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Vier Räuber überfielen mich –
Wer war bedrängter wohl, als ich?
Ich schrie, indeß mich ihre Hand
Auf einen weißen Zelter band.
Coleridge.
Abenteuer dieser Art, wie sie jetzt nur in den Schöpfungen der Phantasie leben, waren zur Zeit des Feudalsystems nichts Ungewöhnliches, wo die Macht dem Rechte so gänzlich überlegen war. Natürlich aber folgte daraus, daß diejenigen, deren Lage sie häufigen Gewaltthätigkeiten aussetzte, denselben schneller zu widerstehen und sie mit mehr Fassung zu ertragen wußten, als man sonst von ihrem Alter und Geschlecht hätte erwarten sollen.
Eveline fühlte, sie war eine Gefangene, auch war sie über den Zweck dieses Ueberfalls durchaus nicht ohne Besorgniß. Allein weder ihre Unruhe, noch die gewaltthätige Art ihrer Entführung raubte ihr die Macht der Ueberlegung und Beobachtung. Nach dem sich vermehrenden Geräusche der Hufe zu schließen, war der größere Theil der Räuber, welche sie angegriffen hatten, zu Pferde gestiegen. Sie wußte, dies war der eigenthümliche Kunstgriff der Walliser Streifparthien. Machte auch die Kleinheit und Schwäche ihrer Pferde sie durchaus unpassend zum Kriegsdienste, so benützten sie ihre leichtfüßige Schnelligkeit, um den Schauplatz ihrer Räubereien mit der nothwendigen Eile zu erreichen und wieder zu verlassen. Diese Thiere durchschritten ohne Schwierigkeit, selbst unter der Last eines schweren Kriegers, schnell und leicht die wilden Bergpässe, in denen Eveline Berengar sich jetzt befand, wie sie aus dem Schritte ihres Zelters schloß, den ein Mann zu Fuß am Zügel führte, indeß das Pferd bald eine steile Anhöhe mühsam erklimmen, bald wieder mit noch größerer Gefahr an der Seite hinabsteigen mußte.
In einem solchen Augenblicke redete sie eine Stimme, die ihr bisher noch nicht aufgefallen war, in angelsächsisch-normännischem Dialekte an, und fragte mit scheinbarem Antheile, ob sie fest und sicher auf ihrem Sattel säße; wo nicht, so solle es nach ihrer Bequemlichkeit geändert werden.
»Spottet nicht meiner Lage, indem Ihr sie sicher nennt!« sagte Eveline. »Ihr könnt wohl glauben, daß ich diese gewaltthätigen Handlungen nicht mit meiner Sicherheit übereinstimmend halte. Habe ich oder einer meiner Vasallen vielleicht einem Eures Stammes Unrecht gethan, so laßt es mich wissen, und es soll vergütet werden. Verlangt Ihr Lösegeld, so nennt die Summe; ich will Befehl geben, sie herbei zu schaffen. Haltet mich indeß nicht in Gefangenschaft, es beleidigt nur mich und kann Euch nichts helfen.«
»Lady Eveline,« antwortete die Stimme, noch immer in dem höflichen Tone, welcher mit der ihr zugefügten Gewaltthätigkeit nicht übereinstimmte, »Lady Eveline wird sich bald überzeugen, daß unser Benehmen viel rauher ist, als unsere Absichten.«
»Wenn Ihr wißt, wer ich bin ,« versetzte Eveline, »so könnt Ihr nicht zweifeln, daß dieser Frevel gerächt werden wird. Ihr müßt wissen, wessen Banner jetzt meine Lande beschützt.«
»Lacy's Waffen!« erwiederte die Stimme in gleichgültigem Tone .»Immerhin! der Falke fürchtet den Falken nicht.«
In diesem Augenblicke ward Halt gemacht, und ein verworrenes Gemurmel erhob sich unter ihrer Umgebung, die bisher geschwiegen, falls sie nicht zuweilen in Walliser Sprache so kurz als möglich die Richtung des Wegs, oder eine Aufmunterung zur Eile, einander zugeflüstert hatte.
