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Oft dünkt es mir, als hört' ich Geister ächzen,
Und hohle Töne, ängstliches Geschrei;
Und, wie ein sterbend Echo, hallt von fern
Der Mutter Stimme: »Freie nicht, Almeida!
Laß warnen Dich, Dein Freien ist Verbrechen.«
Don Sebastian.
Der Abend zu Baldringham würde unerträglich lang gewesen seyn, ließe nicht die drohende Gefahr die Zeit zwischen uns und der gefürchteten Stunde oft nur zu schnell entrinnen. Wenn daher Eveline sich nur in geringem Maße unterhalten fühlte durch das Gespräch ihrer Tante und Berwinens, welches sich um die alte Abstammung ihrer Vorfahren von dem kriegerischen Horsa Horsa und sein Bruder Hengest sind legendäre Kriegerfürsten, die im 5. Jh. nach dem Rückzug der Römer aus Britannien angeblich die Invasion der Angelsachsen anführten und ein Königreich auf der Insel errichtet haben sollen., um die Heldenthaten der sächsischen Kämpen und um die Wunder der sächsischen Mönche drehte, so horchte sie doch lieber auf diese Legenden, als daß sie ihre Gedanken auf den Aufenthalt in dem gefürchteten Zimmer richtete, wo sie die Nacht zubringen sollte. Es fehlte indeß nicht an Genüssen der Art, wie sie das Haus von Baldringham darbieten konnte. Von einem ernsten, alten sächsischen Mönch eingesegnet, ward ein köstliches Mahl vor Irmgard und ihrer Nichte aufgetragen, an dem sich zwanzig Hungrige hätten sättigen können. Doch nahm, außer dem hochwürdigen Herrn, dem Hauskapellan, nur Berwine und Rose Flammock daran Theil. Eveline machte um so weniger von dieser übertriebenen Gastfreiheit Gebrauch, als die Schüsseln sämmtlich jene groben und nahrhaften Speisen enthielten, welche die Sachsen bewunderten, die aber gegen die verfeinerte, ausgesuchte Kochkunst der Normannen sehr zu ihrem Nachtheil abstachen. Auch der mäßige Becher des leichten, lieblich duftenden Gascogner-Weins, über die Hälfte mit Wasser vermischt, bildete einen auffallenden Kontrast mit der kräftigen Ale, dem stark gewürzten Hippocras und andern berauschenden Getränken, welche der Haushofmeister Hundwolf der Reihe nach zur Ehre der Gastfreiheit von Baldringham darbot.
Die von ihrer Tante eingeführte Abendunterhaltung sagte Evelinens Geschmack eben so wenig zu, als der Ueberfluß des nahrhaften Gastmahls. Als die Tafeln, auf denen man gespeist hatte, aus dem Zimmer geschafft waren, begannen die Diener, unter Leitung des Haushofmeisters, mehrere lange Wachskerzen anzuzünden, von denen die eine mit Graden bezeichnet war, um die Zeit einzutheilen und ihren Flug zu verkünden. Dies geschah vermittelst Kugeln von Erz, welche an Fäden an der Kerze hingen, da man es genau berechnet hatte, wie viel Zeit der zwischen ihnen befindliche Raum zum Brennen bedurfte. Erreichte nun die Flamme den Faden, und sanken die Kugeln nach einander in ein dazu bestimmtes Becken von Erz hinab, so vertraten sie dadurch gleichsam die Stelle einer neuern Schlaguhr.
