Henryk Sienkiewicz
Quo vadis?
Henryk Sienkiewicz

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17

Es dunkelte bereits, als die drei in die Nomentanische Straße einbogen, und da der Mond noch nicht aufgegangen war, hätten sie schwerlich den Weg gefunden, wenn nicht, wie Chilon vorausgesehen hatte, die Christen selbst denselben gewiesen hätten. Rechts, links und vor sich erblickten sie dunkle Gestalten; sie alle schienen behutsam den Sandgruben zuzusteuern. Je mehr der junge Patrizier mit den Gefährten seinem Bestimmungsorte näher kam, desto mehr Leute traf er auf dem Wege. Sein Herz begann heftig zu schlagen, als einige der Vorübergehenden sagten: »Der Friede sei mit euch!« oder: »Gelobt sei Christus!« denn er glaubte Lygias Stimme zu hören, doch sah er sich in seiner Vermutung getäuscht.

Der Weg kam Vinicius sehr lang vor. Die Gegend war ihm wohlbekannt, aber im Finstern fand er sich nicht zurecht. Alle Augenblicke kamen schmale Durchgänge, Mauerüberreste oder Gebäude, deren er sich in der Umgebung der Stadt nicht erinnerte. Endlich zeigte sich der Mond durch das angesammelte Gewölk und erhellte den Weg besser als die matten Laternen. In der Ferne flammte ein Feuerstoß auf.

Die vorsichtige, geheimnisvolle Weise, mit der sich die Glaubensgenossen Lygias versammelten, um den Lehren des großen Apostels zu lauschen, setzte Vinicius in Staunen, so daß er zu Chilon bemerkte: »Wie alle Glaubenslehren, hat auch das Christentum Anhänger unter uns; die Christen aber sind eine jüdische Sekte. Warum versammeln sie sich hier, während die Juden in ihren Tempeln jenseits des Tiber am hellen Tage Opfer darbringen?«

»Nein, Herr, die Juden sind ihre bittersten Feinde. Wie ich hörte, soll es vor der Regierung Neros fast zu einem Kampfe zwischen Juden und Christen gekommen sein, so daß sich der Kaiser Claudius veranlaßt sah, alle Juden auszuweisen. Jetzt ist das Edikt wieder erloschen. Die Christen aber trauen den Juden und der übrigen Bevölkerung nicht, die sie allerlei Verbrechen beschuldigt.«

Sie betraten jetzt eine schmale Sandgrube, welche auf zwei Seiten wie von Wällen eingeschlossen war, über die sich an einer Stelle Wasserleitungsbogen wölbten. Der Mond war inzwischen hinter den Wolken hervorgetreten, und am Ende der Grube erblickte man eine Mauer, von Efeu umrankt, die im Mondschein silbern schimmerte. Hier war das Ostranium.

Des Vinicius Herz pochte.

Beim Tore nahmen zwei Totengräber die Zeichen ab. Vinicius betrat mit seinen Begleitern einen ziemlich ausgedehnten, von allen Seiten mit Mauern umgebenen Raum. Hie und da standen Grabsteine, in der Mitte aber erblickte man das eigentliche Hypogeum, die Krypta, welche in ihrem niederen Teile unter der Oberfläche lag, auf der sich die Grabhügel befanden; vor dem Eingange der Krypta sprudelte ein Springbrunnen. Da in dem Hypogeum offenbar nur eine geringe Anzahl von Personen Platz finden konnte, dachte sich Vinicius sofort, der Apostel werde unter freiem Himmel im Vorhof sprechen, in dem sich schon eine große Menschenmenge angesammelt hatte. So weit das Auge reichte, sah man Laterne an Laterne flimmern, aber es gab auch Leute, die ohne Licht gekommen waren. Nur wenige enthüllten das Haupt; die meisten blieben, sei es aus Furcht vor Verrätern, sei es der Kühle wegen, in ihre Kapuzen gehüllt, und der junge Patrizier dachte voll Besorgnis, daß es ihm bei diesem Gedränge, in dem schwachen Lichtschein, kaum möglich sein werde, Lygia herauszufinden.

