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Alice befand sich jetzt den beiden Freunden allein gegenüber, von denen ihr nur der junge Dichter flüchtig bekannt war. Dieser stellte ihr den ritterlichen Eduard King vor. Bald verlor das scheue Mädchen ihre frühere Befangenheit und erzählte ihren Befreiern im Zusammenhange das eben erlebte Abenteuer.
Und was gedenkt Ihr nun zu thun? fragte Milton voll Theilnahme.
Ich bin wirklich in Verlegenheit, entgegnete Alice.
Befehlt über uns, sagte King mit sichtlichem Eifer. Wir werden Euch nicht früher verlassen, bevor ihr vollkommen in Sicherheit seid.
Gewiß nicht, bekräftigte der Freund. So lange Ihr unserer bedürft, wollen wir Euch mit Euerer Erlaubniß Gesellschaft leisten. Es fragt sich nun, was Ihr beschließt, ob Ihr den geraden Weg nach Ludlow-Castle, einzuschlagen, oder hier zu verweilen gedenkt, bis Eure Brüder zurückgekehrt sind.
Ich finde es jedenfalls gerathener, bemerkte King, den unsichern Wald zu verlassen und die Landstraße zu gewinnen.
Aber meine Brüder, wendete Alice dagegen ein, werden vielleicht mich suchen und wenn sie mich nicht mehr im Walde finden, sich Meinetwegen unnöthige Sorge machen. Auch möchte ich den Herren nicht mehr beschwerlich fallen, als dieß bereits geschehen ist. Ihr Weg führt sie gewiß nach einer ganz entgegengesetzten Richtung, als der meinige.
Für uns, erwiederte King mit Höflichkeit, giebt es keine andere Pflicht, als einer schutzlosen Lady zu dienen. Auch kommt es dabei nicht daran an, ob wir eine Stunde früher oder später nach Hause kommen. Doch Ihr, mein edles Fräulein, dürft Euch nicht länger den Unannehmlichkeiten dieser Wildniß aussetzen. Ohnehin werdet Ihr von dem weiten Wege und dem vielen Herumirren ermüdet und der geistigen wie körperlichen Ruhe bedürftig sein. Außerdem wird Euer Ausbleiben Euren Eltern gewiß die größte Besorgniß verursachen. Was Eure Brüder aber betrifft, so glaube ich, daß wir ihnen auf der Landstraße noch am ehesten begegnen werden. Eine kleine Strafe haben sie jeden Falls verdient, da sie so schlechte Hüter eines solchen Schatzes waren.
Da auch Milton den Worten seines Freundes beipflichtete, so entschloß sich Alice, den wohlgemeinten Vorschlag anzunehmen. Mit King's Hülfe bestieg sie den der Tänzerbande wieder abgenommenen Damenzelter, während der junge Mann das Pferd des Bruders am Zügel leitend aus der einen Seite, Milton auf der andern neben ihr hergingen. Beide waren mit dem Wege genügend vertraut und das milde Licht des Mondes erhellte außerdem hinlänglich den ziemlich geebneten Pfad. Es war eine herrliche, duftige Maiennacht, ein leiser Luftzug flüsterte durch das junge Laub, die blühenden Birken hauchten winzige Wohlgerüche und die schmetternden Nachtigallen sangen in langgezogenen, schmelzenden Tönen der Liebe Lust und Leid. Schweigend überließen sich die jungen Wanderer dem Zauber der Natur; um sie und in ihnen webte die geheimnißvolle Wunderkraft des Lenzes und der Blüthenzeit. Der Frühling, welcher mit seinen Küssen die verschwiegenen Knospen am Wege erschloß, weckte auch in ihren Herzen die sehnsüchtigen Triebe eines unaussprechlichen Glückes, das ganze Heer der seligsten Gefühle. – Unzählige zarte Keime regten sich in stiller Nacht und wuchsen unbemerkt im silbernen Mondenlicht; hier sprang eine Knospe und entfaltete sich zur Blüthe, dort koste der Wind um den halb geöffneten Kelch. Aus dem Gebüsch tönte das Girren der Turteltaube, der lockende Ruf eines unbekannten Vogels. Die zerstreuten Samenkörner sprengten die dunkle Scholle und die dunkle Puppe streifte ihre schwere Hülle ab, um als goldener Schmetterling die Morgensonne zu begrüßen. Frühlingsdüfte, Lenzesahnen, Nachtigallentöne und Mondenlicht webten an dem Zauberband, das zu dieser Stunde sich von Seele zur Seele schlang.