Irmgards hoher und geräumiger Armstuhl ward nach alter Sitte aus der Mitte des Zimmers nach der wärmsten Seite des mit glühenden Kohlen gefüllten Kamins gerückt, und ihrem Gaste zu ihrer Rechten ein Ehrenplatz angewiesen. Berwine ordnete jetzt geziemend die weiblichen Dienerinnen, und nachdem sie darauf gesehen, daß eine jede die ihr übertragene Arbeit ergriff, setzte sie sich selbst nieder, Spindel und Rocken zur Hand nehmend. Die Männer beschäftigten sich in einem entferntern Kreise mit der Ausbesserung der landwirthschaftlichen Werkzeuge oder mit der Verfertigung neuen Jagdgeräths. Ihre Arbeiten leitete der Haushofmeister Hundwolf. Zur Unterhaltung der auf diese Weise vereinten Familie sang ein alter Spielmann zu einer, nur mit vier Saiten bezogenen Harfe eine lange, und, wie es schien, endlose Legende, deren Stoff irgend ein religiöser Gegenstand war. Dieser Gesang blieb Evelinen fast ganz unverständlich durch die außerordentliche und verwickelte Uebertreibung des Dichters, der, um der Alliteration willen, die für eine große Zierde der sächsischen Poesie galt, dem bloßen Klange den Sinn aufgeopfert hatte, und die gezwungensten, sinnlosesten Wörter gebrauchte, falls sie ihm nur zu seinem Zwecke dienlich schienen. Dazu kam noch die Dunkelheit, welche aus der willkührlichen Abkürzung der Worte und den übertriebenen hyperbolischen Beiwörtern entsprang. Eveline, obwohl der sächsischen Sprache sehr mächtig, hörte bald auf, dem Sänger zu lauschen, indem sie sich lebhaft an die lustigen Fabliaux Französische Schwankerzählungen in Versen. und erfindungsreichen Lieder der normännischen Minstrels erinnerte. Bald aber dachte sie mit zunehmender Besorgniß daran, was für einer Art von Erscheinung sie in dem geheimnißvollen Zimmer, wo sie die Nacht zubringen sollte, ausgesetzt seyn möchte.
Die Zeit der Trennung war endlich genaht. Eine halbe Stunde vor Mitternacht, ein Zeitpunkt, den die Verzehrung der ungeheuren Wachskerze verbürgte, fiel die Kugel in die engere Schale, die Zeit der nächtlichen Ruhe verkündend. Der alte Spielmann brach mitten in einer Strophe seinen Gesang ab, und die Dienerschaft war in dem Augenblicke, wo dies Signal ertönte, eben so schnell in Bewegung. Einige entfernten sich nach ihren Kammern, andere zündeten Lampen oder Kienfackeln an, um die Gäste nach ihren Schlafgemächern zu geleiten. Zu den Letztern gesellte sich eine Schaar von Kammerfrauen, welchen die Pflicht oblag, Lady Eveline in ihr Schlafzimmer zu führen. Ihre Tante, einen feierlichen Abschied von ihr nehmend, machte über ihrer Stirn ein Kreuz, küßte dieselbe, und flüsterte ihr zu: »Sey beherzt und sey glücklich!«
»Kann nicht meine Leibdienerin Rose Flammock, oder meine Kammerfrau Gillian, die Gattin Raouls, diese Nacht in meinem Zimmer zubringen?« fragte Eveline.
»Flammock? Raoul?« wiederholte Irmgard ärgerlich. »Ist Dein Haushalt so eingerichtet? Die Flamänder sind für den Britten der kalte, lähmende Schlagfluß, die Normannen das heiße, verzehrende Fieber.«
»Und die armen Walliser,« sagte Rose, deren Unwille die Scheu vor der alten sächsischen Dame überwog, »werden hinzufügen, daß die Angelsachsen die ursprüngliche Krankheit waren, und einer verheerenden Pest gleichen.«
»Du bist sehr keck, mein Schätzchen!« sagte Lady Irmgard, unter ihren finstern Augenbrauen hervorschauend, den Blick fest auf die Flamänderin geheftet. »Aber es liegt Geist in Deinen Worten. Sachsen, Dänen und Normannen haben, wie über einander rollende Wogen, das Land bedeckt, indem Jeder Kraft besaß, sich das zu unterwerfen, was er aus Mangel an Klugheit nicht bewahren konnte. – Wann wird es anders seyn?«
»Wenn Sachsen, Britten, Normannen und Flamänder es lernen werden, sich bei einem gemeinsamen Namen zu nennen,« erwiederte Rose kühn; »wenn sie es lernen werden, sich für Kinder des Landes zu halten, in welchem sie geboren sind.«
»Ha!« rief die Lady von Baldringham, mit halb zufriedenem, halb verwundertem Tone. Dann zu ihrer Verwandten sich wendend, fügte sie hinzu: »Dem, Mädchen fehlt es nicht an Worten und an Witz; siehe zu, daß sie Beides nütze, doch nicht mißbrauche.«
»Sie ist so treu und anhänglich, als entschlossen in Wort und That,« versetzte Eveline. »Ich bitte Euch, theuerste Tante, vergönnt mir für diese Nacht ihre Gesellschaft.«
»Es kann nicht seyn – es würde Beiden Gefahr bringen,« erwiederte die Lady. »Du mußt Dein Geschick allein erfahren, wie alle Frauen unseres Geschlechts, Deine Großmutter ausgenommen, es gethan haben. Und was waren die Folgen dieser Vernachlässigung der Gesetze unseres Hauses? – Seht, ihre Enkelin steht vor mir, als Waise in der ersten Blüthe der Jugend!«
»So will ich gehen,« sagte Eveline mit einem Seufzer stiller Ergebung. »Nie soll man sagen, daß ich aus Furcht vor gegenwärtigem Schrecken künftiges Weh veranlaßt hätte.«
»Eure Dienerinnen,« antwortete Lady Irmgard, mögen in dem Vorzimmer bleiben, wo sie Euren Ruf vernehmen können. Berwine wird Euch das Zimmer zeigen – ich kann es nicht; denn wir, das weißt Du wohl, die wir es einmal betreten haben, wir kehren nie wieder dahin zurück. Lebe wohl, mein Kind; der Himmel möge Dich behüten!«
Mit mehr menschlicher Empfindung und Theilnahme, als sie bisher gezeigt, küßte die Lady Evelinen noch einmal, und gab ihr einen Wink, Berwinen zu folgen, die, von zwei Fackelträgerinnen begleitet, ihrer harrte, sie nach dem gefürchteten Zimmer zu führen.
