden. In einem entlegeneren Teile des Gartens war unter seiner Leitung ein kleiner Schießstand hergerichtet worden, und in den späteren Nachmittagsstunden ertönte jetzt sehr oft (zu der Baronin geheimem Entsetzen) der kurze, scharfe Knall gezogener Pistolen bis in die geheiligte Stille der nach dem Garten gelegenen Wohngemächer. Oswald, Albert und selbst Bruno waren in keinem Augenblick vor Felix sicher, der fortwährend auf der Jagd nach einem Gefährten zu dieser oder jener Unternehmung war, und stets so lange bat und quälte, bis man sich wohl oder übel seinen Wünschen fügte.

Mit der Änderung seines Lebens, über die er mit der Baronin so viel korrespondiert hatte, war es ihm keineswegs Ernst. Das Garnisonsleben war ihm langweilig geworden; die Schar der Gläubiger immer dringender und seine Situation derart, daß, als er betreffenden Orts um längeren Urlaub einkam, man ihm zu verstehen gab, er täte, wenn seine Gesundheit wirklich so angegriffen sei, vielleicht besser, sogleich seinen Abschied zu nehmen. Gerade in dieser kritischen Zeit machte ihm die Baronin von Grenwitz ihre Anerbietung betreffs Helenes. Felix, der hier einen Ausweg fand, an den er noch gar nicht gedacht hatte – denn Anna-Marias Gemütlosigkeit in Geldangelegenheiten war ihm aus Erfahrung bekannt – griff mit beiden Händen zu, obgleich eine Heirat nicht eben nach seinem Geschmacke war. Indessen war er bereit, sich auf jeden Fall auch in diese Bedingung zu fügen. Wie angenehm war er deshalb überrascht, als ihm in seiner Cousine, die er bis dahin nicht gekannt hatte, ein Wesen entgegentrat, schöner, anmutiger als irgendeine der Damen, die er bisher mit seiner Neigung beehrt hatte – ein Wesen, das, die Seine zu nennen, den Stolzesten der Stolzen entzückt haben würde. So waren denn nicht zwei Tage vergangen, als Felix für seine schöne Cousine in seinem Herzen eine Leidenschaft fühlte, die freilich, genau betrachtet, bloße Eitelkeit war, ihm selbst aber wie ein Wunder vorkam; und so konnte er denn nicht müde werden, die Baronin von seiner Liebe zu unterhalten und sich auch gegen die übrigen, besonders Oswald, über die Herrlichkeit eines auf das Höchste gerichteten Strebens auszulassen. Er zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß seine Leidenschaft erwidert werde. Hatte er nicht bis jetzt noch überall reüssiert? War sein Glück bei den Frauen nicht sprichwörtlich selbst unter den Kameraden, von denen sich doch so ziemlich jeder einzelne für einen Paris oder Adonis hielt? Und hatte er nicht schon so oft erfahren, daß sich die Liebe hinter dem Anschein der Gleichgültigkeit, ja der Abneigung verbirgt? Freilich trieb seine schöne Cousine die Komödie ziemlich weit; freilich behandelte sie ihn mit einer Kälte, einer Geringschätzung, die manchmal geradezu beleidigend war – aber er ließ sich dadurch in dem felsenfesten Glauben an seine unwiderstehliche Liebenswürdigkeit nicht beirren und verspottete die Baronin, wenn diese ihn wieder und wieder zur Vorsicht ermahnte. Denn Anna-Maria sah, da keine persönliche Eitelkeit die Klarheit ihres Blickes trübte, in dieser Angelegenheit viel schärfer als Felix. Sie, die an sich selbst die Energie des Charakters so hoch schätzte, mußte im stillen die konsequente Gleichmäßigkeit in Helenens Betragen, die bescheidene Festigkeit, mit der sie ihre Ansichten aussprach und behauptete, bewundern. Es war ein Etwas in der stolzen Schönheit ihrer Tochter, wovor sie sich unwillkürlich beugte.

