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Fünfzehntes Kapitel.

Ich seh' eine Hand – Ihr seht sie nicht,
   Sie winkt mir fortzueilen;
Ich hör' einen Ton – Ihr hört ihn nicht,
   Er heißt mich hier verweilen.

Mallet.

Als Eveline wieder die Augen aufschlug, schien sie anfangs die Erinnerung an die Ereignisse der vorigen Nacht gänzlich verloren zu haben. Sie blickte in dem Zimmer umher, das nur mit schlechten und sparsamen Meubeln versehen war, da man es zum Gebrauch der Dienerschaft bestimmt hatte. »Unsere gute Verwandte,« sagte sie lächelnd zu Rosen, »übt die sächsische Gastfreundschaft, was die Wohnung anlangt, auf ökonomische Weise aus. Ich hätte gern das verschwenderische Mahl am gestrigen Abend für ein weicheres Lager hingegeben, meine Glieder schmerzen mir, als wäre ich auf der Scheuntenne von Dreschziegeln zerschlagen worden.«

»Es freut mich, daß Ihr so aufgeräumt seyd,« erwiederte Rose, welche absichtlich jede Beziehung auf die nächtlichen Ereignisse vermied. Frau Gillian war nicht so gewissenhaft. »Ihr legtet Euch doch,« sagte sie, »gestern Abend auf ein besseres Bett nieder, wenn ich nicht sehr irre, und Rose Flammock, so wie Ihr selbst, müßt am besten wissen, warum Ihr es verlassen habt.«

Hätte ein Blick tödten können, so würde Frau Gillian durch den, welchen ihr Rose zur Strafe dieser übel angebrachten Bemerkung zuwarf, in Todesgefahr gerathen seyn.

Die Wirkung, welche Rose befürchtete, blieb leider nicht aus: Fräulein Eveline schien im ersten Augenblick erstaunt und verlegen; als indeß die Erinnerung des Vergangenen wieder deutlich vor ihre Seele trat, sah sie mit gefalteten Händen zu Boden und brach mit leidenschaftlicher Bewegung in bittere Thränen aus.

Rose suchte sie auf alle Weise zu beruhigen und schlug ihr vor, den alten sächsischen Hauskapellan herbeizurufen, damit er ihr geistlichen Trost reiche, falls ihr Kummer den irdischen verschmähe.

»Nein, rufe ihn nicht!« sagte Eveline, indem sie ihr Haupt emporhob und ihre Thränen trocknete. »Ich habe der sächsischen Gastfreundschaft zur Genüge empfangen. Ich Thörin, die ich von jenem harten gefühllosen Weibe irgend ein Mitleid mit meiner Jugend erwartete – mit meinem vor Kurzem erlittenen Leiden – mit meiner verwaiseten Lage! Ich will ihr den ärmlichen Triumph über das normännische Blut Berengar's nicht gönnen, indem ich es ihr bemerken lasse, wie viel ihre unmenschliche Forderung mir gekostet hat. Aber zuerst, Rose, antworte mir offen: war irgend ein Bewohner von Baldringham Zeuge meines Entsetzens in der vorigen Nacht?«

Rose gab ihr die Versicherung, sie sey nur von ihren eigenen Leuten, von ihr selbst, von Gillian, Blanche und Ternotte bedient worden. Diese Worte schienen sie zu beruhigen.

»Hört mich Beide an,« sagte sie, »und wenn Ihr mich liebt oder fürchtet, so befolgt meine Worte. Verrathet mit keiner Sylbe, was sich diese Nacht zugetragen hat. Leihe mir augenblicklich Deinen Beistand, Gillian, und auch Du, Rose, damit ich diese unordentliche Kleidung wechsle und dies aufgelöste Haar in Ordnung bringe. Eine elende Rache war es, die sie an mir zu nehmen suchte, meiner normännischen Abkunft wegen. Ich bin entschlossen, ihr nicht die kleinste Spur von den Leiden, die sie mir verursacht, blicken zu lassen.«

Als sie so sprach, glühten ihre Augen vor Unwillen, der die eben geflossenen Zähren aufzutrocknen schien. Rose bemerkte diesen Wechsel mit einer Mischung von Freude und Besorgniß, da sie wohl einsah, daß bei ihrer Gebieterin die Gefühle vorherrschend waren; welche ein verwöhntes Kind, das nur mit Nachsicht, Zärtlichkeit und Milde behandelt wird, dann empfindet, wenn Vernachläßigung oder Widerspruch seinen Unmuth wecken.