Der düstere Schein der Fackeln fiel auf die roherbauten Mauern und gewölbten Bogen, während sie einige gewundene Gänge durchschritten. Dies Licht war ihnen auch beim Hinabsteigen einer Wendeltreppe behülflich, deren geringes Ebenmaaß und rohe Bauart ihr Alterthum verriethen. Sie führte zu einem ziemlich geräumigen Zimmer in dem untern Stockwerke des Gebäudes, dem einige alte Tapeten, ein flackerndes Feuer auf dem Herde, die durch ein Gitterfenster brechenden Mondesstrahlen, und die Zweige eines Myrtenbaums, der vor dem Fenster stand, kein unfreundliches Ansehen gaben.
»Dies,« sagte Berwine, auf zwei Lagerstätten deutend, welche für Rose und Frau Gillian bestimmt waren, »dies ist das Schlafgemach Eurer Dienerinnen. Wir,« fügte sie hinzu, »gehen noch weiter.«
Sie nahm hierauf eine Fackel von einer der Zofen, welche beide ängstlich zurückzubeben schienen. Dies war auch bei Frau Gillian der Fall, wiewohl sie eigentlich den Grund davon nicht kannte. Aber Rose Flammock folgte indeß ungeheißen und ohne zu zögern, ihrer Gebieterin, welche von Berwinen durch ein Pförtchen am obern Ende des Zimmers, das mit Schlössern und Krampen wohl befestigt war, in ein kleineres Vorzimmer, an dessen Ende sich eine ähnliche Thür befand, geführt wurde. Auch hier waren die Fenster mit Epheu umrankt, und die Strahlen des Mondes verbreiteten ein dämmerndes Licht.
Berwine blieb plötzlich stehen, und auf Rosen deutend, fragte sie Evelinen: »Warum folgt diese?«
»Um die Gefahr meiner Gebieterin zu theilen,« entgegnete Rose mit ihrer eigenthümlichen Geistesgegenwart und Entschlossenheit. »Sprecht, meine theuerste Lady,« fuhr sie fort, Evelinens Hand ergreifend: »nicht wahr, Ihr stoßt Eure Rose nicht von Euch? Bin ich auch nicht so hochgesinnt, als ein Mädchen Eurer gepriesenen Abkunft, so bin ich doch kühn und brauchbar zu jedem rechtlichen Dienste. – Ihr zittert wie Espenlaub! – Geht nicht in dieses Zimmer; laßt Euch nicht täuschen durch all' diesen Prunk und diese furchtbar geheimnißvollen Vorbereitungen, sondern bietet diesem verjährten, halb heidnischen Aberglauben Trotz.«
»Lady Eveline muß gehen, Kind!« erwiederte Berwine streng, »und zwar ohne vorwitzige Rathgeberin oder Gefährtin.«
» Muß gehen! Muß gehen!« wiederholte Rose. »Ist das die Sprache gegen ein freies und edles Fräulein? Süße Lady, gebt mir nur den kleinsten Wink, daß Ihr es wünscht, und ich will doch einmal ihr: Muß gehen! auf die Probe stellen. Ich will aus dem Fenster den normännischen Reitern rufen, und ihnen anzeigen, daß wir, statt in ein gastfreies Haus, in eine Hexenhöhle gerathen sind.«
»Schweigt, Rasende!« rief Berwine, deren Stimme vor Angst und Zorn bebte. »Ihr wißt nicht, wer in der nächsten Stube wohnt.«
»Ich will schon Jemand rufen, der das bald untersuchen soll!« versetzte Rose, an's Fenster fliegend. Aber Eveline ergriff ihren Arm und hielt sie zurück.
