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Mit fieberhafter Spannung erwartete Lucy den Augenblick, wo sie seit langer Trennung zum ersten Mal wieder den Jugendfreund ungestört sehen und sprechen sollte. Wie langsam schlichen ihr die Stundenhin, der Weiser an der Uhr wollte nicht fortrücken. Beim Mittagstisch vermochte sie kaum einen Bissen hinunterzubringen, so daß die alte Wirthschafterin sie besorgt fragte; ob sie unwohl wäre und was ihr fehle? Sie bemühte sich heiter und unbefangen zu erscheinen, obgleich ihr das nur schwer gelang. Endlich begab sich der Knecht an die gewohnte Arbeit, nachdem er von Neuem sorgfältig das Thor verriegelt hatte; die Alte schien auf dem Lehnstuhl eingeschlafen. Jetzt war die Zeit da, wo Lucy sich fortstehlen konnte. Leise schlich sie auf den Zehen nach der Thür. Noch einmal wendete sie sich ängstlich um. Die Wirthschafterin hatte die Augen noch immer offen. Halb im Traum fragte sie: Wohin Lucy?
– Nur in den Garten, log das Mädchen. Ich will nach den neuen Pflanzen sehen.
– Geh, mein Kind! Aber entferne dich nicht weiter vom Hause, du weißt, daß das der Vater nicht leiden mag, besonders, wenn er abwesend ist. Wenn er so was erfährt, bekommen wir Beide Scheite.
– Ich bleibe im Garten.
– Gut, gut! murmelte die Alte, eine Anverwandte Henderson's, und verfiel von Neuem in ihren schlummersüchtigen Zustand.
Lucy ging, wie sie gesagt hatte, zunächst in den Garten. Derselbe bestand aus einigen bescheidenen Beeten und einer kleinen Baumpflanzung. Seitwärts lagen die Bienenkörbe, denen der alte Henderson eine besondere Pflege angedeihen ließ. Die fleißigen Bewohner derselben schwärmten in dichten Zügen und flogen summend an Lucy vorüber nach dem benachbarten Wald, wo sie eine reichere Ausbeute an Honig suchten. Die Tochter des Hauses war den klugen Thieren wohlbekannt. Ein keckes Bienchen setzte sich auf Lucy's Hand, die es vielleicht für eine weiße Blüthe gehalten hatte, dann entfaltete es, wohl weil es seine Täuschung erkannt haben mochte, die braunen Flügel und flog davon, als wenn es ihr den Weg zeigen wollte. – Ein Pförtchen führte aus dem Garten in das Freie, es war von Innen durch einen Holzriegel verschlossen. Diesen schob jetzt das Mädchen mit zitternder Hand zurück, als stände sie im Begriff, ein großes Verbrechen zu begehen. So hatte sie die Schwelle des väterlichen Hauses überschritten und stand einen Augenblick nachdenklich. Das Bienchen summte voran und Lucy wußte noch immer nicht, ob sie folgen sollte. Von Neuem erfüllte sie eine unnennbare Angst. Keck und muthwillig schwärmte das Bienchen weiter, von keinen ähnlichen Bedenklichkeiten erfüllt und wenn es überhaupt dachte, nur an den süßen Honig denkend, der seiner wartete. Da schoß aus den Lüften eine vorüberfliegende Schwalbe nieder. Wie der Blitz stürzte der Vogel auf das Thierchen herab. Mit dem Leben zahlte die kleine Biene ihren ersten Ausflug in's Freie. Lucy hatte den Vorgang nicht beachtet, denn sie war zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt; er hätte ihr vielleicht zur Warnung dienen können. So trug das heiße Blut und die Leidenschaft den Sieg davon, sie mußte Thomas sehen und hätte es auch ihr Leben gekostet.