»Gott weiß es,« sagte die treue Leibdienerin, »lieber wollte ich Tropfen geschmolzenes Blei in meiner Hand auffangen, als Eure Thränen noch länger fließen sehen; und gleichwohl, meine süße Gebieterin, wünschte ich Euch lieber in diesem Augenblicke betrübt, als zornig zu erblicken. Diese alte Dame hat, wie es mir scheint, nach irgend einem abergläubischen Gebrauche ihrer Familie, welche gewissermaßen auch die Eure ist, gehandelt. Ihr ganzes Leben und ihre Besitzungen haben ihr einen achtungsvollen Namen erworben, und da Ihr von den Normannen so hart bedrängt werdet, mit denen Eure Tante, die Priorin, gewiß einverstanden ist, so hoffte ich, Lady Baldringham würde Euch einigen Schutz gewähren können.«

»Nimmermehr, Rose, nimmermehr!« entgegnete Eveline. »Du weißt nicht – kannst nicht ahnen, was ich gelitten habe, da sie mich der Zauberei, den bösen Geistern preisgab. Du selbst sagtest es und hast mehr gesprochen: Die Sachsen sind noch immer halbe Heiden, die eben so wenig Christenthum, als Menschlichkeit und Gefühl besitzen.«

»Damals sprach ich freilich so,« erwiederte Rose, »um Euch einer möglichen Gefahr zu entziehen; jetzt, da sie überstanden ist, möchte ich wohl anders darüber urtheilen.«

»Sprich nicht zu ihren Gunsten, Rose!« sagte Eveline. »Nie ward einem bösen Geist ein schuldloses Opfer mit größerer Gleichgültigkeit preisgegeben, als meine Verwandte mich selbst darbrachte – mich, eine Waise, beraubt meines angebornen mächtigen Schutzes. Ich hasse ihre Grausamkeit – hasse ihr Haus – hasse das Andenken an Alles, was sich hier ereignete – Alles, Rose, Deine beispiellose Treue, Deine unerschütterte Anhänglichkeit ausgenommen. Geh! unser Gefolge soll augenblicklich satteln! Ich will sogleich fort, will mich nicht schmücken,« fügte sie hinzu, den früher begehrten Beistand ablehnend; »keine Rücksichten will ich hegen und ohne Zaudern Abschied nehmen.«

In dem leidenschaftlichen, unruhigen Benehmen ihrer Gebieterin erkannte Rose mit Besorgniß eine neue Wirkung des reizbaren, aufgeregten Gemüths, welches sich früher durch Thränen und Ohnmacht Luft gemacht hatte. Da sie indeß wohl einsah, daß jede Vorstellung fruchtlos seyn möchte, so ertheilte sie die nöthigen Befehle zur Versammlung des Gefolgs, dem Satteln der Pferde und den übrigen Vorbereitungen zur Abreise, in der Hoffnung, daß, wenn ihre Gebieterin erst von dem Orte, wo sie so heftig erschüttert worden, entfernt sey, ihr Gleichmuth sich nach und nach wieder einstellen werde.

Frau Gillian war demzufolge beschäftigt mit der Anordnung des Gepäcks für die Lady, während ihr übriges Gefolge sich zur augenblicklichen Abreise vorbereitete. Da erschien, durch ihren Haushofmeister angemeldet, der eine Art von Kämmerling vorstellte, Lady Irmgard, auf ihre Vertraute, Berwine, gelehnt, und begleitet von zwei ihrer ersten Hausbeamten. Auf ihrer betagten, doch erhabenen Stirn lag der Ausdruck des Unmuths.

Eveline war mit zitternder, eiliger Hand, glühenden Wangen und andern Zeichen innerer Unruhe selbst beschäftigt bei dem Anordnen einiges Gepäcks, als ihre Verwandte in's Zimmer trat. Plötzlich wußte sie, zu Rosen's großem Erstaunen, sich so völlig zu beherrschen und jeden äußern Schein von Unruhe so zu unterdrücken, daß sie ihrer Tante mit einer eben so ruhigen und stolzen Haltung entgegentrat, als Irmgard selbst nur zu zeigen vermochte.

»Ich komme, Euch einen guten Morgen zu sagen, Nichte!« sagte Irmgard, zwar mit stolzem Tone, doch mit mehr Achtung, als sie anfangs zu zeigen Willens gewesen war, so sehr flößte ihr Evelinens Benehmen Ehrfurcht ein. »Es hat Euch gefallen, wie ich sehe, das Gemach, welches Euch nach alter Sitte dieses Hauses angewiesen ward, zu verlassen und Euch mit dem Zimmer einer Dienerin zu behelfen 's.

»Wundert Ihr Euch darüber, Lady?« entgegnete Eveline ihrerseits: »oder ist es Euch unlieb, daß Ihr mich nicht als Leiche in jenem Zimmer wieder findet, das Eure Gastfreundschaft und Liebe mir anwies?«

»Euer Schlummer ist also unterbrochen worden?« fragte Irmgard, ihren Blick fest auf Evelinen richtend.