Endlich brach zuerst Alice das gefährlich brütende Schweigen, das ihr fast beängstigend vorkam. Sie wandte sich zunächst an den ihr mehr bekannten Milton. Mit ihm redete sie von dem Hause ihrer Tante und dem letzten Feste, dem sie daselbst beigewohnt halte.
Ich preise meine Tante Derby glücklich, sagte sie im Verlauf des immer lebhafter werdenden Gespräches, weil es ihr vergönnt ist, einen Kreis von Frauen und Männern um sich zu versammeln, wie er sonst wohl nirgends angetroffen wird. Welch herrliche Genüsse weiß sie sich und ihren Gästen zu bereiten, die Tage, welche ich bei ihr verlebt und die mir nur allzu schnell verschwunden sind, werden stets mir unvergeßlich bleiben.
Auch ich, erwiederte Milton beziehungsvoll, gedenke ihrer mit dankbarer Rührung. Ein neues Leben ist mir dort in jenem Hause aufgegangen.
Plötzlich hielt er inne, zum Bedauern Alicens, die so gern von ihm noch mehr gehört hätte, besonders Was und Wen er mit dem »neuen Leben« meinte. Fast fürchtete sie, daß er wieder in sein scheues Wesen zurückfallen würde, das er leichter hier im grünen Walde, als in den stolzen Hallen des Grafenschlosses zu überwinden schien. Zum Glück nahm jetzt der Freund den abgebrochenen Faden der Unterhaltung auf.
Wenn ich nicht irre, bemerkte dieser, so ist auch ein kleines von dir verfaßtes Schäferspiel in dem Hause der edlen Gräfin zur Aufführung gekommen. Wie gewöhnlich hast du mir noch gar nichts von seinem Erfolg erzählt, weshalb ich mich an Euch jetzt, schöne Lady, wende, um darüber Näheres zu hören.
Ihr meint doch die Arkadier? fragte Alice freundlich.
So heißt das Stück, von dem ich bisher nur einzelne Bruchstücke zu hören bekam.
Eine Kleinigkeit, welche kaum der Mühe lohnt, warf der bescheidene Dichter ein.
Ihr thut Euch selbst und Eurem Werke Unrecht, schalt Alice. Da Ihr aber wie ein ungerechter, grausamer Vater Euer eigenes Kind aussetzt und verstoßen habt, so werde ich mich seiner annehmen und es nach Verdienst hegen und pflegen.
Euer Spott ist grausam. Ich bitte Euch, das ungerathene Kind lieber zu vergessen.
Das kann nicht geschehn und zum Beweise, wie tief ich mir seine schönen Züge eingeprägt, will ich sogleich auch einige Verse citiren, die ich um ihrer Trefflichkeit-Willen mir besonders gemerkt habe.
Thut es nicht, murmelte Milton beschämt.
Aber das liebenswürdige Mädchen achtete nicht auf seinen Einspruch und begann folgendermaßen:
Solch süßer Zauber liegt in der Musik,
Daß sie der Parzen rauhe Strenge schmilzt,
Daß die Natur sich ihren Rythmen fügt,
Die Erde maßvoll sich durch sie bewegt
Erfüllt von seel'ger Sphärenharmonie,
Die nie ein sterblich Ohr vernommen hat.
Ist das nicht schön, unterbrach Alice ihren Vortrag, indem sie sich fragend an den lauschenden King wandte. Klingen diese Verse nicht selber wie Musik?
Ich muß Euch Recht geben, nachdem ich sie aus Eurem Munde gehört habe.
Während der ganzen Zeit schwieg Milton, in Entzücken versetzt. Konnte es für den Dichter ein größeres Glück geben, als seine eigenen Worte und Gedanken von dem Munde der Angebeteten zu vernehmen. Es war das erste Mal, daß ihn ein Lob trunken machte. Zwar war er weit entfernt, ihrer Huldigung eine andere Deutung zu geben und das halbe Geständniß daraus zu lesen, welches sie verschloß; aber ihre Rede erfüllte das Herz des Dichters mit einer unaussprechlichen Wonne, welche mehr zu bedeuten hatte, als das bloße Gefühl der befriedigten Eitelkeit. Seine Brust war zu voll, um zu sprechen, selig träumend schritt er neben der schönen Reiterin, verstohlen von Zeit zu Zeit zu ihr emporblickend wie zu der himmlischen Muse selbst, die sie für ihn in dieser Stunde geworden war.