»Ich danke Dir für Deine Anhänglichkeit, Rose,« sagte sie; »allein sie ist hier für mich ohne Nutzen. Sie, die in diese Thüre tritt, muß allein seyn.«
»So will ich statt Eurer hineintreten, theure Lady,« antwortete Rose. »Ihr seyd so bleich, so kalt – und werdet vor Entsetzen sterben, wenn Ihr einen Schritt weiter thut. Mag hier eine übernatürliche Kraft oder eine List im Spiel seyn, mich soll man nicht täuschen. Oder verlangt irgend ein finsterer Geist ein Opfer, so sey es eher Rose, als ihre Gebieterin.«
»Laßt mich – laßt mich!« rief Eveline, ihre Fassung zusammennehmend, »Du machst, daß ich über mich selbst erröthe. Diese Sitte hier ist ein altes Gottesurtheil, welches die weiblichen Abkömmlinge des Hauses Baldringham bis zum dritten Grade, und sie allein angeht. In meiner jetzigen Lage hätte ich nicht erwartet, daß ich aufgefordert werden würde, mich ihm zu unterwerfen. Da mich indeß die entscheidende Stunde ruft, so will ich ihm eben so frei entgegen treten, als irgend einer meiner Vorfahren.«
So sprechend, nahm sie die Fackel aus Berwinens Händen, und indem sie ihr und Rosen gute Nacht wünschte, machte sie sich sanft los aus den Armen der Letztern, und trat in das geheimnißvolle Zimmer.
Rose war ihr weit genug gefolgt, um unterscheiden zu können, daß es ein Gemach von mäßiger Größe war, denen ähnlich, durch die sie bereits hindurch gegangen waren. Es ward ebenfalls durch die Strahlen des Mondes erhellt, die durch ein Fenster hineinfielen, das mit denen der Vorzimmer in einer gleichen Richtung lag. Mehr konnte sie nicht sehen, denn Eveline wandte sich an der Schwelle nochmals um, und Rosen küssend, drängte sie dieselbe sanft in das kleinere Gemach zurück, welches sie so eben verlassen hatten. Sie schloß die Thür, welche beide Zimmer verband, zu, und verriegelte sie von innen, als ob sie sich gegen ihre gutgemeinte Zudringlichkeit sichern wolle.
Berwine ermahnte nun Rosen, wenn ihr ihr Leben lieb sey, sich in das erste Vorzimmer zu begeben, wo die Betten bereit ständen, und sich dort, wo nicht der Ruhe, so doch dem Schweigen und Gebet zu überlassen. Allein das treue flamändische Mädchen verwarf standhaft ihre Bitten, und bot ihrem Befehle Trotz.
»Sprecht mir nicht von Gefahr,« sagte sie. »Ich bleibe hier, um mindestens meine Gebieterin zu bewachen, und wehe dem, der sie zu verletzen wagt! Vergeßt nicht, daß zwanzig normännische Speere diese ungastliche Wohnung umringen, und bereit sind, jede Kränkung zu rächen, die man der Tochter Raymund Berengar's zufügt!«
»Spart Eure Drohungen für die, welche sterblich sind,« sagte Berwine mit leisem, aber ergreifenden Flüstern. »Den Eigenthümer jenes Zimmers fürchtet sie nicht. Lebe wohl! Deine Gefahr falle auf Dein eigenes Haupt!«
Sie entfernte sich und ließ Rosen zurück, welche von allen diesen Ereignissen wunderbar erschüttert, und durch die letzten Worte von einem gewissen Entsetzen erfüllt war.