»Wenn ich mich nicht darüber beklage, so muß das Uebel mir wohl nur sehr geringfügig scheinen. Was sich zugetragen, ist vorüber und vergangen, und es ist nicht meine Absicht, Euch durch den Bericht zu belästigen.«

» Sie, mit dem rothen Finger,« erwiederte Irmgard triumphirend, » sie liebt das Blut der Fremden nicht«

»Sie hatte noch weniger Ursache, das Blut der Sachsen zu lieben, als sie noch auf der Erde wandelte,« sagte Eveline, »falls anders nicht die Legende die Sache falsch berichtet, und falls nicht, wie ich vermuthe, Euer Haus heimgesucht wird, nicht von der Seele der Todten, die in diesen Mauern litt, sondern von bösen Geistern, denen die Abkömmlinge des Hengist und Horsa noch jetzt im Stillen opfern sollen.«

»Ihr seyd sehr bei Laune, Fräulein,« versetzte die Lady verächtlich: »oder sind Eure Worte ernstlich gemeint, so hat der Pfeil Eures Tadels sein Ziel verfehlt. Ein Haus, gesegnet durch St. Dunstan und den königlichen und heiligen Bekenner, ist kein Wohnsitz böser Geister.«

»Das Haus Baldringham« entgegnete Eveline, »ist wenigstens kein Aufenthalt für diejenigen, welche solche Geister fürchten. Und da ich mich in aller Demuth zu ihrer Zahl bekenne, so will ich diesen Aufenthalt der Obhut des heiligen Dunstan überlassen.«

»Doch nicht ehe Ihr Euer Fasten gebrochen habt, will ich hoffen,« sagte die Lady von Baldringham. »Meinem hohen Alter und unserer Verwandtschaft werdet Ihr doch die kränkende Schmach nicht anthun?«

»Verzeiht mir, Madame!« erwiederte Eveline, »wer Nachts Eure Gastfreundschaft erprobte, erkundigt sich am folgenden Morgen nicht leicht nach dem Frühstück. – Rose! sind die langsamen Buben noch nicht im Hofe versammelt? Oder ruhen sie noch auf ihrem Lager, um den durch mitternächtliche Störungen eingebüßten Schlummer nachzuholen?«

Rose meldete, das Gefolge sey bereits zu Pferde und halte im Hofe. Mit einer flüchtigen Verbeugung suchte Eveline an ihrer Tante vorbeizugehen, und ohne weitere Umstände das Gemach zu verlassen. Irmgard trat ihr im ersten Augenblick mit einem grimmig wüthenden Blick entgegen, der eine Seele zu verrathen schien, in der mehr Rachsucht herrschte, als das schwache Blut und die starren Züge ihres hohen Alters ausdrückten; ja, sie hob sogar ihren Stab von Elfenbein empor, als wolle sie irgend eine gewaltthätige Handlung ausüben. Plötzlich aber änderte sie ihren Plan und machte Evelinen Platz, welche ohne weitere Worte hinweg eilte. Als sie indeß die Treppe hinunterstieg, die von diesem Zimmer zum Thore führte, hörte sie die Stimme ihrer Tante hinter sich her, wie die einer alten entrüsteten Sibylle, Ach und Weh über ihre Frechheit und Anmaßung rufen.

»Der Stolz,« rief sie, »schreitet vor der Vernichtung einher, und Hochmuth vor dem Falle! – Sie, die das Haus ihrer Vorfahren verhöhnt, soll zerschmettert werden durch einen Stein von seinen Zinnen! – Sie, die der grauen Haare einer Verwandten spottet, soll nie das Alter mit einer Silberlocke schmücken! Sie, die sich vermählt mit einem Manne des Krieges und Blutes, wird ein unfriedliches, blutiges Ende nehmen!«

Eveline, welche diesen und ähnlichen Verwünschungen zu entfliehen suchte, eilte schnell aus dem Hause und bestieg ihr Roß mit der Hast einer Flüchtigen. Von ihrem Gefolge begleitet, das, ohne den eigentlichen Grund zu wissen, ihr Schrecken einigermaßen theilte, sprengte sie schnell in den Wald. Der alte Raoul, wohl bekannt in der Umgegend, vertrat die Stelle ihres Führers.

Mehr, als sie es sich selbst gestehen mochte, bewegt, daß sie die Wohnung einer so nahen Verwandten verlassen mußte, belastet von ihren Verwünschungen statt des Segens, der gewöhnlich einer scheidenden Verwandten zu Theil wird, eilte Eveline rastlos vorwärts, bis die großen Eichen mit ihren dichten Aesten die unheimliche Wohnung verbargen.

Bald darauf verkündete ein Geräusch die herbeisprengende Patrouille, welche der Konstabel zum Schutz der Herrschaftswohnung zurückgelassen hatte, und die jetzt, von ihren verschiedenen Posten sich sammelnd, herbei eilte, um Fräulein Eveline auf ihrem weiteren Wege nach Glocester zu begleiten. Dieser Weg zog sich großentheils durch den Wald von Deane, damals ein Forst von großem Umfange, der indeß jetzt wegen der dort befindlichen Eisenminen sehr von Bäumen entblößt ist.

Die Reiter eilten herbei, um zu dem Gefolge Evelinens zu stoßen. Ihre Rüstungen glänzten in der Morgensonne, ihre Trompeten schmetterten, und schnaubend stampften die Rosse, von denen jedes von seinem ritterlichen Reiter so geführt ward, daß die Schönheit des Thieres und die Geschicklichkeit des Reiters im hellsten Lichte erschien. Dabei wußte jeder die mit langen Fähnlein geschmückte Lanze auf die muthigste und gewandteste Art zu schwingen.