Dies Murmeln stockte, und es erfolgte ein Schweigen von einigen Minuten. Endlich hörte Eveline die Stimme des Mannes, der sie angeredet hatte, Befehle ertheilen, die sie nicht verstehen konnte. Hierauf wandte er sich an sie und sagte: »Ihr werdet jetzt selbst sehen, ob ich Wahrheit sprach, wenn ich äußerte, daß ich die Fesseln, die Euch binden, verachte. Aber Ihr seyd zugleich die Ursache des Kampfes und der Preis des Sieges – es muß daher für Eure Sicherheit so gut gesorgt werden, als es die Zeit erlaubt. Mag auch die Art des Schutzes, den Ihr genießen sollt, befremdend seyn, ich bin überzeugt, der Sieger in dem bevorstehenden Kampfe wird Euch unverletzt wieder finden.«
»O, um der heiligen Jungfrau willen,« rief Eveline, »möge hier kein Kampf und Blutvergießen Statt finden. Nehmt lieber die Binde von meinen Augen und laßt mich mit denen reden, deren Annäherung Ihr fürchtet. Sind es Freunde, wie es mir scheint, so laßt mich Frieden zwischen Euch stiften.«
»Ich verachte den Frieden!« entgegnete jener. »Ich habe ein so kühnes, gewagtes Abenteuer nicht unternommen, um ihm zu entsagen, wie ein Kind, bei dem ersten finsteren Blicke des Glücks. Habt die Güte, vom Pferde zu steigen, edles Fräulein, oder nehmt es vielmehr nicht ungütig, wenn ich Euch aus dem Sattel hebe und auf den grünen Rasen niedersetze.«
Während dieser Worte fühlte Eveline sich vom Pferde gehoben und sorgsam auf den Erdboden niedergesetzt. Einen Augenblick später beraubte sie derselbe gebieterische Diener ihres Reithuts, des Meisterstücks der Frau Gillian, so wie ihres Mantels. »Ich muß Euch nun ersuchen,« sagte der Räuberanführer, »auf Händen und Knieen in diese enge Oeffnung zu kriechen. Glaubt mir, ich bedaure es recht sehr, Euch diesen sonderbaren Zufluchtsort zur Sicherheit Eurer Person anweisen zu müssen.«
Eveline befolgte dies Gebot, da sie wohl einsah, daß Widerstand nichts fruchten könnte. Nachgiebige Erfüllung der Forderung des Mannes, der hier eine bedeutende Rolle zu spielen schien, konnte ihr dagegen seinen Schutz gegen die ungezügelte Wuth der Walliser zusichern, die sie bitter haßten, weil sie ihnen an dem Tode Gwenwyns und der Niederlage der Britten vor Garde Doloureuse Schuld zu seyn schien.
Eveline kroch durch einen engen feuchten Gang, der zu beiden Seiten von unbehauenen Steinen errichtet, aber so niedrig war, daß sie auf keine andere Art hätte hineingelangen können. Als sie zwei oder drei Ellen weit vorgedrungen war, verlor sich dieser Gang in einer Höhle oder einem Gemache, welches hoch genug war, um aufrecht darin sitzen zu können; doch war der innere Raum eng und unregelmäßig. Zu gleicher Zeit schloß sie aus dem Geräusche, welches sie hinter sich vernahm, daß die Räuber den Eingang verschütteten, durch den sie in das Innere der Erde gedrungen war. Sie hörte deutlich das Rasseln der Steine, wodurch sie die Oeffnung verschlossen, und bald fühlte sie, daß die bisher hereindringende frische Luft zu mangeln anfing, und die Atmosphäre des unterirdischen Gemachs schwerer, feuchter und drückender als zuvor ward.
In diesem Augenblicke vernahm sie entfernte Klänge von außen, und glaubte Geschrei, starke Schläge, das Stampfen der Pferde, das Geheul und die Flüche der Kämpfenden zu unterscheiden. Allein diese Töne wurden so gedämpft durch die Felsenwände ihres Kerkers, daß sie, in ein hohles Gemurmel zusammenfließend, nur leise ihr Ohr berührten, so wie man glaubt, daß die Laute der Lebenden zu den Verstorbenen hinüberdringen.