So jung das Mädchen war, so besaß es doch einen festen Willen, der an Eigensinn fast grenzen mochte. Etwas von der puritanischen Halsstarrigkeit des alten Henderson war ihrem Wesen beigemischt. Die strenge Behandlung hatte ihren Trotz herausgefordert und länger wollte sie nicht mehr den ihr aufgenöthigten Zwang ertragen. Sie hatte früher ein anderes und glänzenderes Leben kennen gelernt, als sie jetzt in der stillen Hütte in Gesellschaft der alten Verwandtin und unter Aufsicht des mürrischen Vaters führen mußte. Damals als ihre Mutter noch lebte, als sie mit den Bewohnern von Ludlow-Castle noch täglich verkehren durfte, war sie auch die Theilnehmerin ihrer Freuden und vielfachen Vergnügungen gewesen. Tagelang durfte sie in den prächtigen Zimmern des Schlosses spielen, umgeben von allen möglichen kostbaren Gegenständen. Das hatte mit einem Male auf das Machtgebot des strengen Henderson aufhören müssen. Wie viele Thränen kosteten ihr nicht damals die so gewaltsam auferlegten Entbehrungen. Im Schlafen und Wachen gedachte sie jener herrlichen Zeiten und alles Schöne und Herrliche nahm für sie die Gestalt von Ludlow-Castle an. Dort lag das Land ihrer Sehnsucht; das verlorene Paradies der Kindheit.
Aus diesem Grunde war auch das Zusammentreffen mit Thomas im Haywood-Forst so verhängnißvoll für sie gewesen. Alle alten Wunden brachen wieder auf und die Erinnerung fachte die schlummernde Neigung zur hellen Flamme an. Wohl bedurfte es nur der Gelegenheit, nur eines Winkes und Lucy verließ das ihr verhaßte elterliche Haus, um in die Arme des früheren Jugendgespielen zu fliehen. Die Phantasie des siebzehnjährigen Mädchens sah in dem Jüngling einen Retter und Befreier aus dem Kerker, in dem sie sich gefangen glaubte. Das warme Blut, welches in ihren Adern rollte, verlangte nach Genuß und Lebenslust. Das Alles war ihr bisher versagt gewesen. Der finstere Puritaner vergönnte seiner Tochter keine Freude, nach der die Jugend ein billiges Verlangen trägt; selbst die unschuldigsten Vergnügungen waren ihr untersagt. Sie durfte nur in Begleitung des Vaters oder unter Aufsicht ausgehen, nie ein ländliches Fest besuchen. Der Ton einer Sackpfeife oder einer Violine war dem alten Henderson ein Greul, der Tanz eine furchtbare Sünde, jede sonst erlaubte Belustigung ein schweres Verbrechen. Das lag einmal im Geiste jener Zeit und in den Grundsätzen jener Sektirer. Selbst singen durfte Lucy nicht und sie hatte doch eine so frische, bezaubernde Stimme, daß sie wegen ihres Gesanges berühmt war. Herr Lawes, der Musiklehrer auf dem Schlosse, war, nachdem er sie gehört hatte, so entzückt gewesen, daß er von freien Stücken sich erbot, ihr den nöthigen Unterricht zu ertheilen und sie auszubilden. Auch das hatte der mürrische Puritaner nicht gelitten und unter dem Vorwande zurückgewiesen, daß die Stimme der Menschen nur dazu da sei, den Schöpfer zu preisen und dazu genüge der natürliche Gesang. Das Alles hatte Lucy lang genug nach ihrer Meinung ertragen, die übertriebene Strenge, die freudenlose Einsamkeit, den Druck einer rauhen Behandlung und Entbehrungen der selbst erlaubten Freuden. Jetzt war der Augenblick gekommen, sich einigermaßen zu entschädigen. In ihrer Seele regte sich unbewußt der Drang nach Freiheit, eine unbestimmte Sehnsucht nach irgend einem Wechsel, einer Veränderung in diesem eintönigen, langweiligen Leben.
