Henryk Sienkiewicz
Quo vadis?
Henryk Sienkiewicz

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22.

Als Vinicius kräftiger wurde, zeigte sich Lygia seltener an seinem Krankenlager. Eine gewisse Unruhe kam über sie. Wenn sie sah, wie die Blicke des Kranken flehend an ihren Zügen hingen, wenn sie sah, wie er auf ein Wort aus ihrem Munde wartete, wie auf eine Erlösung, dann erfüllte tiefes Mitleid ihr Herz. Je mehr sie ihn mied, desto inniger dauerte er sie, desto wärmer wurden die Empfindungen, die sich in ihr für ihn regten. Sie mußte sich eingestehen, daß er ihr immer teurer wurde, und daß es sie Überwindung kostete, ihm fernzubleiben. Eines Tages gewahrte sie Tränenspuren an seinen Wimpern, und die Lust kam sie an, sie mit ihren Küssen zu trocknen. Über sich selbst erschrocken und von Selbstverachtung erfüllt, brachte sie die folgende Nacht schlaflos zu.

Manchmal empfand sie auch den Wunsch, mit ihm über sein zukünftiges Leben zu sprechen, und eines Abends begann sie ihm zu erzählen, daß nur der christliche Glaube wahres Glück verleihen könne. Vinicius aber, der mit der Zeit kräftiger geworden war, richtete sich auf seinem gesunden Arm empor und legte plötzlich sein Haupt auf ihre Knie.

»Du bist das Glück und das Leben!« rief er. Da versagte ihr der Atem, und ein Wonneschauer durchrieselte sie. Sie neigte sich über ihn, so daß ihre Lippen sein Haar berührten, und so verweilten sie eine Weile glückselig in der Liebe versunken, die eines zu dem anderen drängte.

Endlich raffte sich Lygia auf und eilte davon. Ihre Pulse flogen, ihr Kopf schwindelte. Dieser Vorgang war der letzte Tropfen, der den schäumenden Kelch zum Überfließen brachte. Vinicius ahnte nicht, wie teuer er diesen süßen Augenblick werde bezahlen müssen. Nach einer in heißem Gebete, in glühenden Tränen verbrachten Nacht rief Lygia Crispus in die efeuumrankte Laube und enthüllte ihm dort ihren Seelenzustand. Flehentlich bat sie, man möge ihr erlauben, Miriams Haus zu verlassen, da sie sich selber nicht mehr traue und die Liebe zu Vinicius nicht mehr aus dem Herzen reißen könne.

Crispus, ein alter, strenger Mann, fand nicht allein keine Worte der Vergebung für diese Liebe, die ihm sündhaft schien, sein Herz schwoll vor Entrüstung bei dem bloßen Gedanken, Lygia, die reine Lilie, hege eine irdische Liebe.

»Geh hin und flehe zu Gott, daß er dir deine Schuld verzeihe,« sagte er düster. »Gott starb für dich am Kreuze, und du öffnest dein Herz der Lust und hast einen Sohn der Finsternis liebgewonnen. Möge dir Gott verzeihen, aber ich, der ich dich für eine Auserwählte hielt . . .«

Er hielt inne, denn er gewahrte, daß sie nicht mehr allein waren. Zwei Männer hatten sich der Laube genähert, deren einer der Apostel Petrus war.

Der Gefährte des Apostels warf nun den Mantel zurück, so daß sein kahlköpfiges Haupt sichtbar wurde. Crispus betrachtete aufmerksam das hagere Gesicht des Mannes, die geröteten Augenlider, die gebogene Nase, die unschönen und doch geistvollen Züge, und er zweifelte nicht mehr, daß er Paulus von Tarsos vor sich habe.

Lygia war in die Knie gesunken, sie schmiegte ihr gequältes Köpfchen in die Mantelfalten des Apostels und weinte schweigend.

Petrus jedoch sagte: »Der Friede sei mit euch.«

Und als er das Kind zu seinen Füßen liegen sah, fragte er, was geschehen sei. Crispus erzählte nun alles, was Lygia ihm offenbart hatte, und daß diese junge Seele, die er gehofft hatte, rein wie eine Träne zu erhalten, in irdischer Liebe zu einem sündhaften Manne entbrannt sei.

»Crispus,« sagte der große Apostel, »weißt du nicht, daß unser geliebter Meister auf der Hochzeit zu Kana war und die Liebe zwischen Mann und Weib segnete?«

Crispus ließ die Hände sinken, keiner Erwiderung fähig. Lygia aber schmiegte sich schluchzend noch dichter an Petrus; sie fühlte, daß sie hier nicht umsonst Zuflucht gesucht habe.

Da hob Petrus ihr tränenüberströmtes Antlitz zu sich empor und sprach: »Meide ihn, so lange sein Auge sich der Wahrheit verschließt, daß er dich nicht auf Abwege führe. Aber bete für ihn und wisse, daß deine Liebe keine Sünde ist. Und gräme dich nicht, denn ich sage dir, die Gnade des Erlösers hat dich nicht verlassen und Tage der Freude werden noch für dich kommen!« Dann legte er beide Hände auf ihr gesenktes Haupt und segnete sie.

 


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