Da wurden plötzlich vor der Krypta einige Pechfackeln angezündet und zu einem kleinen Stoß zusammengelegt. Es wurde heller. Die Menge begann zuerst leise, dann immer lauter eine seltsame Hymne zu singen, und dieser Gesang wirkte mächtig auf Vinicius ein: er hatte noch niemals etwas Ähnliches gehört. Es schien ein bestimmtes nächtliches, demütiges Gebet um Rettung in der Wanderschaft und Dunkelheit zu sein. Nachdem der Gesang verstummt war, trat eine solche erwartungsvolle Stille ein, daß Vinicius und seine Gefährten unwillkürlich nach den Sternen blickten, als ob sich dort etwas Ungewöhnliches ereignen müsse, als ob wirklich jemand zu ihnen herabsteigen werde. Noch nie zuvor hatte Vinicius Menschen gesehen, die mit solcher Inbrunst zu ihrer Gottheit flehten, die nicht beteten, um die vorgeschriebenen Gebräuche zu erfüllen, nein, die aus tiefstem Herzen beteten, gleich Kindern, die sich nach Vater und Mutter sehnen. Man hätte blind sein müssen, um nicht zu sehen, daß diese Schar ihren Gott nicht nur verehrte, sondern von ganzer Seele liebte.

Wie sehr auch Vinicius an Lygia dachte, so erregten die wunderbaren, außergewöhnlichen Vorgänge um ihn her doch seine Aufmerksamkeit. Man hatte neuerdings einige Fackeln auf die andern gelegt, deren rötliches Licht die Stätte erhellte und den Laternenglanz verdunkelte. Gleichzeitig trat ein Greis aus dem Hypogeum. Er trug einen Kapuzenmantel, aber sein Haupt war unbedeckt. Er bestieg einen Stein, der vor den brennenden Fackeln lag.

Unter der Menge entstand bei seinem Erscheinen eine Bewegung, und Stimmen in der Nähe des Vinicius flüsterten: »Petrus! Petrus!« Einige knieten nieder, andre streckten die Hände nach ihm aus. Es entstand eine tiefe Stille; man konnte das Herabfallen verkohlter Holzstückchen von den Fackeln hören, das Rollen der Räder auf der entfernten Nomentanischen Straße und das Rauschen des Windes in den wenigen Pinien, die um den Friedhof wuchsen.

Chilon wendete sich zu Vinicius und flüsterte: »Das ist er! Der erste Jünger Christi, ein Fischer.«

Der Greis erhob die Hände und machte das Zeichen des Kreuzes über die Anwesenden, die vor ihm in die Knie fielen. Vinicius und seine Begleiter taten dasselbe, um sich nicht zu verraten, wie einfach und doch wie außergewöhnlich erschien ihm diese greisenhafte Gestalt, deren mächtige Wirkung wohl gerade aus der Einfachheit entsprang! Der ganze Glaube spiegelte sich auf den Zügen dieses einfachen, alten, unermeßlich ehrwürdigen Greises, der aus weiter Ferne gekommen war, um Zeugnis abzulegen für eine Lehre, deren Wahrheit ihn erfüllte. Vinicius aber, der mit aller Gewalt sich dem Zauber zu entziehen versuchte, den der alte Mann auf ihn ausübte, harrte mit fast fieberhafter Spannung darauf, was dieser Jünger des geheimnisvollen Christus verkünden werde, was das für eine Lehre sei, der Lygia und Pomponia Graecina anhingen.