Der kriegerische Charakter ihrer normännischen Landsleute lieh Evelinen ein gewisses Gefühl der Sicherheit und des Triumphes, welches viel dazu beitrug, ihre düstern Gedanken und die fieberhafte Spannung ihrer Nerven zu mildern. Die höher steigende Sonne, der Gesang der Vögel im grünen Laubgewölbe, das Blöcken der zur Weide getriebenen Heerden, der Anblick der Hirschkuh, die mit ihrem Kalbe oft quer über eine entfernte Waldebene eilte – alles dies trug dazu bei, das Entsetzen, womit die nächtliche Vision Evelinen erfüllt hatte, zu verscheuchen, und die leidenschaftliche Entrüstung zu mildern, die sie seit ihrer Entfernung von Baldringham empfand. Sie ließ ihr Pferd langsamer gehen, und begann, mit weiblicher Berücksichtigung des Anstandes, ihr Reitkleid sorglicher zu ordnen und den Kopfputz, der bei ihrer schnellen Abreise in Unordnung gerathen war, möglichst zu verbessern.

Rose bemerkte, daß die Wangen des Fräuleins eine blässere, aber ruhigere Farbe annahmen, ganz verschieden von der Gluth des Zorns, die sie früher geröthet hatte. Sie sah, wie Evelinens Blick sich erheiterte, als sie mit einer Art von Triumph auf ihr kriegerisches Gefolge schaute und Rose verzieh – was sie bei einer anderen Gelegenheit schwerlich gethan hätte – ihre begeisterten Ausrufungen zum Lobe ihrer Landsleute.

»Wir reisen sicher,« sagte Eveline, »da wir uns unter dem Schutze der fürstlichen siegreichen Normannen befinden. Sie besitzen den edlen Zorn des Löwen, welcher zerstört oder plötzlich ruhig wird. Keine Falschheit ist mit ihrer romantischen Zuneigung verbunden, keine mürrische Tücke mischt sich in ihren großmüthigen Zorn. Sie kennen eben so wohl die Pflichten des Hauses als die der Schlacht, und sollten sie je in kriegerischer Hinsicht übertroffen werden (was nur dann geschehen kann, wenn Plinlimmon in seinem Grunde erschüttert wird), so werden sie doch an Großmuth und Artigkeit jedem anderen Volke die Spitze bieten.«

»Fühle ich auch ihre Verdienste nicht so stark, als wenn ich aus ihrem Blute stammte,« entgegnete Rose, »so bin ich wenigstens froh, daß wir sie in Wäldern um uns haben, in denen uns Gefahren mancher Art bedrohen können; und ich gestehe, mein Herz fühlt sich leichter, seit wir nicht die geringste Spur mehr von jenem alten Wohnsitz erblicken können, wo wir eine so unangenehme Nacht zugebracht haben, daß ich stets nur mit Widerwillen daran denken kann.«

Eveline sah sie scharf au. »Gestehe mir aufrichtig, Rose, nicht wahr, Dein bestes Mieder würdest Du darum geben, wenn Du mein furchtbares Abenteuer ganz kenntest?«

»Das hieße nur eingestehen, daß ich ein Weib sey,« versetzte Rose; »und gesetzt, ich wäre ein Mann, so möchte ich behaupten, daß die Verschiedenheit des Geschlechts hier die Neugierde wenig vermindern würde.«

»Du brüstest Dich nicht mit andern Empfindungen, wiewohl sie es eigentlich sind, die Dich zu so vielem Antheil an meinem Geschick bewegen,« sagte Eveline. »Allein ich bin darum nicht weniger von ihnen überzeugt, meine gute Rose. Verlaß Dich drauf, Du sollst Alles erfahren, aber ich denke – jetzt noch nicht.«

»Das steht in Eurem Belieben,« versetzte Rose. »Und gleichwohl dünkt mich, ein so furchtbares Geheimniß im einsamen Busen zu bewahren, müsse das Gewicht noch drückender machen. Auf meine Verschwiegenheit könnt Ihr Euch verlassen, wie auf das heilige Bild, welches unsere Beichte empfängt, doch nie wiedergibt. Ueberdies wird unsere Einbildungskraft mit solchen Dingen vertrauter, wenn man öfters darüber spricht, und sie so allmälig ihres Entsetzens entkleidet.«

»Du hast sehr recht, meine kluge Rose,« sagte Eveline; »allerdings; von dieser tapferen Schaar umringt, und getragen von meinem schönen Rosse Yseulte, wie eine Blume von dem blühenden Strauch – hier, wo die Morgenlüfte uns umwehen, die Blumen ihren Kelch öffnen, die Vögel singen – hier, wo ich Dich an meiner Seite habe – hier wäre allerdings der passendste Augenblick, Dir das mitzutheilen, worauf Du mit Recht Ansprüche machen kannst; und – – Ja! Du sollst Alles wissen! Vermuthlich sind Dir die Eigenschaften nicht unbekannt, welche die Sachsen einem sogenannten Bahrgeiste beilegen?«