In solcher Stimmung traf sie die Botschaft des Freundes. Ihr war zu Muthe wie dem Gefangenen, dem eine mitleidige Hand die Kerkerthüre aufschließt. Ohne Besinnung stürzte sie ins Freie. Erst hier überlegte sie und eine erklärliche Scheu beschlich ihr Herz. Mit jedem Schritte, um den sie sich weiter von dem elterlichen Hause entfernte, wuchs ihre Angst. Jeder Baum am Wege schien ihr ein Spion und hinter jedem Strauch glaubte sie einen heimlichen Aufpasser zu bemerken. Sie hatte das Aeußerste von der Strenge ihres Vaters zu erwarten, wenn er je erfahren sollte, daß sie seine Verbote in solcher Weise übertreten. In ihrem Herzen empfand sie nicht Liebe, sondern nur eine entsetzliche Furcht für ihn. Aber das war es nicht allein, was sie von ihrem Gange abschreckte. In ihrem Busen regte sich die warnende Stimme des Gewissens, die jungfräuliche Schaam. Beide riethen ihr von diesem Schritte ab und sprachen zwar nur leise, aber eindringlich genug mit dem zagenden Mädchen. Laut pochte das stürmisch bewegte Herz und drohte das knappe, schwarze Mieder zu sprengen. Allerlei Bedenklichkeiten stiegen in ihrer Seele auf und mehr als einmal wandte sie den Blick rückwärts nach der Hütte, welche in der Mittagssonne so ruhig dalag. So lange Lucy das Häuschen sah, wo sie geboren war, wo sie mit der gestorbenen Mutter so oft vor der Thüre saß, das lockige Haar in den Schoos der freundlichen Frau geborgen, fühlte sie sich noch immer versucht, wieder umzukehren. Die Fenster schienen ihr wie Augen, die ihr besorgt nachblickten, der rauchende Schornstein ein warnender Finger, der sie abmahnte. Sie glaubte eine bekannte Stimme zu vernehmen, welche sie klagend zurückrief. Der Ton schnitt ihr ins Herz und unwillkürlich zitterten ihre Kniee und ihr Fuß blieb eingewurzelt stehen. Aber im nächsten Augenblicke dachte sie an das Versprechen, welches sie dem harrenden Freunde gegeben hatte, und drehte der Heimath und den Geistern des häuslichen Heerdes, die ihr warnend folgten, entschlossen den Rücken. Nur noch ein einziges Mal wendete sie sich um, ehe sie den Steg überschritt, der sie an das andere Ufer führen sollte. Das Haus war verschwunden und hatte sich gänzlich ihren Blicken entzogen. Es kam ihr vor, als hätte sie nun keine Heimath mehr.
Mit raschen Schritten eilte ihr Fuß über die Brücke, sie athmete erst wieder frei, als sie den Fluß überschritten hatte. Hinter ihr lag die düstere Vergangenheit und vor ihr die blumigen Wiesen und der verschwiegene Wald, wo unter den Fichten der Geliebte sie erwartete. Wie schlug ihr Herz vor Sehnsucht und Verlangen ihm entgegen. Aber so leicht wie sich selber gab sie die Heimath noch nicht auf; sie schickte ihr den treuen Boten nach, der ihren Spuren emsig folgte. Es keuchte und schnaubte hinter ihr her. Lucy hatte nicht den Muth sich umzuschauen. Es kam immer näher und näher hergetrabt, heulend und winselnd, suchend und spürend. Der treue Hofhund war es, der ihr nachgeeilt war. Schon sprang er an ihr hoch empor und verkündigte seine Freude um die Wiedergefundene mit lautem Gebell und fröhlichen Sätzen. Ganz außer Athem schmiegte er sein zottiges Haupt an ihre leichte Gestalt und blickte sie dabei mit