Inzwischen begann Petrus zu sprechen, wie ein Vater, der seine Kinder ermahnt und ihnen Ratschläge erteilt. Er gebot ihnen, Luxus und Vergnügungen zu meiden, Armut und die Wahrheit zu lieben, auf Reinheit der Sitten zu achten, Unrecht und Verfolgung geduldig zu ertragen, der Obrigkeit zu gehorchen, sich nicht des Verrats, der Heuchelei und der Verleumdung schuldig zu machen und nicht nur den Brüdern und Schwestern, sondern auch den Heiden mit gutem Beispiel voranzugehen. Vinicius dünkte jetzt, der Mann verdamme durch das Gebot, auf Reinheit der Sitten zu achten, seine Liebe zu Lygia, und er sagte sich, wenn das junge Mädchen dieser Versammlung beiwohne und diese Lehre vernehme, daß sie ihn als einen Feind der heiligen Lehre betrachten müsse. Bei diesem Gedanken erfaßte ihn neuer Zorn, und er versuchte sich einzureden, daß alle diese Lehren auch von den Zynikern und Stoikern ausgesprochen würden. Aber der Greis sprach weiter. Er beschwor die lauschende Schar, gut, friedfertig, gerecht und sittenrein zu bleiben und nicht nach Reichtümern zu trachten. Er lehrte, daß es sich nicht nur um das Erdenleben handle, nein, daß sie an das Leben in Christus nach dem Tode denken müßten, an das ewige Leben, dessen Wonne und Seligkeit niemals auf der Erde empfunden werden könne. Und der Apostel erklärte der andächtigen Gemeinde weiter, daß man Tugend und Wahrheit um ihrer selbst willen lieben müsse, denn das Gute, das von Ewigkeit her sei und in Ewigkeit dauern werde, das sei Gott; wer daher die Tugend und das Gute liebe, der liebe auch Gott und werde dadurch ein Kind Gottes. Vinicius konnte dies nicht gut begreifen, allein er hatte schon Pomponia Graecina dem Petronius sagen hören, daß nach dem Glauben der Christen dieser Gott einzig und allmächtig sei. Als er nun auch hörte, dieser Gott sei gut und gerecht, war es kein Wunder, wenn im Vergleich mit diesem Demiurgos die ganze Götterschar: Jupiter, Saturn, Apollo, Juno, Vesta und Venus als eine eitle, Lärm machende Schar erschien. Doch die größte Verwunderung erfaßte den jungen Mann, als er die Worte des Apostels hörte, Gott sei die Liebe, wer daher seine Mitmenschen liebe, der erfülle das göttliche Gebot. Es genüge jedoch nicht, nur seinen eigenen Volksstamm zu lieben, denn der Gottmensch habe sein Blut für alle vergossen und auch unter den Heiden Anhänger gefunden, zum Beispiel den Centurio Cornelius; es genüge auch nicht, die zu lieben, die uns wohltun, denn Christus habe den Juden vergeben, trotzdem sie ihn ans Kreuz schlugen. Die Lehre gebiete auch, denen zu vergeben, die uns kränken, und Böses mit Gutem zu vergelten; nur durch die Liebe allein könne man das Böse bekämpfen.

Vinicius fühlte sich innerlich immer mehr beunruhigt. Er fühlte, wenn er dieser Lehre gerecht werden wollte, müßte er einen Scheiterhaufen errichten und seinen ganzen Menschen darauf verbrennen, und ein ganz anderes Leben müßte er beginnen. Wie alle Menschen, die von einer Leidenschaft völlig beherrscht werden, dachte er auch jetzt nur an Lygia, und zum ersten Male, seit er sie bei Aulus und Pomponia gesehen, hatte er die Empfindung: wenn Lygia auf dem Friedhof war, wenn sie diese Lehre bekannte, hörte und fühlte, dann konnte er sie nie gewinnen, auch wenn er sie fand. Seine Unruhe verwandelte sich in stürmischen Zorn gegen die Christen im allgemeinen und gegen den Greis im besonderen. Jener Fischer, den er im ersten Augenblick für einen einfachen alten Mann gehalten hatte, erfüllte ihn jetzt mit Angst.

Ein Totengräber legte unauffällig wieder einige Fackeln auf das Feuer; der Wind hatte aufgehört, in den Pinien zu rauschen, so daß die Flamme als gleichmäßige, schlanke Zunge zu den Sternen am wolkenlosen Himmel emporstieg. Der Greis erzählte nun vom Tode des Erlösers.