»Diese Sachsen,« sagte das Mädchen zu sich selbst, »sind eigentlich nur halb bekehrt, und bewahren noch manche ihrer alten höllischen Gebräuche in der Anbetung der Elementargeister. Selbst ihre Heiligen gleichen keinen christlichen Heiligen in irgend einem Lande, und in ihren Blicken liegt etwas Wildes, Teuflisches. – Es ist ängstlich, hier allein zu seyn – es herrscht eine Todtenstille in dem Zimmer, in welches meine Lady so seltsam gezwungen ward einzutreten. – Ob ich Gillian herbeirufe – Nicht doch! Sie hat weder Sinn noch Verstand, noch Muth, um mir bei einer solchen Gelegenheit beizustehen. Besser allein, als einen falschen Freund zur Seite! Ich will einmal sehen, ob die Normannen auf ihren Posten sind, da sie es sind, auf die ich mich im Fall der Noth verlassen muß.« –
So überlegend, trat Rose Flammock an das Fenster des kleinen Zimmers, um sich von der Aufmerksamkeit der Schildwachen zu überzeugen, und die eigentliche Stellung der Wache zu erspähen. Der Vollmond vergönnte ihr, alle Gegenstände rings umher genau zu unterscheiden. Gleich Anfangs ward sie sehr unangenehm überrascht durch die Entdeckung, daß sie dem Erdboden nicht so nahe war, als sie vermuthet hatte, und daß die Fenster, welche der geheimnißvollen Stube sowohl, als den beiden Vorzimmern Licht ertheilten, auf einen Graben hinausgingen, durch den sie von der ebenen Erde jenseits getrennt waren. Die Vertheidigung, wozu dieser Graben dienen sollte, schien seit langer Zeit durchaus vernachlässigt worden zu seyn, und der völlig ausgetrocknete Grund war hie und da mit niedrigen Bäumen und Gesträuchen bedeckt, welche an den Mauern des Schlosses heraufwuchsen, und so, Rosens Ansicht zufolge, ein Mittel darboten, die Fenster zu erklimmen, und in das Haus zu gelangen. Auf der jenseitigen Ebene zeigte sich eine weite, grüne Fläche, deren Rasen von den Strahlen des Mondes beleuchtet ward, welche mit den weit hinfallenden Schatten der Bäume und Thürme abwechselten. Jenseits dieser Esplanade lag der Wald; einige Eichen von ungewöhnlicher Größe waren hie und da an der Gränze seines weiten und finstern Umkreises zerstreut, wie einzelne Ritter, die vor einem in Schlachtordnung stehenden Heere gleichsam herausfordernd ihren Platz einnehmen.
Die Ruhe und Schönheit eines so lieblichen Anblicks, die rings umher herrschende Stille, und die reifere Ueberlegung, welche in ihr erwachte, beschwichtigte einigermaßen die ängstlichen Besorgnisse, welche die Ereignisse des Abends ihr eingeflößt hatten. »Am Ende,« sagte sie zu sich selbst, »habe ich doch wohl nicht Ursache, in Betreff Evelinens so besorgt zu seyn. Unter den stolzen Normannen und den mürrischen Sachsen gibt es schwerlich irgend eine angesehene Familie, die sich nicht von den andern durch eigenthümliche abergläubische Gebräuche unterscheiden zu müssen glaubte, als hielten sie es unter ihrer Würde, so einfach zum Himmel einzugehen, wie ich und so manche andere schlichte Flamänderin. – Könnte ich nur eine normännische Schildwache erblicken, so wollte ich mich schon beruhigen über die Sicherheit meiner Gebieterin. – Aber dort wandelt ja einer in dem düstern Schatten, in seinen langen weißen Mantel gehüllt, und der Mond beleuchtet mit seinem Silberschein die Spitze seiner Lanze. – He da, Herr Kavalier!«
Der Normann wandte sich um, und nahte sich, als er sie sprechen hörte, dem Graben. »Was ist Euer Begehr, Jungfrau?« fragte er.
»Dies Fenster hier, dicht neben dem meinigen, ist das der Lady Eveline Berengar, zu deren Bewachung Ihr beauftragt seyd. Habt ein wachsames Auge auf diesen Schloßflügel.«
»Zweifelt nicht daran,« antwortete der Reiter, und in seine lange Chappe oder den kriegerischen Wachmantel sich verhüllend, zog er sich unter eine große, ein Paar Schritte weit entfernte Eiche zurück. Mit über einander geschlagenen Armen auf seine Lanze sich lehnend, glich er mehr einer Waffentrophäe, als einem lebenden Krieger.