klugen, gutmüthigen Augen an. Sie vermochte nicht den Blick zu ertragen, der ihr zum stillen Vorwurf wurde. Der unvermuthete Zeuge war ihr zur Last. Vergebens scheuchte sie das Thier von ihrer Seite, der sonst gehorsame Hund wollte nicht von ihr lassen, immer von Neuem kehrte er zu ihr zurück, weder ihre Bitten noch ihre Drohungen trieben ihn fort. Seit früh'ster Jugend war er ihr steter Begleiter gewesen, er war mit ihr zusammen ausgewachsen, ein Freund, ein sorgsamer Wächter zu jeder Zeit; vielleicht in diesem Augenblicke mehr als je. Etwas Aehnliches mochte Lucy jetzt empfinden, und dennoch wollte sie den stummen Mahner nicht in ihrer Nähe dulden. Sie bat und schalt, sie drohte und flehte, aber der Hund wich nicht von der Stelle. Höchstens blieb er einige Schritte nur zurück und trabte mit gesenktem Haupte traurig hinterher. Um keinen Preis hätte das Mädchen seine Begleitung ertragen. Fast mit Thränen in den Augen hieß sie ihn umkehren, doch umsonst, er klammerte sich ihren Fersen an, wie das mahnende Gewissen. Die Ungeduld ließ sie Alles vergessen, seine Treue und Liebe, die vieljährigen Dienste und ihre alte Zuneigung. Sie hob einen Stein vom Wege auf und schleuderte denselben nach dem treuen Thier. Dieses stieß ein lautes Geheul aus und hinkte mit blutigem Fuße davon. Vor ihren Augen wurde es dunkel, sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Als sie aufblickte, war der Hund bereits verschwunden.
Nun stürzte sie im hastigen Laufe fort, um die versäumte Zeit wieder einzubringen, aber noch immer glaubte sie das Keuchen und Schnauben des getreuen Hundes hinter sich zuhören und den vorwurfsvollen Blick zu sehen, den er ihr zuwarf, als die Hand, welche sonst nur Liebkosungen für ihn hatte, den Stein vom Boden gegen ihn aufhob. Als hätte sie ein Verbrechen begangen, so fühlte sie die Brust beklommen und die Seele bedrückt. In ihrem Innern ließ sich die warnende Stimme von Neuem, doch vergeblich hören. Sie konnte bereits das Ziel ihrer Wanderung sehen, die drei einsamen Fichten um das alte Grab. Der letzte Auftritt hatte ihr heißes Blut nur noch mehr in Wallung gebracht und den trotzigen Sinn bestärkt. In diesem Augenblicke konnte sie nichts mehr zurückhalten. Ihre Wangen glühten, ihre Pulse klopften, eine Art wilden Wahnsinns hatte sich ihrer Seele bemächtigt. So stürmte sie ihrem Schicksal entgegen.
Auch Thomas wartete mit ähnlicher fieberhafter Aufregung auf die Ankunft des Mädchens, für das in seinem Herzen so plötzlich die glühendste Leidenschaft über Nacht entstanden war. Er hatte den Morgen über im Wald gejagt, lediglich um die Zeit bis zur bestimmten Stunde hinzubringen, aber das Wild war vor seinem Schusse sicher. Seine Gedanken schweiften weit ab und beschäftigten sich ausschließlich mit dem reizenden Bilde Lucy's. Sie war die Beute, die er sich erkoren, und die Schilderungen, welche Billy Green ihm von ihrer Schönheit machte, fachten nur immer mehr und heißer die Flamme der Leidenschaft in seinem Innern an. Es war nicht Liebe, sondern ein wilder Taumel, der sich seiner Sinne bemächtigt hatte, ein berückender Zauber, der plötzlich das ganze Wesen des bisher schuldlosen Jünglings verwandelte.