»Verzeiht, Fräulein,« antwortete Rose, »mein Vater konnte es nie leiden, wenn ich auf dergleichen Erzählungen achtete. Ich könnte böse Wesen genug sehen, meinte er, ohne mir mit Hülfe der Phantasie dergleichen Traumgebilde zu erschaffen. Das Wort Bahrgeist habe ich von Frau Gillian und anderen Sachsen nennen hören, allein mir liefert es nur ein Bild unbestimmten Entsetzens, worüber ich nie eine deutlichere Bezeichnung verlangte oder erhielt.«

»So wisse denn,« sagte Eveline, »daß es ein Gespenst ist, gewöhnlich der Schatten eines Verstorbenen, der entweder wegen der Schmach, die ihm an einem bestimmten Ort, im Leben wiederfuhr, oder weil dort ein Schatz verborgen ist, oder aus irgend einem anderen Grunde, dort von Zeit zu Zeit erscheint, mit den dort Wohnenden in steter Verbindung bleibt, und an ihrem Schicksal einen Antheil nimmt, der mitunter Gutes, zuweilen Schlimmes nach sich zieht. Man betrachtet daher den Bahrgeist mitunter als wohlwollenden Genius, mitunter als Rachegeist, der einigen Familien eigenthümlich anhängt. Nun ist es das Loos der Familie von Baldringham, die in anderer Hinsicht kein geringes Ansehen behauptet, den Besuchen eines solchen Wesens unterworfen zu seyn.«

»Darf ich, falls sie Euch bekannt ist, nach der Ursache dieser Erscheinung fragen?« entgegnete Rose, welche die mittheilende Laune ihrer jungen Gebieterin so viel als möglich zu nützen suchte, da diese Stimmung vielleicht von keiner Dauer war.

»Ich kenne die Legende nur unvollkommen,« erwiederte Eveline mit vieler Ruhe, die sie durch einen angestrengten Kampf mit der Bewegung ihres Innern erlangt hatte. »Sie lautet im Allgemeinen so: Baldrick, der sächsische Held, der zuerst jenen Herrensitz bewohnte, verliebte sich in eine schöne Brittin, die, wie es hieß, von jenen Druiden abstammte, von denen die Walliser so viel sprechen. Man hielt sie für nicht unerfahren in den Zauberkünsten, welche die Druiden ausübten, wenn sie in jenen Kreisen unbehauener, aufgerichteter Felsstücke, deren Du so viel gesehen hast, Menschenopfer darbrachten. Baldrick ward nach einer mehr als zweijährigen Ehe seiner Frau so überdrüssig, daß er den grausamen Entschluß faßte, sie zu tödten. Einige behaupten, er habe an ihrer Treue gezweifelt; Andere sagen, die Kirche habe ihre Trennung ihm zur Pflicht gemacht, da man sie der Ketzerei beschuldigte; noch Andere meinen, er habe sie einer reicheren Heirath halber aus dem Wege geschafft; doch in der Sache selbst kommen Alle überein. Er sandte zwei seiner Ritter nach dem Hause von Baldringham, um die unglückliche Wanda zu tödten, und gebot ihnen, ihm den Ring, den sie am Vermählungstage getragen, zu bringen, als ein Zeichen, daß sie seinen Befehl erfüllt hätten. Die Mörder vollzogen unbarmherzig ihr Amt, sie erwürgten Wanda in jenem Gemache, und da die Hand, so geschwollen war, daß keine Gewalt fruchtete, ihr den Ring abzuziehen, so bemächtigten sie sich desselben, indem sie den Finger abschnitten. Aber lange vor der Rückkehr dieser grausamen Urheber ihres Todes war Wanda's Schatten ihrem erschrockenen Gemahl erschienen, und ihm mit blutiger Hand drohend, verkündete sie ihm auf furchtbare Weise, wie gut man seinem furchtbaren Befehl gehorcht habe. Nachdem sie ihn in Krieg und Frieden, in der Einsamkeit, am Hofe, im Lager heimgesucht hatte, bis er in Verzweiflung starb auf einer Wallfahrt nach Palästina, tobte der Bahrgeist, oder das Gespenst der ermordeten Wanda so furchtbar in dem Hause von Baldringham, daß selbst der Beistand des heiligen Dunstan kaum hinreichte, diesen Erscheinungen Einhalt zu thun. Ja, als es dem gesegneten Heiligen endlich gelang, den Geist zu bannen, so legte er, zur Sühne von Baldricks Verbrechen, jedem weiblichen Abkömmling seines Hauses bis in das dritte Glied eine dauernde furchtbare Buße auf. Einmal in ihrem Leben, und zwar vor ihrem einundzwanzigsten Jahre, sollte eine jede Jungfrau dieses Hauses eine Nacht in dem Zimmer der ermordeten Wanda einsam zubringen, und dort gewisse Gebete, sowohl für ihre Ruhe, als für die leidende Seele des Mörders sprechen. In jener furchtbaren Nacht nun glaubt man allgemein, daß der Geist der Ermordeten der Jungfrau erscheine, welche diese Vigilien feiert, und daß er ihr durch irgend ein Zeichen ihr künftiges gutes oder böses Schicksal verkünde. Im günstigsten Falle erscheint sie mit lächelndem Antlitz, und macht mit unblutiger Hand das Zeichen des Kreuzes. Aber auf Unheil deutet es, wenn der Geist die Hand mit dem abgeschnittenen Finger finsteren Blickes emporhebt, als wolle er des Gatten unmenschliche Grausamkeit an dem Abkömmling rächen. Zuweilen soll der Geist sprechen. – Diese einzelnen Umstände erfuhr ich von einer alten sächsischen Frau, der Mutter unserer Margarethe, die bei meiner Großmutter diente und mit ihr das Haus von Baldringham verließ, als sie mit meinem Großvater daraus entfloh.«