Kühner gemacht durch das Bewußtseyn, daß im Fall der Noth die Hülfe nicht fern sey, zog sich Rose in ihr kleines Zimmer zurück, und nachdem sie lauschend sich überzeugt, daß in Evelinens Gemache alles ruhig sey, fing sie an, einige Vorkehrungen zu ihrer eigenen nächtlichen Ruhe zu treffen. Sie begab sich zu diesem Behuf in das äußere Vorzimmer, wo Frau Gillian, deren Furcht die einschläfernde Wirkung eines reichlichen Tranks von Lithe-Alos Die stärkste und kräftigste Ale. [ A. d. Übers.] besänftigt hatte, daß sie so fest schlief, als es dies edle sächsische Getränk nur zu bewirken vermochte. Unwillig murrend über ihre Trägheit und Gleichgültigkeit, ergriff Rose von dem für sie bereiteten Lager die Decke, und sie in das kleine Vorzimmer mit sich fortschleppend, bereitete sie sich, mit Hülfe der im Zimmer umher gestreuten Binsen, eine Art von Bette, auf dem sie, halb sitzend, halb liegend, die Nacht zubringen, und ein so sorgsames Auge auf ihre Gebieterin haben wollte, als es die Umstände irgend erlaubten.
So saß sie jetzt da, ihr Auge auf den bleichen Planeten gerichtet, der in voller Glorie den blauen, mitternächtlichen Himmel durcheilte, mit dem festen Entschlusse, daß kein Schlaf auf ihre Augenlieder fallen solle, bis ihr der Anbruch des Morgens Evelinens Sicherheit verbürgte.
Ihre Gedanken weilten indeß fortwährend bei der gränzenlosen, in dunkle Schatten verhüllten Welt jenseit des Grabes, und auf der großen, vielleicht noch jetzt unentschiedenen Frage, ob die Trennung ihrer Bewohner von denen unserer irdischen Sphäre durchaus Statt finde, oder ob die Ersteren aus Beweggründen, die wir nicht zu würdigen vermöchten, vielleicht eine geistige Gemeinschaft mit denen unterhielten, die noch im Fleisch und Blut einherwandelten. – Dies zu läugnen, würde in dem Zeitalter der Kreuzzüge und der Wunder für Ketzerei gegolten haben. Allein Rosens gesunde Vernunft ließ sie wenigstens an den öftern Wiederholungen solcher übernatürlichen Erscheinungen zweifeln, und sie tröstete sich durch die Ansicht, Eveline setzte sich keiner wirklichen Gefahr aus, und huldige, indem sie sich der ihr auferlegten Regel unterwerfe, nur einem verjährten Familien-Aberglauben. Gleichwohl schien ihr unwillkürliches Aufschrecken und der Schauder, vor dem sie bei jedem sich bewegenden Blatte bebte, dieser Ansicht zu widersprechen.
Als indeß jene Ueberzeugung dennoch immer stärker ward, ließ Rosens Wachsamkeit in gleichem Maße nach, und ihre Gedanken gingen auf Gegenstände über, auf die ihr Wille sie nicht richtete – Lämmern ähnlich, die sich der Obhut ihres Hirten entziehen. In ihren Augen spiegelte sich kein deutliches Bild mehr von der breiten und runden Silberscheibe, auf welche sie, wie fest gebannt, hinstarrten. Endlich schlossen sie sich, und auf dem zusammengefalteten Mantel sitzend, mit dem Rücken gegen die Wand des Zimmers, und die weißen Arme über die Brust gefaltet, schlief Rose fest ein.
Ihren Schlummer unterbrach auf furchtbare Weise ein gellender, durchdringender Schrei in dem Gemache, wo ihre Gebieterin ruhte. Aufspringen und zur Thüre fliegen war das Werk eines Augenblicks für das edelmüthige Mädchen, das nie mit Furcht kämpfte, wo es Pflicht und Liebe galt. Die Thür war durch Schloß und Siegel fest versichert, und ein abermaliges schwächeres Geschrei, oder vielmehr ängstliches Stöhnen, schien zu sagen, die Hülfe muß augenblicklich seyn, oder sie ist vergebens. Rose flog zum Fenster und rief oder kreischte vielmehr dem normännischen Krieger zu, der, durch die weißen Falten seines Wachtmantels kenntlich, noch immer seine Stellung unter der alten Eiche behauptete.
Auf den Ruf: »Zu Hülfe! zu Hülfe! Fräulein Eveline ist ermordet!« erhielt die scheinbare Bildsäule plötzlich Leben und Regsamkeit, und mit der Schnelligkeit eines edlen Zuchtpferdes hatte der Krieger den Rand des Grabens blitzschnell erreicht. Er war eben im Begriff hineinzuspringen, Rosen gegenüber, die am offenen Fenster stand, und ihn durch Geberden und Worte zur äußersten Eile aufforderte.
»Hier nicht – hier nicht!« rief sie mit athemloser Hast, als sie sah, daß er die Richtung zu ihr hin einschlug.