Seitwärts von der Straße lag der bezeichnete Ort auf einem Hügel, von dem aus man selbst ungesehen und durch dichtes Gebüsch geschützt die Gegend übersehen konnte. Ein grauer, moosbedeckter Stein bezeichnete das Grab eines unbekannten Ritters, der vor mehreren Jahrhunderten hier im Zweikampf, oder durch Mord seinen Tod gefunden hatte. Die Inschrift war längst verwittert, der Name verschollen, aber die Sage hatte sich der blutigen Stätte bemächtigt und ließ den Geist des Erschlagenen selbst im Grabe nicht die Ruhe finden. Vorübergehende wollten öfters einen bleichen Jüngling von seinen Hunden umgeben, auf einem Stein sitzend, gesehen haben. Das abergläubische Landvolk in der Nähe vermied den Weg, der hier vorüberführte. Selten nur wagte es ein Fuß, diesen unheimlichen Ort zu betreten, und selbst die Vögel schienen sich zu fürchten. Rings umher herrschte eine tiefe Stille. Die dunklen Fichten mit ihren schweren Zweigen regten sich nicht und das hohe Riedgras flüsterte kaum vernehmlich. Dies war die Stelle, welche Lucy zur Zusammenkunft bestimmt hatte, sicher von keinem Menschen hier belauscht und gestört zu werden. Sie selbst fürchtete sich nicht, denn der alte Henderson war frei von dem Aberglauben des gewöhnlichen Landvolkes geblieben und hatte auch in diesem Sinne seine Tochter erzogen.
Ein schriller Pfiff, den Billy Green ausstieß, benachrichtigte den ungeduldigen Jüngling von der Ankunft des Mädchens. Bald stand sie ihm gegenüber athemlos und ohne Sprache. Der Landstreicher verschwand auf ein Zeichen im Gebüsch und die Liebenden blieben allein.
– Endlich, endlich! rief Thomas ihr entgegen. Ich fürchtete schon, daß du nicht kommen würdest.
– Mußte ich nicht, da du mich gerufen hast, entgegnete sie hingebend. Ich wäre gekommen und hätte es mein Leben gekostet.
– Lucy! Du liebst mich?
– Frage ob ich je aufgehört habe, dich zu lieben. All meine Gedanken sind bei dir, bei deinen Geschwistern in Ludlow-Castle gewesen. O, wie sehnte ich mich, Einem von Euch zu begegnen und ihm Alles sagen zu dürfen, was mein Herz bedrückt. Da sah ich dich gestern im Haywood-Forst. Meine Seele flog dir entgegen, doch ich durfte keine Sylbe sprechen in dieser verhaßten Gesellschaft. Was habe ich um Deinetwillen dulden müssen, als ich dich in solcher Gefahr erblickte. Gott sei gedankt, du bist gerettet, sie haben dich nicht getödtet.
– Wie du siehst, bin ich noch leidlich davongekommen. Doch wir wollen nicht von mir und am wenigsten von meinem gestrigen Abenteuer sprechen. Ich hoffe noch einmal mich an dem Gesindel zu rächen, sie sollen mir den angethanen Schimpf bezahlen. Erzähle mir lieber von deinen Angelegenheiten, von deinem Leben, wir haben uns so lange nicht gesehen, eine Ewigkeit für mich.
– Wirklich? O, daß ich dir glauben dürfte.
– Hab' ich jemals dich belogen, warst du nicht von Jugend auf meine liebste Freundin? Komm und setze dich, wir wollen mitsammen plaudern wie in alter Zeit.
– Er nahm ihre Hand und zog sie zu sich nieder auf den moosigen Stein. Liebkosend hielt er sie umschlungen und sie wehrte nicht die heißen Küsse ab, die er auf Mund und Wange drückte.
– Wie es mir ergangen? sagte sie seufzend nach einer Pause.
Ach! seit dem Tode meiner guten Mutter habe ich keine frohe Stunde mehr gehabt. Mein Vater wurde immer finsterer und ging mit keinem Menschen um. Wie du weißt, hat er sich den Puritaner angeschlossen und lebt, wie diese, zerfallen mit der ganzen Welt. Den ganzen Tag liest er in der Bibel, die er stets mit sich herumträgt; er hat für nichts auf Erden mehr Sinn. Ich muß seinem Beispiele folgen, obgleich mir dieses Leben so verhaßt ist, daß ich mir täglich den Tod wünschte. Wie eine Gefangene werde ich im Hause gehalten und darf mich weder rühren, noch regen. Was ich auch thun mag, ist eine Sünde in des Vaters Augen und jedes Vergnügen eine Lockung der Hölle. Länger kann ich's nicht ertragen. Wenn ich dich nicht getroffen hätte, so hätte ich gewiß meinen Entschluß ausgeführt.