»Brachte Eure Großmutter,« fragte Rose, »jemals dem Geiste diese Huldigung dar, die mir – mit Vergunst des heiligen Dunstan – ein menschliches Geschöpf mit einem Wesen zweifelhafter Natur in zu nahe Berührung zu bringen scheint.«

»Das war auch meines Großvaters Meinung, der meiner Großmutter nach ihrer Verheirathung nie erlaubte, das Haus von Baldringham wieder zu besuchen. Dies gab Anlaß zu dem Zwist, der ihn und seinen Sohn von den übrigen Mitgliedern der Familie trennte. Sie schoben mehrere Unglücksfälle, besonders den Verlust männlicher Erben, der sie zu dieser Zeit traf, auf die Vernachläßigung der erblichen Huldigung an den Bahrgeist mit dem blutigen Finger.«

»Wie konntet aber Ihr, theure Lady, da Ihr es wußtet, daß sie einen so furchtbaren Gebrauch aufrecht erhielten, wie konntet Ihr daran denken, Irmgard's Einladung anzunehmen?«

»Diese Frage kann ich Dir kaum beantworten,« sagte Eveline. »Zum Theil fürchtete ich, daß meines Vaters Unglück (welches, wie ich von ihm selbst weiß, ihm meine Tante einst prophezeihte), erschlagen zu werden durch den Feind, den er am meisten verachtete, eine Folge jenes verabsäumten Gebrauchs sey. Dann aber hoffte ich auch, daß, wenn die mir näher getretene Gefahr meinen Geist noch mehr erschüttern sollte, man aus Menschlichkeit und Höflichkeit nicht schärfer in mich dringen würde, mich ihr zu unterwerfen. Du hast gesehen, wie schnell meine hartherzige Verwandte die Gelegenheit benutzte, und wie es mir, die ich den Namen und hoffentlich auch den Geist der Berengare besitze, unmöglich ward, aus dem Netze, worin ich mich selbst verstrickt, mich wieder zu befreien.«

»Keine Rücksicht auf Rang und Stand,« versetzte Rose, »hätte mich je vermocht, mich dahin zu begeben, wo schon die bloße Furcht, selbst ohne die Schrecken einer wirklichen Erscheinung, meine Verwegenheit hätte durch Wahnsinn strafen können. Aber was, in des Himmels Namen, erblicktet Ihr bei jener furchtbaren Zusammenkunft!«

»Das ist eben die Frage,« erwiederte Eveline, ihre Hand an die Stirn legend, »wie ich das sehen konnte, was ich deutlich sah, und gleichwohl noch meiner Sinne und meines Verstandes mächtig geblieben bin! – Ich hatte die vorgeschriebenen Gebete für den Mörder und sein Opfer gesprochen, und mich auf das mir bestimmte Lager niedersetzend, diejenigen meiner Kleider abgelegt, die mich am Ruhen hinderten. Kurz; ich hatte die erste Erschütterung, welche ich beim Eintritt in die geheimnißvolle Stube empfand, überwunden, und schuldlos, wie meine Gedanken waren, hoffte ich die Nacht in süßem Schlummer zuzubringen. Aber fürchterlich ward ich getäuscht. Ich weiß nicht, wie lang ich geschlafen haben mochte, als meinen Busen ein ungewöhnliches Gewicht belastete, das zugleich meine Stimme zu ersticken, das Klopfen meines Herzens zu hemmen und mir den freien Athemzug zu rauben schien. Als ich nun das Auge aufschlug, die Ursache dieser furchtbaren Beklemmung zu entdecken, beugte sich die Gestalt der ermordeten brittischen Matrone über mein Lager, ein Schattenbild von ungewöhnlicher Größe, in dessen schöne und ehrwürdige Züge sich ein wilder Ausdruck von Rachgier mischte. Sie hielt die Hand über mir, welche das blutige Merkmal der Grausamkeit ihres Gatten trug, und indem sie damit das Zeichen des Kreuzes machte, schien sie sich der Vernichtung zu weihen, mit unheimlichem Tone die Worte sprechend:

›Als Jungfrau Weib, als Gattin Wittwe,
Verlobt, Verrätherin und selbst verrathen.‹

Das Phantom bog sich, während es sprach, näher zu mir, und streckte mir die blutenden Finger entgegen, als wolle es mein Antlitz berühren. Da gab der Schreck mir die Kraft wieder, deren er mich beraubt hatte. Ich schrie laut auf; das Fenster des Zimmers ward mit schallendem Getöse zerschmettert, und – – doch wozu Dir dies Alles erzählen, Rose, da Dein Auge und die Bewegung Deiner Lippen mir nur zu deutlich sagt, daß Du mich für eine einfältige, kindische Träumerin hältst!«