»Das Fenster zur Rechten! Klimmt um Gotteswillen hinauf und öffnet die Zwischenthür!«
Der Soldat schien sie zu verstehen. Er sprang ohne zu zögern in den Graben und schützte sich vor dem Fallen, indem er einen Baumzweig ergriff. Er verschwand unter dem Gesträuch, und an den Zweigen einer Zwergeiche sich festhaltend, erblickte ihn Rose bald darauf an dem Fenster des unheimlichen Zimmers zu ihrer Rechten. Nur eine Furcht blieb noch: das Fenster konnte gegen das Eindringen von Außen verwahrt seyn. Doch nein! Es wich dem kräftigen Drucke des Normannen und stürzte, da Angeln und Klammern vom Zahn der Zeit zernagt waren, nach innen mit einem Geräusch, das selbst Frau Gillians tiefen Schlummer unterbrach.
Schrei auf Schrei ausstoßend, wie es die Narren und feigen Memmen gewöhnlich zu thun pflegen, stürzte sie aus dem Vorzimmer in das Kabinet, eben als Evelinen's Zimmer sich öffnete und der Krieger erschien, in seinen Armen das halb entkleidete und leblose normännische Fräulein tragend. Er legte sie ohne ein Wort zu sprechen in Rosens Arme und entfernte sich durch das offen stehende Fenster, aus welchem ihn Rose herbeigerufen hatte, eben so schnell, als er früher hereingekommen war.
Frau Gillian, halb verwirrt vor Furcht und Schrecken, häufte Ausrufungen auf Fragen, und mischte ein lautes Geschrei um Hülfe darin, bis Rose ihr so ernstliche Vorwürfe machte, daß sie endlich wieder ihre Sinne zu sammeln schien. Sie erhielt allmälig so viel Besinnung, daß sie eine in ihrem Zimmer brennende Lampe herbeibrachte und sich wenigstens durch die Anwendung der gewöhnlichen Mittel, das entflohene Bewußtseyn des Fräuleins zurückzurufen, nützlich machte. Dies gelang endlich; denn Eveline schöpfte Athem und öffnete ihre Augen, schloß sie aber sogleich wieder, und indem ihr Haupt auf Rosens Busen sank, fühlte sie sich von einem krampfhaften Schauer ergriffen. Ihre treue Dienerin rieb ihr mit zärtlicher Beharrlichkeit bald die Hände, bald die Schläfe, und während dieser Bemühungen sie liebkosend, rief sie: »Sie lebt! Sie erholt sich! Gelobt sey Gott!«
»Gelobt sey Gott!« scholl es vom Fenster aus mit feierlichem Tone. Voll Entsetzen sich umwendend, erblickte Rose am Fenster des Kriegers Helm mit wallenden Federn.
Er hatte sich mit den Armen festgeklammert und starrte ängstlich in's Zimmer.
Rose eilte sogleich auf ihn zu. »Geht – geht, guter Freund,« sagte sie; »Ihr sollt schon zu einer andern Zeit Euren Lohn erhalten. Geht! Entfernt Euch! Doch halt! Bleibt auf Eurem Posten! Ich will Euch rufen, wenn es wieder Noth thun sollte. Entfernt Euch – seyd treu und verschwiegen!«
Der Krieger entfernte sich ohne ein Wort zu erwiedern, und Rose sah ihn sogleich in den Graben hinabsteigen. Sie kehrte zu Evelinen zurück, und fand sie, von Frau Gillian unterstützt, schwach ächzend und schnelle unverständliche Ausrufungen ausstoßend, welche die Spuren einer lebhaften Unruhe verriethen.
Frau Gillian hatte sich kaum ein wenig gefaßt, als ihre Neugier verhältnißmäßig rege ward. »Was soll denn das Alles bedeuten?« sagte sie zu Rosen: »Was ist hier vorgefallen?«
»Ich weiß es nicht!« versetzte Rose.
»Nun, wenn Ihr's nicht wißt, wer soll's denn wissen?« sagte Frau Gillian. »Soll ich die andern Dienerinnen wecken und das Haus in Bewegung bringen?«
»Bei Eurem Leben nicht eher, als bis Mylady sich so weit erholt hat, ihre eigenen Befehle zu erlassen,« entgegnete Rose. »Und was jenes Zimmer betrifft, so stehe mir Gott bei, wenn ich nicht mein Möglichstes thue, die dahinter verborgenen Geheimnisse zu ergründen. Unterstützt indeß meine Gebieterin!«
So sprechend nahm sie die Lampe in die Hand, und sich bekreuzend, schritt sie keck über die geheimnißvolle Schwelle und untersuchte mit hoch empor gehaltenem Lichte das Gemach.