– Und was wolltest du thun?
– Mich in die Temme stürzen, wo sie am tiefsten fließt.
– Böses Mädchen! das wärst du wirklich im Stande gewesen?
– Wahrhaftig und du weißt, daß ich schon als Kind eines festen Entschlusses fähig war. Jetzt aber, da ich dich wiedergefunden und du mir gesagt hast, daß du mich noch liebst, will ich leben. O! ich liebe ja dieses Leben so sehr, wenn es mich heiter aus deinen Augen anlächelt.
– Ja, wir wollen leben, sagte Thomas, indem er fester seinen Arm um den schlanken Leib des Mädchens legte. Leben und genießen soll unser Wahlspruch sein. Fort mit den mürrischen Lehren der heuchlerischen Puritaner! Was gehen uns ihre traurigen Predigten an? Nicht umsonst hat Gott die schöne Welt geschaffen, nicht umsonst uns die frohe Jugendzeit gegeben. Allen den näselnden, plärrenden Schurken zum Trotz wollen wir uns an der Gegenwart erfreuen. Wozu blüht die Blume, wenn man sie nicht pflücken darf, wozu wächst der Wein, wenn man ihn nicht trinken soll? Unsere Lippen sind noch zu was Anderem geschaffen, als ewig und immer langweilige Psalmen abzuleiern. Küsse mich, mein süßes Lieb, und ich absolvire dich von dieser Sünde mit einem zweiten Kuß.
So scherzte und kos'te der Jüngling die etwa noch aufsteigenden Bedenklichkeiten des Mädchens hinweg. Auch er predigte, aber das Evangelium des Genusses und der Liebe, welches bei ihr nur allzuwillige Ohren fand. Gegen den finsteren Geist des Puritanismus beschwor er die leichten Geister der Lebenslust und des. Vergnügens. Lucy vermochte nicht zu wiederstehen. Sie theilte weder den Fanatismus noch die finsteren Anschauungen ihres Vaters von dem Leben dieser Welt, ihr ganzes Wesen sträubte sich dagegen. Jugend und Liebe empörten sich in ihrem Herzen, gegen eine religiöse Richtung, welche mit den Forderungen ihres heißen Blutes im steten Widerspruche stand. Entsage! rief ihr der ihr aufgedrungene Glaube zu, genieße! flüsterte ihr die Liebe in das Ohr. Sie folgte der süßen Stimme der Verführerin.
Der ewige Streit, der durch das Christenthum in die Welt gekommen, der Kampf zwischen Geist und Materie, zwischen Entsagung und Genuß, wurde in England zu keiner Zeit lebhafter geführt als in jenen Tagen. Auf der einen Seite stand der üppige Hof mit den reichen und übermüthigen Kavalieren. Hier herrschte der größte Glanz und Ueberfluß, der Alles übertraf, was in dieser Beziehung die Gegenwart aufzuweisen hat. Buckingham, der Günstling zweier Könige, darf mit Recht als der Repräsentant und Tonangeber dieser Partei angesehen werden. Seine Verschwendungssucht und Ueppigkeit kannte keine Gränzen mehr. Seine Schlösser und Besitzungen waren der Sammelplatz des Luxus, der Werth seiner Demanten und übrigen Juwelen überstieg die Summe von zweimal hunderttausend Pfund Sterlingen. Er war der erste Engländer, welcher in einer Kutsche mit sechs Pferden bespannt fuhr, so wie er der erste war, der einer Sänfte sich bediente, eine Neuerung, welche dem Volke großes Aergerniß gab und allgemeinen Widerspruch deshalb fand, weil den Menschen dabei die Dienste der Zugthiere zugemuthet wurden. Sein übriger Lebenswandel entsprach dieser Ueppigkeit. Zahllose Liebschaften, unter denen sein Verhältniß zu der regierenden Königin von