Von Verzweiflung ergriffen in einer so furchtbaren Lage, strebte Eveline sich mit so wahnsinniger Kraft zu befreien, daß es ihr endlich gelang, ihre Arme aus den Banden zu lösen. Aber dies überzeugte sie nur noch mehr von der Unmöglichkeit ihrer Flucht; denn als sie den Schleier, der ihr Haupt umhüllte, herabriß, erblickte sie rings umher die tiefste Finsterniß, und schnell ihre Arme ausbreitend, entdeckte sie, daß sie sich in einem engen, unterirdischen Kerker befand. Ihre umher tastenden Hände fanden nur Stücke verrosteten-Metalls, und noch einen Gegenstand, der in andern Augenblicken ihr einen tödtlichen Schauer eingeflößt haben würde, da es in der That die modernden Gebeine eines Todten waren. Jetzt aber konnte selbst dieser Umstand ihre Angst nicht steigern, da sie, eingemauert, wie sie war, bestimmt schien, hier einen gräßlichen unterirdischen Tod zu erleiden, während ihre Freunde und Befreier wahrscheinlich nur wenig Schritte von ihr entfernt waren. Sie breitete wild ihre Arme aus, um irgend ein Mittel zur Flucht zu entdecken; aber jeder Versuch, sich dieser festen Umgebung zu entreißen, blieb so fruchtlos, als sey er gegen den Dom einer Kathedrale gerichtet.
Das früher vernommene Getöse verstärkte sich schnell, und einen Augenblick schien es, als ob die Decke des Gewölbes, unter dem sie sich befand, von stürmenden Schlägen oder herabstürzenden Trümmern wiederhalle. Kein menschlicher Geist konnte diesem Grausen widerstehen; aber glücklicher Weise dauerte diese entsetzliche Lage nicht lange. Die Töne erklangen immer dumpfer, und verkündeten zuletzt durch ihr gänzliches Schweigen, daß eine der Parteien sich zurückgezogen habe. Rings umher herrschte nun wieder Todestille.
Eveline war jetzt der ungestörten Betrachtung ihrer unglücklichen Lage überlassen. Das Gefecht war vorüber, und wie sie aus den Umständen schließen mußte, hatten ihre Freunde gesiegt, sonst würde der Entführer sie aus ihrem Kerker befreit und sie in sein Gewahrsam mit hinweggenommen haben, wie er es ihr früher drohte. Was konnte aber der Sieg ihrer Freunde und Anhänger Evelinen nützen, die sich eingeschlossen sah in einem verborgenen Orte, der, wozu er auch dienen mochte, der Aufmerksamkeit der Sieger entgangen war. So blieb sie auf dem Schlachtfelde zurück, um auf's Neue dem Feinde in die Hände zu fallen, wenn er es wagte, zurück zu kehren, oder um in Einsamkeit und Finsterniß einen furchtbarern Tod zu sterben, als ihn je ein Tyrann ersinnen oder ein Märtyrer dulden konnte. Die unglückliche Eveline vermochte nicht, daran zu denken, ohne ein Angstgebet auszustoßen, daß ihr Todeskampf mindestens verkürzt werden möge.
In diesem furchtbaren Augenblicke fiel ihr der Dolch ein, den sie trug, und der finstere Gedanke durchzuckte ihren Geist, daß, wenn jede Hoffnung schwinden sollte, mindestens ein schneller Tod in ihrer Gewalt stehe. Während ihre Seele bei dieser entsetzlichen Wahl schauderte, drängte sich ihr plötzlich die Idee auf, ob diese Waffe nicht zu einem heilsameren Zwecke benutzt werden, und statt ihre Leiden zu enden, ihre Befreiung bewirken könne.
Kaum ward diese Hoffnung in ihr rege als Raymund Berengar's Tochter sich beeilte, einen Versuch zu wagen. Durch wiederholte Anstrengung, wiewohl mit großer Beschwerde, gelang es ihr, ihren Platz zu verändern, den ganzen Raum ihres Kerkers rings umher zu untersuchen, besonders aber den Eingang aufzufinden, durch den sie hieher gelangt war, und jetzt wieder an's Tageslicht zurückkehren wollte. Sie kroch bis zur äußersten Oeffnung, und fand sie, wie sie erwartet hatte, mit Steinen und Erde so dicht vermauert, daß fast jede Hoffnung des Entkommens schwand.