Alle hielten den Atem an. Dieser alte Mann war ein Augenzeuge gewesen, und er erzählte wie einer, dem noch jeder Moment gegenwärtig ist, der sich jeder Einzelheit erinnert. Die Anwesenden hatten zwar schon oft vom Martertode des Erlösers sprechen gehört und sie wußten, daß der Trauer Seligkeit gefolgt war; aber den Apostel selbst davon zu hören, machte einen so mächtigen Eindruck, daß sie schluchzend an ihre Brust schlugen. Erst allmählich beruhigten sie sich, als der Wunsch, noch mehr zu hören, den Sieg davontrug. Der Greis schloß die Augen, wie um die fernabliegenden Dinge besser zu sehen, und fuhr fort: »Als wir um den Toten wehklagten, stürzte Maria aus Magdala mit aufgelöstem Haar zu uns herein und rief, sie habe den Herrn gesehen. Des großen Glanzes wegen konnte sie ihn nicht erkennen und dachte, es wäre der Gärtner, er aber sprach: Maria! – Da rief sie aus: Meister! und fiel ihm zu Füßen, er aber hieß sie zu den Jüngern gehen und verschwand. – Die Jünger aber glaubten ihr nicht, und als sie vor Freude weinte, tadelten sie einige, und andere dachten, der Schmerz habe ihr die Sinne verwirrt, denn sie versicherte auch, Engel am Grabe gesehen zu haben. Als aber die Jünger zum zweitenmal dahineilten, fanden sie das Grab leer. Abends kam Kleophas, der mit den andern nach Emmaus gegangen war, und sie kamen zurück, so schnell sie konnten, und riefen: wahrhaftig, wir haben den Herrn gesehen, er ist auferstanden! – Und sie versammelten sich hinter verschlossenen Türen, aus Angst vor den Juden. Da stand er plötzlich unter ihnen, ohne daß sich die Türen bewegt hätten, und als sie erschraken, sprach er: Der Friede sei mit euch.«

* * *

»Und ich sah ihn, wie alle ihn sahen, und er war wie das Licht und wie das Glück unserer Herzen, denn wir glaubten jetzt, daß er auferstanden war, – und wir wußten, daß die Meere austrocknen werden und die Berge in Staub zerfallen. Sein Name aber wird nicht vergehen in alle Ewigkeit.«

* * *

»Und am achten Tage legte Thomas die Finger in seine Wunden und die Hand in seine Seite, dann fiel er ihm zu Füßen und rief: Mein Herr und mein Gott! Dieser aber sprach: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig, die nicht sehen und doch glauben! Und wir hörten diese Worte und wir sahen ihn, denn er war in unserer Mitte.«

* * *

Vinicius war von diesen Worten eigentümlich berührt. Er vergaß für einen Augenblick, wo er war, er verlor das Gefühl für Wirklichkeit, Maß und Urteil. Er konnte nicht glauben, was der Greis gesagt hatte, und doch fühlte er, daß man blind sein müßte, um zu denken, daß dieser Greis, der versicherte: Ich habe gesehen! – gelogen haben könnte. Es war dem jungen Manne zuweilen, als ob er träume. Doch ringsumher sah er die stille Menge; der brenzlige Geruch der Laternen drang ihm in die Nase; vor ihm flammten die Fackeln, und nebenan stand auf dem Stein ein alter Mann mit zitterndem Kopfe, der, Zeugnis ablegend, immer wiederholte: Ich habe gesehen!

Er berichtete weiter über alles bis zur Himmelfahrt. Manchmal ruhte er aus, denn er erzählte sehr ausführlich, aber man merkte, daß jede kleinste Einzelheit sich in sein Gedächtnis eingegraben hatte wie in einen Stein. Die Zuhörer schlugen die Kapuzen zurück, um keines seiner Worte zu verlieren. Und als der Apostel von der Himmelfahrt redete und erzählte, wie der Erlöser emporgehoben worden sei, wie ihn die Wolken endlich vor den Blicken der Apostel verhüllt hatten: da richteten sich aller Augen unwillkürlich in höchster Erwartung gen Himmel, als ob sie ihn zu sehen hofften, als ob er herniedersteigen werde, um zu sehen, wie sein Jünger die ihm anvertrauten Schäflein hüte, und um den Hirten und seine Herde zu segnen.

Für diese ganze Gemeinde gab es in dem Augenblicke kein Rom, keinen wahnwitzigen Kaiser, es gab für sie keine Tempel, keine Götter, keine Heiden, nur einzig und allein Christus, der das Land, das Meer, Himmel und Welt erfüllte.

In den entfernt gelegenen Häusern an der Via Nomentana krähten die Hähne. Mitternacht war nahe. In diesem Augenblick zog Chilon den jungen Patrizier am Mantel und flüsterte ihm zu: »Herr, dort, nicht weit von dem Alten, sehe ich Urban, und neben ihm steht ein Mädchen.«

Vinicius erwachte wie aus einem Schlummer, er schaute in der von dem Griechen bezeichneten Richtung und erblickte Lygia.

 


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