Frankreich die erste Stelle einnahm, wurden ihm zugeschrieben. Sein Beispiel wurde von den meisten, jüngeren Höflingen nachgeahmt. Galanterien und Ausschweifungen aller Art galten sogar für verdienstvoll und die größte Sittenverderbniß fand nicht nur Nachsicht, sondern öfters selbst noch Lob und Anerkennung. Ein ungebundener, freier Ton herrschte in diesen Kreisen. Liebeshändel aller Art, Zechgelage und hohes Spiel waren an der Tagesordnung. Unter den Augen des Königs und der Königin führten die Höflinge ein derartiges anstößiges Leben. Selbst die aufblühenden Künste und besonders die Poesie wurden in diesen Taumel mit hineingezogen. Die Dichter, wie Waller und Davenant, waren entweder selbst ausschweifende Höflinge, oder standen im Solde der Sittenlosigkeit. Die Muse hatte ihre Keuschheit verloren und war zur Kammerjungfer herabgesunken. – Dieser Ueppigkeit gegenüber eiferten die immer mehr um sich greifenden Puritaner mit rauher Strenge und wildem Fanatismus gegen alle Freuden dieser Welt, in denen sie nur die Verlockungen der Hölle sahen. Sie verdammten von ihrem einseitigen Standpunkte aus, jede Lust, jedes sonst erlaubte Vergnügen. Im blinden Eifer verlangten sie die Verbannung und Abschaffung aller Ergötzlichkeiten. Sie waren die geschwornen Feinde des Luxus, und huldigten der größten Einfachheit in Kleidung und Benehmen. Ihre Lieblingsfarben waren ein dunkeles Braun oder Schwarz und so düster, einförmig, ohne Schmuck und Zier wollten sie das ganze Leben für sich und Andere gestalten. Musik und Tanz waren ihnen verhaßt, die schönen Künste dünkten ihnen nicht nur überflüssig, sondern geradezu verderblich. Aus ihrer Mitte war jener finstere Schwärmer William Prynne hervorgegangen, der in einem dicken Folianten, Histriomastix betitelt, mit einem ungeheuren Aufwande von geschmackloser Gelehrsamkeit die Sündhaftigkeit der theatralischen Belustigungen, Schauspiele, Masken u. s. w. nachwies. Sein Buch fand den größten Beifall bei seinen Gesinnungsgenossen und der vom Hofe deßhalb verfolgte und mit ungerechten, schimpflichen Strafen belegte Verfasser wurde eben darum vom Volke wie ein Märtyrer verehrt.
So standen sich die feindlichen Richtungen entschiedener als je gegenüber, auf der einen Seite die Zügellosigkeit der Kavaliere, auf der andern die finstere Glaubensstrenge der Puritaner. Beide fehlten durch ihre Einseitigkeit und das Uebermaß. Je nachdem im Verlaufe der Zeit die eine oder die andere Partei die Oberhand erhielt, bot England bald das Bild einer wollüstigen Hetäre, bald den Anblick einer strengen, die Welt verachtenden Matrone dar. Diese schreienden Gegensätze haben bis heute daselbst noch nicht ihre volle Erledigung gefunden und wenn auch die Kontraste nicht mehr so grell hervortreten, sondern jetzt friedlich neben einander bestehen, so leidet doch selbst gegenwärtig die ganze Nation an den Folgen dieses Doppelwesens. Mit der Pruderie, die oft ans Lächerlichste gränzt, geht häufig die gröbste Ausschweifung Hand in Hand und die puritanische Sittenstrenge lähmt nur zu oft die Schwingen der freien Forschung und die Entfaltung des Genius. Der größte Dichter der Neuzeit, ein Lord Byron, kränkelte an diesen Gebrechen seines Vaterlandes.