Helene war nach jenem Abend am Strande womöglich noch stiller und zurückhaltender geworden. Sie flüchtete, wenn sie irgend konnte, in die Einsamkeit ihres Zimmers. War sie in der Gesellschaft, schloß sie sich am liebsten an ihren Vater an, oder suchte es auf den Spaziergängen so einzurichten, daß Bruno ihr Begleiter war. Sie hatte stets einen kleinen Dienst für ihn: Bald mußte er ihr den Hut, bald die Mantille tragen; bald hatte er ihr eine Blume zu pflücken, die auf der andern Seite des Grabens wuchs; bald ihr an einer steileren Stelle des Ufers die Hand zu reichen. Bruno unterzog sich dem Dienste mit einem milden Ernst, der freilich den Spott des Baron Felix zuweilen herausforderte, für jeden aber, der sich für den Knaben interessierte und die wilde Unbändigkeit seiner Natur kannte, etwas unendlich Rührendes hatte. Sein Wesen schien wie umgewandelt, sobald Helenes Blick auf ihm ruhte. Er war dann sanft und freundlich, dienstfertig und zuvorkommend; ein Wort von ihr, ein Wink nur ihrer langen, dunklen Wimpern genügte, ihn, wenn er sich ja einmal von seiner alten Heftigkeit hinreißen ließ, sofort zu besänftigen. Diese Heftigkeit machte sich vor allem gegen Felix Luft, gegen den er einen Haß und eine Verachtung empfand, die er sich kaum zu verbergen bemühte. Stets hatte er ein höhnisches, bitteres Wort für ihn in Bereitschaft; die mancherlei kleinen Blößen, die jener sich in seiner maßlosen Eitelkeit der Gesellschaft gegenüber gab, fanden in Bruno einen unerbittlichen, grausamen Verfolger, der um so lästiger war, als seine Jugend ihn nicht als ebenbürtigen Gegner erscheinen ließ, gegen den man nicht mit anderen Waffen kämpfen konnte als höchstens mit einem von oben herab geführten Hiebe, der meistens ganz vortrefflich pariert wurde. Felix selbst empfand dies einigermaßen, und wenn ihm der Knabe auch nicht gefährlich erschien, so war er ihm doch im hohen Grade unbequem. Wo Helene war, da war auch Bruno, und traf es sich ja einmal auf den Spaziergängen, daß sie allein zurückgeblieben war, und war Felix eben im besten Zuge, von der Liebe im allgemeinen – denn weiter war er noch nicht gekommen – zu sprechen, so gesellte sich wie auf Verabredung Bruno zu ihnen, und Felix, der von Botanik und Mineralogie nicht das mindeste verstand, blieb nichts übrig, als die beiden ihren naturwissenschaftlichen Bestrebungen zu überlassen. Wie würde er sich gewundert haben, wenn er gehört hätte, daß diese Verhandlungen abgebrochen wurden, sobald er aus dem Gehörkreise war; daß Bruno, die Blume, über die sie soeben gesprochen hatten, zerraufend, durch die Zähne sagte: »Sieh, Helene, so zerreißest du mein Herz, wenn du schwach genug bist, diesen Felix zu lieben!« – »Das alte Lied, Bruno?« – »Ja, das alte Lied; und ich will dir es singen, solange ich noch Atem in der Brust habe: Meinst du, ich weiß nicht, was es bedeutet, wenn Tante und Felix die Köpfe zusammenstecken sind von Zeit zu Zeit verstohlen auf dich blicken? Oh, mein Auge ist scharf, und mein Ohr ist es nicht minder. Gestern, als ich an ihnen vorüberstrich, meinte der saubere Herr: Sie wird schon zur Vernunft kommen! Sie – das bist du: und zur Vernunft kommen, heißt: sie wird ihren Stolz so weit vergessen, und einen solchen jämmerlichen eitlen Pfau, wie ich bin, heiraten.« – »Aber wie kommst du nur auf diese Gedanken, Bruno?« – »Nun, ich dächte, sie lägen nahe genug; und dir gehen sie auch durch den Kopf, oder weshalb blicktest du oft so in dich versunken vor dich hin und dann plötzlich zu Felix oder zu Oswald hinüber, als ob du sie miteinander verglichest. Ja, vergleiche sie nur immer! Du wirst dann den Unterschied entdecken zwischen einem Manne und – einem Affen.