»Zürnt nicht, theure Lady,« entgegnete Rose; »ich glaube in der That, daß jener Zauber, den wir den Alp Im englischen Original: »Mara«, mit der Fußnote: »Ephialtes, or Nightmare«. nennen, Euch heimgesucht hat. Allein die Aerzte halten ihn, wie Ihr wißt, für kein wirkliches Gespenst, sondern einzig für das Geschöpf unserer Einbildungskraft, erzeugt durch ein körperliches Uebelbefinden!«

»Du bist sehr gelehrt, Mädchen!« versetzte Eveline halb verdrießlich. »Aber wenn ich Dir versichere, daß, als mein guter Engel in menschlicher Gestalt mir zu Hülfe eilte, der böse Geist bei seinem Anblick verschwand, und daß mich jener in seinen Armen aus dem furchtbaren Zimmer trug, so wirst Du hoffentlich, als gute Christin, dem Bericht, den ich Dir mitgetheilt, mehr Glauben beimessen.«

»In der That, meine theure Gebieterin, ich kann es nicht,« sagte Rose. »Eben dieser Umstand mit dem Schutzengel veranlaßt mich, das Ganze für einen Traum zu halten. Eine normännische Schildwache, durch mich selbst zu diesem Behuf von ihrem Posten gerufen, sie war es, die Euch zu Hülfe eilte, und in Euer Zimmer einbrechend, Euch in dasjenige trug, wo ich Euch leblos aus den Armen jenes Kriegers empfing.«

»Ein normännischer Krieger – ha!« rief Eveline, stark erröthend. »Wer war es, Mädchen, dem Du den Auftrag zu geben wagtest, einzubrechen in mein Schlafzimmer?«

»Eure Augen glühen vor Zorn; aber solltet Ihr wohl mit Recht auf mich zürnen? Hört' ich nicht Euer Angstgeschrei, und ich sollte mich in diesem Augenblicke von steifen Rücksichten fesseln lassen? Eben so wenig, als wenn das ganze Schloß in Flammen gestanden hätte.«

»Ich frage Dich nochmals, Rose,« rief die Lady, noch immer außer Fassung, wenn auch minder entrüstet, »wem Du den Auftrag gabst, in mein Zimmer zu dringen?«

»Das weiß ich in der That nicht, Lady,« sagte Rose; »denn außerdem, daß der Krieger tief in seinen Mantel gehüllt war, so ließ sich kaum erwarten, daß ich seine Züge erkannt hätte, wenn ich auch sie vollkommen hätte erblicken können. Allein ich will den Kavalier bald ausfindig machen – will ihn gleich aufsuchen, um ihm die versprochene Belohnung zu geben, und ihn nochmals zu warnen, sich ja vorsichtig und verschwiegen bei der ganzen Sache zu benehmen.«

»Thu' es,« entgegnete Eveline, »und wofern Du ihn unter den Kriegern unsers Gefolges findest, so will ich in der That selbst Deiner Meinung beipflichten, und glauben, daß die Phantasie hauptsächlich Schuld ist an den Uebeln, die ich diese Nacht erduldet.«

Ihr Roß mit der Reitgerte antreibend, ritt Rose, in Begleitung ihrer Gebieterin, zu Philipp Guarine, des Konstabels Leibknappen, der für jetzt ihre kleine Bedeckung befehligte. »Guter Guarine,«, sagte sie, »ich habe mit einer der Schildwachen die vorige Nacht von meinem Fenster aus gesprochen. Der Krieger leistete mir einen guten Dienst– für den ich ihn zu belohnen versprach. Wollt Ihr Euch wohl nach dem Manne erkundigen, damit ich ihm meine Schuld abtragen kann?«

»Ich will ihm auch meinerseits seinen Lohn entrichten, mein schönes Kind!« entgegnete der Knappe. »Ein Lanzenknecht, der sich dem Hause so weit nähert, daß er ein Gespräch vom Fenster aus unterhalten kann, hat die strengen Befehle seiner Wache überschritten.«

»Stille! das müßt Ihr schon um meinetwillen verzeihen,« sagte Rose. »Ich wette darauf, hätte ich Euch selbst gerufen, wackerer Guarine, ich würde Euch schon bewegt haben, bis unter mein Kammerfenster vorzudringen.«

Guarine lachte, und sagte mit Achselzucken: »Freilich, wo Weiber im Spiel sind, da läuft die Kriegszucht Gefahr.«

Er ging sogleich, um die nöthigen Erkundigungen unter seiner Schaar einzuziehen, und kehrte zurück mit der Versicherung, daß seine Krieger allgemein und ernstlich läugneten, während der Nacht sich dem Hause der Lady Irmgard genaht zu haben.

»Da siehst Du nun, Rose!« sagte Eveline mit bedeutendem Blick zu ihrer Begleiterin.