Unbewußt trug damals jeder Einzelne den Stempel der Partei, welcher er angehörte, und nahm an ihren Schwächen und Sünden Theil. So war Thomas vom Scheitel bis zur Zehn ein Kavalier; tapfer und muthig, treu dem Könige und der bischöflichen Kirche, zu der er sich bekannte, aber auch übermüthig, verwegen und ohne sittlichen Halt. Er hatte das Gift seiner Zeit und seines Standes in sich eingesogen, denn wie zur Zeit, wenn die Pest herrscht, jeder Mann mehr oder minder den Ansteckungsstoff in seinem Innern trägt, so waren auch die Besten nicht frei von der allgemeinen Fäulniß ihrer Umgebung. Der Keim lag in dem übermüthigen Jüngling und bedurfte nur der Gelegenheit, um hervorzubrechen. Solchen Händen hatte die unerfahrene Lucy ihr Geschick, ihre Unschuld und Ehre anvertraut. Willenlos überließ sie sich seinen gefährlichen Lieblosungen und hörte auf die schmeichlerischen Worte, die er ihr zuflüsterte. Er war schön, die sorgsam gepflegten, blonden Locken umwehten die stolze, aristokratische Stirne. Den feinen Mund und das wohl geformte Kinn beschattete der weiche Bartflaum. Ein weißer Spitzenkragen legte sich um Brust und Nacken. Seine Kleidung prachtvoll und mit reicher Goldstickerei besetzt, bildete einen gefälligen Gegensatz zu der düstern, einförmigen Tracht der Puritaner, welche sie gewöhnlich zu Gesichte bekam. Wie sein war sein Benehmen, wie süß klangen seine Reden, wenn er mit ihr von seiner Liebe sprach, oder von den Vergnügungen und Festen auf Ludlow-Castle erzählte. Sie wurde nicht müde ihm zuzuhören und bemerkte nicht, wie schnell die Zeit verstrich.
Die untergehende Sonne mahnte sie zum Aufbruch, sie fürchtete zu spät zu kommen und daß ihre lange Abwesenheit von ihrer Verwandten bemerkt und dem Vater hinterbracht werden könnte. Nur mit Widerstreben riß sie sich aus seinen Armen, ihr Herz ließ sie zurück.
– Wann sehe ich dich wieder? flehte er.
– Bald, so bald als möglich und sollte es mich mein Leben kosten. Der Vater ist jetzt häufig verreist. Ich weiß nicht, was er vor hat, aber er geht in letzter Zeit oft Tage lang über Land. So bald er sich wieder entfernt, will ich dir ein Zeichen geben und wir treffen uns an derselben Stelle.
– Bis dahin sterbe ich vor Sehnsucht. Ich werde dir meinen Boten schicken.
– Denselben, der mich hierher gerufen hat?
– Er ist schlau und wie ich glauben darf, auch verschwiegen. Durch ihn kannst du immer mir Nachricht zukommen lassen.
– Jetzt aber muß ich gehen. Es dunkelt bereits, halte mich nicht länger auf, sonst gerathe ich in Ungelegenheiten. Leb wohl!
Ein langer, langer Kuß vereinte die Liebenden, dann entriß sich Lucy den stürmischen Umarmungen des Jünglings und eilte wie das gehegte Reh nach dem Vaterhause zurück. Thomas sah ihr so lange nach, bis ihre schlanke Gestalt unter den Bäumen verschwunden war, dann pfiff er den Hunden und trat seinen Heimweg an.
Auf ferneres Glück! rief ihm Billy Green nach, und wenn ihr wieder einen Treiber braucht, der Euch das Wild stellt, so fragt nur nach mir in der Schenke zu den »Drei Tauben« nach.
Damit bückte er sich, um ein Geldstück aufzuheben, welches ihm Thomas im Fortgehen zugeworfen hatte. Vergnügt beäugelte er den Schatz, den er in seine weite Taschen darauf gleiten ließ.
– Hätte nicht geglaubt, murmelte er lächelnd, daß die fromme Puritanerin so rasch zum Teufel fahren wird. Doch was geht's mich an, ich diene stets dem, der mich am besten bezahlt.