Es war ein altes gewölbtes Zimmer von mäßigem Umfange. In der einen Ecke befand sich ein roh geschnitztes Bild der Jungfrau Maria über einem sächsischen Taufsteine von seltener Bildhauerarbeit. Zwei Sitze und ein Lager waren mit einem groben Teppich bedeckt, auf welchem Eveline geruht zu haben schien. Die Trümmer des zerschmetterten Fensters lagen auf dem Boden. Doch war diese Oeffnung, wie man deutlich sah, nur eine Folge der Gewalt, die der Krieger angewendet hatte, und Rose sah keinen andern Eingang, durch welchen ein Fremder hätte in's Zimmer dringen können, dessen Thür verschlossen und verriegelt gewesen war.
Rose fühlte den ganzen Einfluß der Schrecken, die sie bisher überwunden hatte. Sie warf ihren Mantel schnell um den Kopf, als wolle sie sich gegen eine furchtbare Erscheinung verwahren, und mit eiligem, aber schwankendem Tritte in das Kabinet zurückschlüpfend, verlangte sie den Beistand der Frau Gillian, um Evelinen sogleich in das nächste Zimmer zu führen. Als dies geschehen war, verrammelte sie sorgfältig die Zwischenthür, als ob sie zwischen ihnen und der Gefahr eine Schranke aufrichten wolle.
Lady Eveline hatte sich nun so weit erholt, daß sie sich aufrecht erhalten konnte. Sie versuchte, wiewohl sehr schwach, zu sprechen. »Rose,« sagte sie, »ich habe sie gesehen – mein Urtheil ist gefällt.«
Rose erinnerte sich sogleich, wie unvorsichtig es sey, wenn Frau Gillian das mit anhöre, was ihre Gebieterin in einem so furchtbaren Augenblick sagen möchte, und schnell den kurz zuvor abgelehnten Antrag Gillian's annehmend, ersuchte sie dieselbe, noch zwei andere Dienerinnen ihrer Gebieterin herbeizuholen.
»Wo finde ich sie denn in diesem Hause, wo fremde Männer um Mitternacht durch die Zimmer stürzen, und böse Geister, so viel ich weiß, das übrige Haus heimsuchen?« sagte Frau Gillian.
»Findet sie, wo Ihr könnt,« entgegnete Rose streng; »aber entfernt Euch auf der Stelle.«
Gillian befolgte zögernd diese Weisung, zu gleicher Zeit etwas vor sich hinmurmelnd, das Niemand verstehen konnte. Kaum war sie fort, als Rose der leidenschaftlichen Anhänglichkeit, die sie für ihre Herrin fühlte, freien Lauf ließ, sie mit den zärtlichsten Worten bat, die Augen zu öffnen, die sie wieder geschlossen hatte, und mit ihr – mit ihrer Rose zu sprechen, die, wenn es Noth thue, bereit sey, an der Seite ihrer Gebieterin zu sterben.
»Morgen – morgen, Rose,« flüsterte Eveline, »jetzt kann ich nicht sprechen.«
»Erleichtert nur Eure Seele durch ein einziges Wort – sagt mir, was Euch beunruhigt hat – welche Gefahr Euch drohte?«
»Ich habe sie gesehen,« antwortete Eveline, »ich habe die Bewohnerin jenes Zimmers gesehen, die Erscheinung, die meinem Stamme Unheil droht! – Dringe nicht weiter in mich! Morgen sollst Du Alles wissen.«
Als Gillian mit den beiden andern Dienerinnen hereintrat, trug man Evelinen unter Rosen's Leitung in ein entfernteres Zimmer, welches jene Mädchen bewohnt hatten, und legte sie dort auf eins ihrer Betten. Rose entließ die Dienerinnen, Frau Gillian ausgenommen, um sich irgend einen Ruheplatz, wo es auch sey, zu suchen, und fuhr fort bei ihrer Gebieterin zu wachen. Einige Zeit blieb Eveline noch bewegt und unruhig; allein die Ermüdung und der Einfluß eines narkotischen Mittels, das Frau Gillian verständig genug empfohlen und zubereitet hatte, beruhigte sie nach und nach. Sie sank in einen tiefen Schlummer, von dem sie erst erwachte, als die Sonne bereits hoch über den entfernten Bergen stand.