Doch war das Werk nur schnell zu Staude gebracht worden, und Leben und Freiheit ermunterten zur äußersten Anstrengung. Mit ihrem Dolche schaffte sie die Erde und den Rasen hinweg – mit ihren Händen, die wenig gewöhnt waren an eine solche Arbeit, riß sie mehrere Steine herab, und förderte ihr Werk endlich so weit, daß sie einen Schimmer des Tageslichts, und was keinen geringeren Werth für sie hatte, einen frischen Luftzug erhielt. Allein zu gleicher Zeit überzeugte sie sich leider, daß das Felsenstück, welches eigentlich den Eingang von außen schloß, viel zu groß und zu schwer war, um es ohne Beihülfe fortschaffen zu können. Doch war ihre Lage wenigstens verbessert durch die Wohlthat des Tageslichts und der frischen Luft, so wie durch die Möglichkeit, um Hülfe rufen zu können.
Dieses Geschrei verhallte aber eine Zeitlang ungehört. Wahrscheinlich befanden sich nur Todte und Sterbende auf dem Schlachtfelde; denn ein leises, unverständliches Aechzen war die einzige Antwort, welche sie erhielt. Endlich, als sie nach mehreren Minuten ihren Ruf wiederholte, erwiederte eine schwache Stimme, wie Jemand, der sich eben aus einer Ohnmacht erholt: »Edris aus dem unterirdischen Hause, rufst Du aus Deinem Grabe den Elenden, der soeben in seine eigene Gruft eilt? Sind die Schranken niedergestürzt, die mich unter den Lebenden festhielten? Und höre ich schon mit fleischlichen Ohren die schwachen Klagelaute der Todten!«
»Es ist kein Geist, der hier spricht!« rief Eveline, außer sich vor Freude, endlich einem lebenden Wesen ihr Daseyn bekannt machen zu können. »Kein Geist, aber wohl ein sehr unglückliches Mädchen, Eveline Berengar geheißen, die eingemauert ist in diesem unterirdischen Gewölbe, und in Gefahr umzukommen, wenn Gott nicht Erlösung sendet.«
»Eveline Berengar!« rief der, zu dem sie sprach, mit dem Ausdrucke des Erstaunens. »Es ist nicht möglich! Erblickte ich doch ihren grünen Mantel – ihren Federhut, als ich sie vom Schlachtfelde hinwegführen und mich Außer Stande sah, ihr zu Hülfe zu eilen. So lange ich nur noch ihren Mantel flattern, ihre Federn wallen sah, verließen mich nicht gänzlich die Kräfte, und erst als die letzte Spur davon meinem Auge entschwand, erlagen meine Sinne.«
»Treuer Vasall, oder zuverläßiger Freund, oder großmüthiger Fremdling, wer Du auch seyn magst,« entgegnete Eveline, »wisse, daß Dich die List dieser Walliser Räuber täuschte. Mantel und Hut Evelinen's haben sie zwar geraubt, und mögen sie benutzt haben, die treuen Freunde, welche, wie Du, für mein Schicksal besorgt sind, irre zu führen. Denke deshalb auf Hülfe für Dich und mich, wackerer Krieger, denn diese Räuber, fürchte ich, werden, sobald sie der unmittelbaren Verfolgung entgangen sind, hieher zurückkehren, wie der Dieb zu dem Schlupfwinkel, in welchem er die gestohlene Beute verborgen hat.«
»Gelobt sey die heilige Jungfrau!« rief der Verwundete, »daß ich den letzten Athem in Deinem gerechten, ehrenvollen Dienste aushauchen kann! Ich wollte zuvor nicht in mein Horn stoßen, damit ich Niemand zum Beistande meines wehrlosen Selbsts riefe, der sich mit Deiner Rettung wesentlich beschäftigen mochte. Gebe der Himmel, daß jetzt mein Ruf noch vernommen werde, und daß mein Auge noch einmal Lady Eveline in Sicherheit und Freiheit erblickt!«