»Die armen Schelme fürchten sich vor Guarine's Strenge, und wagen nicht, die Wahrheit zu gestehen,« entgegnete Rose. »Gewiß wird einer insgeheim seinen Lohn von mir fordern.«

»Ich wollte, das Vorrecht gehörte mir, Jungfer!« sagte Guarine. »Aber was diese Bursche betrifft, so sind sie so furchtsam nicht, als Ihr glaubt, und meistens nur zu bereit, sich ihrer Schelmstreiche zu rühmen, selbst wenn sie weniger Entschuldigung verdienen. Ueberdies versprach ich ihnen Straflosigkeit. – Habt Ihr sonst noch irgend etwas zu befehlen?«

»Nichts, guter Guarine,« sagte das Fräulein. »Doch nimm dies kleine Geschenk hier, um Deinen Kriegern Wein reichen zu lassen, damit sie die nächste Nacht fröhlicher zubringen, als die vergangene. – Fort ist er! Jetzt, Mädchen, wirst Du es doch zugeben, denke ich, daß das, was Du sahst, kein irdisches Wesen war?«

»Ich muß meinen eigenen Augen und Ohren trauen,« erwiederte Rose.

»Thu' es, aber bewillige mir dasselbe Vorrecht,« antwortete Eveline. »Glaube mir, mein Befreier – denn so muß ich ihn nennen – trug die Züge eines Wesens, das nie in der Nähe von Baldringham war, noch dort seyn konnte. Beantworte mir nur Eine Frage: Was hältst Du von jener sonderbaren Prophezeihung:

›Als Jungfrau Weib, als Gattin Wittwe,
Verlobt, Verrätherin und selbst verrathen!‹

Du wirst sagen, es sey nichts, als eine Erfindung meines Gehirns, aber nimm es einen Augenblick für den Spruch eines ächten Wahrsagers – was meinst Du denn dazu?«

»Daß Ihr, theuerste Lady, verrathen werden, aber nie Verrätherin seyn könnt!« entgegnete Rose lebhaft.

Eveline reichte ihrer Freundin die Hand, und die ihrige zärtlich drückend, flüsterte sie ihr mit Nachdruck die Worte zu: »Ich danke Dir für ein Urtheil, welches mein Herz bestätigt.«

Eine Staubwolke verkündete jetzt das Herannahen des Konstabels und seines Gefolges, das jetzt durch die Gegenwart seines Wirths, Sir William Herbert, und einige seiner Nachbarn und Verwandten vermehrt ward, welche ihre Huldigung der Waise von Garde Doloureuse darzubringen wünschten – ein Name, den man Evelinen bei ihrem Durchzug durch dies Gebiet ertheilte.

Eveline bemerkte, daß bei ihrem Gruße Hugo von Lacy ein unmuthiges Erstaunen blicken ließ über den minder sorgfältigen Anzug und ihr vernachläßigtes Aeußere, welches durch die schnelle Abreise von Baldringham verursacht worden war. Auch sie ward ihrerseits überrascht durch den finstern Ausdruck seiner Züge, welche zu sagen schienen: »Ich bin eben nicht Jemand, den man wie einen gewöhnlichen Menschen behandeln, den man nachläßig empfangen und oberflächlich behandeln darf!« Zum Erstenmale schienen ihr des Konstabels Züge, denen Anmuth und Schönheit durchaus mangelte, sehr geeignet, heftige Leidenschaften kraftvoll und lebendig auszudrücken; und sie sah ein, daß diejenige, welche seinen Rang und Namen theilen wolle, mit völliger Entsagung, ihren eigenen Willen und ihre Wünsche einem eigenmächtigen Herrn und Gebieter werde unterwerfen müssen.

Allein die Wolke des Unmuths verließ bald die Stirn des Konstabels, und in seinem nachherigen Gespräch mit Herbert und den andern Rittern und Herren, welche während der Reise mit ihnen zusammentrafen, und sie eine Strecke Wegs begleiteten, bot sich Evelinen mehrfache Gelegenheit dar, Hugo de Lacy's Ueberlegenheit an Geist und Wahl des Ausdrucks zu bewundern, so wie die Aufmerksamkeit und Achtung zu bemerken, womit seine Worte selbst von denen aufgenommen wurden, die von zu hohem Range und zu stolz waren, irgend eine Ueberlegenheit anzuerkennen, welche sich nicht auf anerkannte Verdienste gründete.

Das Urtheil der Frauen richtet sich gewöhnlich nach dem Grade der Achtung, den die Männer einem Individuum einräumen; und Eveline, als ihre Reise in dem Kloster der Benediktinerinnen ihr Ziel erreichte, konnte nicht umhin, mit Achtung an den weit berühmten Krieger und geschätzten Staatsmann zu denken, dessen anerkannte Verdienste ihn hoch über jeden Andern stellten, den sie in seiner Nähe erblickt hatte. Seine Gattin, dachte Eveline (denn sie war nicht ganz ohne Ehrgeiz), würde sich, falls sie nur auf einige der Eigenschaften bei ihrem Gemahl verzichten wolle, die freilich in der Jugend für die weibliche Einbildungskraft am lockendsten sind, allgemein geehrt und geachtet sehen, und wenn auch kein romantisches Glück, doch Zufriedenheit erreichen können.



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