« – »Du hast wohl Herrn Stein sehr lieb, Bruno? Ist er denn immer so still und traurig, wie jetzt?« – »Bewahre, er kann so ausgelassen sein wie ein Füllen, ich weiß nicht, was ihm fehlt, oder ich weiß es wohl, aber –« »Aber?« – »Aber ich darf es nicht sagen; oder ja, dir darf ich es sagen, denn du bist nicht wie die anderen Menschen. Mir ist immer, als müßtest du mir ins Herz sehen dürfen, wie sie sagen, daß uns Gott ins Herz sieht.« – »Bruno, ich will nicht, daß du ein Geheimnis verrätst.« – »Ich verrate nichts, denn Oswald hat mir nie ein Wort gesagt. Ich weiß nur, daß er so still und traurig ist, seitdem Tante Berkow fort ist. Es wurde doch heute mittag darüber gesprochen, wie lange sie wohl noch fortbleiben, ob sie wohl nach Herrn von Berkows Tode wieder heiraten würde, und da sah ich, wie Oswald sich entfärbte und während des ganzen Gespräches die Augen nicht von seinem Teller hob. Und dann, als Felix meinte, daß Baron Oldenburg, der ja auch, wie er ganz zufällig durch einen Freund erfahren, nach Fichtenau gereist sei, vielleicht darüber nähere Auskunft geben könnte, hob er schnell, mit einem zornigen Blick zu Felix hinüber, den Kopf und öffnete den Mund, als ob er etwas sagen wollte; aber er sagte nichts und biß sich in die Lippen; und heute abend ist er noch ganz besonders verstimmt.« – »Und das alles heißt?« – »Das alles heißt, daß Oswald Tante Berkow sehr lieb hat und daß er nicht mag, wenn über sie gesprochen wird; ebensowenig wie ich es mag, wenn Tante und Felix über dich sprechen.« – »Ach, du weißt ja nicht, was du redest.« – »Natürlich, das ist immer das Ende vom Liede; ich weiß nichts; ich bin ein dummer Junge; heisa, heisa, hopsasa! Ich habe keine Ohren zu hören, keine Augen, zu sehen? Warum? Weil ich erst sechzehn Jahre alt bin und mein Bart noch einiges zu wünschen übrigläßt.«

Ob Helene über diese Mitteilung im stillen nicht doch eine Art von Enttäuschung empfand, ob sie die Melancholie in Oswalds großen blauen Augen nicht doch anders erklärt hatte – darüber hätte sie selbst keine Rechenschaft zu geben vermocht; auf jeden Fall aber wurde das Interesse, das sie seit dem Abend am Strande für Oswald zu empfinden begonnen, bedeutend erhöht. Sie fing an, ihn genauer als vorher zu beobachten; sie war aufmerksam auf jedes seiner Worte; sie sang und spielte vorzugsweise gern die Lieder und Musikstücke, die seinen Beifall hatten; sie freute sich, als er wieder wie früher des Morgens in den Garten kam, und empfand es mit einiger Genugtuung, daß der jetzt so Schweigsame bei diesen Gelegenheiten stets gute freundliche Worte für sie hatte und auf jedes von ihr angegebene Thema, bald ernst, bald launig, immer aber mit dem herzlichen Ton eines älteren Bruders einging, der einer lieben Schwester gern von seinem reicheren Wissen mitteilt. Und wenn das stolze, für alles Schöne und Edle tief empfängliche Herz des jungen Mädchens sich dem Zauber von Oswalds Persönlichkeit nicht zu entziehen vermochte, so war es auf der andern Seite Opposition gegen die ihr immer deutlicher werdenden Pläne ihrer Mutter, was sie gerade jetzt an einem Manne, über welchen ihr aristokratisches Auge doch sonst wohl weggeblickt hätte, ein höheres Interesse nehmen ließ. Die verschiedenartigsten Empfindungen bekämpften sich in ihrem Herzen, wie oft an einem tiefblauen Sommerhimmel leichte graue Wolken durcheinander treiben und fließen, bis der Sturm in seiner Vollgewalt hereinbricht.


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