Diese Worte, so schwach auch ihr Ton war, athmeten hohe Begeisterung, und wurden von einem Stoße in's Horn begleitet, der dumpf erklang und nur durch den Wiederhall der Felsen beantwortet ward. Bald darauf ward schärfer und stärker in's Horn gestoßen; allein der Ton brach so plötzlich ab, daß es schien, als habe die Kraft des Athems den Blasenden verlassen. In diesem Augenblicke einer furchtbaren Ungewißheit regte sich ein seltsamer Gedanke in Evelinen's Seele. »Das war der Schlachtruf der Lacy's – Ihr seyd doch nicht etwa mein tapferer Verwandter, Sir Damian?«
»Ich bin dieser Elende, der den Tod verdient für die schlechte Sorgfalt, womit er den ihm anvertrauten Schatz bewachte. Durfte ich mich auf Boten und Nachrichten verlassen? Die Heilige, die meinem Schutze übergeben war, hätte ich mit solcher Wachsamkeit anbetend behüten sollen, wie der Geizige den Metallklumpen bewacht, den er einen Schatz nennt. Nirgends hätte ich verweilen sollen, als an Eurem Thore, den glänzendsten Stern am Horizonte bewachend – hätte ungesehen und allen unbekannt nie mich aus Eurer Nähe entfernen sollen. Dann wäret Ihr nicht in die jetzige Gefahr gerathen, und Du, Damian von Lacy – woran freilich weniger liegt – wärst nicht in die Gruft hinabgesunken als meineidiger, sorgloser Bube!«
»Ach, edler Damian!« sagte Eveline, »brich mir nicht das Herz, indem Du Dich einer Unbesonnenheit anklagst, deren Schuld allein auf mir ruht. Deine Hülfe war mir stets nah, wenn ich sie irgend bedurfte, und es verbittert mein Leiden, daß meine Uebereilung Deinen Unfall herbeigeführt hat. – Antwortet mir, theurer Vetter, und laßt mich hoffen, daß die Wunden, die Ihr erhalten habt, geheilt werden können. Ach! wie viel Eures Bluts habe ich vergießen sehen, und welch' ein Geschick verfolgt mich, daß ich stets über diejenigen Leid und Kummer bringen muß, für die ich so gern mein eigenes Glück aufopfern würdet – Aber laßt uns nicht die Augenblicke, die uns gnädig gegönnt worden sind, mit fruchtloser Reue zubringen. – Biete alles auf, was Du vermagst, Dein rinnendes Blut aufzuhalten – dies Blut, so kostbar für England – für Evelinen – für Deinen Oheim.«
Als sie dies sprach, seufzte Damian und schwieg, während Eveline halb wahnsinnig bei dem Gedanken, daß er aus Mangel an Hülfe sterben könne, ihre Anstrengungen zu seiner Rettung sowohl, als zu der ihrigen, fortsetzte. Sie blieben leider fruchtlos, und während sie verzweifelnd jeden ferneren Versuch aufgab und von einem Gegenstande des Entsetzens zu dem andern überging, horchte sie mit geschärftem Ohre auf die sterbenden Seufzer Damian's, als – wer beschreibt ihr Entzücken! – die Erde von rasch sich nähernden Hufschlägen erbebte. Allein dieser Freudenton, wenn er ihr auch das Leben verbürgte, sicherte ihr noch nicht die Freiheit. Die räuberischen Bergbewohner konnten es vielleicht seyn, welche zurückkehrten, um ihre Gefangene zu holen; aber auch diese würden ihr wenigstens Zeit vergönnt haben, nach Damian's Wunden zu sehen und sie zu verbinden; denn ihn als Gefangenen zu behalten, war in mancher Hinsicht vortheilhafter für sie, als es sein Tod gewesen wäre. Ein Reiter sprengte heran – Eveline rief ihn um Hülfe an, und das erste Wort, welches sie vernahm, war ein Ausruf in flandrischer Sprache von Seiten des treuen Wilkin Flammock, den nur das ungewöhnlichste Schauspiel diesem phlegmatischen Manne zu entreißen vermochte.
Seine Gegenwart war in der That bei dieser Gelegenheit von zwiefachem Nutzen. Denn da er von Lady Eveline vernahm, in welcher Lage sie sich befinde, und sie zugleich in ihn drang, den Zustand Damian von Lacy's zu untersuchen, so begann er mit großer Ruhe und einiger ärztlicher Kenntniß die Wunden desselben zu verbinden, während seine Begleiter Hebebäume herbeischleppten, welche von den Wallisern bei ihrer Flucht zurückgelassen waren. Auf diese Weise wurden sie in Stand gesetzt, sich der Befreiung Evelinen's thätig anzunehmen. Mit großer Behutsamkeit und unter Flammock's erfahrener Leitung ward der Stein endlich so weit erhoben, daß Eveline, zum Entzücken aller Anwesenden, besonders aber ihrer treuen Rose, sichtbar wurde.
Die letztere drängte sich, ohne die eigene Gefahr zu berücksichtigen, zu dem Kerker ihrer Gebieterin, wie ein Vogel, seiner Jungen beraubt, um den Käfig flattert, in welchem ein muthwilliger Bube dieselben gefangen hält. Vorsicht war nöthig bei dem Aufheben des Steins, weil er sonst leicht nach innen fallen und die Lady beschädigen konnte.
Endlich war das Felsenstück so weit fortgeräumt, daß sie herauskriechen konnte. Ihre Leute aber, aus Abscheu gegen den Zwang, den sie erduldet, ließen nicht eher nach, mit den Hebebäumen zu arbeiten, bis sie gänzlich das Gleichgewicht zerstörten, auf dem die schwere Masse ruhte. Sie wälzte sich jetzt von der kleinen Fläche, auf die man sie vor der Oeffnung des Eingangs gelegt hatte, plötzlich herab, und durch den steilen Abhang, den sie herabrollte, neue Kraft gewinnend, stürzte sie endlich mit Donnerkrachen die Felsen hinunter, Feuerfunken schlagend und Staubwolken um sich her verbreitend, in das Bette eines Gießbachs mit einem Geräusche, das man vielleicht drei Meilen weit vernahm, und zerschellte dort in fünf Stücke.
Mit Kleidern, durch die erlittene Gewaltthätigkeit beschmutzt und zerrissen, mit aufgelöstem Haar, fliegendem Gewande, geschwächt durch die erstickende Kerkerluft und erschöpft von den Anstrengungen zu ihrer Befreiung, dachte Eveline nicht einen Augenblick über ihre eigene Lage nach, sondern ließ sich's, mit der Sorgfalt einer Schwester, die ihrem einzigen Bruder zu Hülfe eilt, sehr angelegen seyn, die vielen und schweren Wunden Damian von Lacy's zu untersuchen, und Mittel anzuwenden, um das Blut zu hemmen und ihn aus seiner Ohnmacht zu erwecken,
Wir haben schon früher erwähnt, daß Eveline, wie andere Frauen jener Zeit, nicht ganz unerfahren war in der Wundarzneikunde. Jetzt aber entwickelte sie noch mehr Kenntnisse, als man sie deren fähig gehalten hätte. Vorsicht, Klugheit und Zartgefühl lag in jeder ihrer Anordnungen, und die Sanftmuth des weiblichen Geschlechts, seine thätige Menschenliebe, stets zur Abhülfe fremder Leiden bereit, schien bei ihr erhöht und veredelt durch eine kräftige Einsicht und Ueberlegung.
Nachdem Rose einige Augenblicke mit Verwunderung die vorsichtigen und klugen Anordnungen ihrer Gebieterin angehört hatte, schien es ihr plötzlich einzufallen, daß der Kranke nicht der ausschließenden Sorgfalt Evelinen's überlassen werden dürfe. Sie vereinte sich daher mit ihr, ihm ebenfalls alle Hülfe leistend, die in ihrer Macht stand, während ihre Begleiter sich beschäftigten, eine Tragbahre zu verfertigen, auf welcher man den verwundeten Ritter nach dem Schlosse Garde Doloureuse schaffen wollte.