Auch der Freund war nicht minder empfänglich für die Reize der holden Erscheinung. Vermöge seiner Stellung war King weit mehr als der zurückgezogene Milton mit dem Leben und der Frauenwelt bekannt, dennoch mußte er sich eingestehen, weder am Hofe, noch in der Gesellschaft eine ähnliche Vollkommenheit angetroffen zu haben. Alice vereinte mit ihrer jugendlichen Schönheit einen geistigen Liebreiz, den die Natur nur ihren besonderen Lieblingen zu verleihen pflegt. Eine unbeschreibliche Grazie umgab ihr ganzes Wesen und verlieh dem Unbedeutendsten, was sie sprach und that, einen eigenen Zauber. Selbst die gewöhnlichsten Reden klangen aus ihrem Munde bedeutend und immer glaubte der Hörer nie etwas Aehnliches vernommen zu haben. Diese ächt weibliche Anmuth war nur der Abglanz einer reich begabten Natur, welche mit der zartesten Empfindung, die festeste Willenskraft, mit der lebendigsten Phantasie eine große Klarheit des Verstandes verband. Und all diese seltenen Eigenschaften waren noch durch eine sorgfältige Erziehung harmonisch ausgebildet und standen zu einander im vollkommenen Gleichgewicht.
Ihr Begleiter hatte hinlänglich Zeit und Gelegenheit, diese Vorzüge während einer längeren Unterhaltung mit ihr kennen zu lernen. Die seltsame Begegnung im Walde, die herrliche Frühlingsnacht waren wohl geeignet, das Herz und die Phantasie des jungen Mannes außerdem noch anzuregen. Unvergeßlich mußte ihm das feine, edle Gesicht bleiben, welches der Mond mit magischem Silberlicht verklärte. Mit der Nachtigall wetteiferte der seelenvolle Ton. ihrer Stimme und die schlanke Gestalt aus dem weißen Roß mahnte ihn unwillkürlich an die Wunder der Poesie, an die Zauber der Märchenwelt. Wenn sie sich auf den Hals des Zelters niederbeugte und mit weicher Hand das treue Thier streichelte, wünschte sich King an dessen Stelle zu sein, wenn ihr loses Haar dann seine glühende Wange streifte, faßte ein süßer Schauer den jungen Mann. Die ganze Reise dünkte ihm wie ein himmlischer Traum, aus dem er nur allzufrüh geweckt zu werden fürchtete.
Mit argloser Vertraulichkeit, mit der Unschuld eines reinen Herzens wendete sich Alice, nachdem sie die erste Befangenheit überwunden hatte, bald an den einen, bald an den andern Begleiter. Immer offener erschloß sich ihnen diese herrliche Blüthe der Frauenwelt. Das waren Augenblicke, wie sie nimmermehr im Leben wiederkehren, glückliche Momente, die für Jahre lange Leiden zu entschädigen vermögen; denn was giebt es wohl auf Erden Köstlicheres als dieser trauliche Verkehr zwischen edlen Jünglingen und einem reizenden Weib. Noch mischte sich kein anderes Gefühl in ihre Unterhaltung, als das reinste Wohlwollen. Die Neigung, welche in den jugendlichen Herzen unbewußt schlummerte, hatte noch keine bestimmte Gestalt gewonnen und trübte nicht die hingebende Sicherheit.
Am dunklen Horizont zuckte von Zeit zu Zeit ein fernes Wetterleuchten und der leise Donner eines fruchtbaren Frühlingsgewitters mahnte die Wanderer zur Eile. Bald hatten sie die Landstraße glücklich erreicht.
O! jetzt kenne ich schon den Weg, sagte Alice, in einer halben Stunde müssen wir in Ludlow-Castle sein.
Dann kommen wir noch zu rechter Zeit, ehe das Gewitter heraufzieht, entgegnete King.
Wie herrlich sich die Blitze kreuzen. Ich fürchte mich nicht vor dem Gewitter, aber Ihr, meine Herren, könnet unmöglich noch in dieser Nacht heimkehren. Mein Vater wird sich freuen, Euch als seine Gäste zu begrüßen. Meine Retter werden ihm gewiß willkommen sein.
Vergebens wollten die Freunde ihre artige Einladung ablehnen.
Alice bestand darauf und sie mußten ihr das Versprechen geben, wenigstens bis zum Morgen in Ludlow-Castle zu verweilen. Je näher Alice ihrer Heimath kam, desto heiterer und scherzhafter wurde die Wendung, welche sie dem Gespräch zu geben wußte. Mit der Sicherheit, die sie jetzt im vollen Maße empfand, kehrte auch die frische Laune ihr zurück.
– Ich freue mich, sagte sie lächelnd, über mein Abenteuer, das für mich so glücklich geendet hat. Wie ein irrendes Fräulein kehre ich in Begleitung eines männlichen Ritters und eines trefflichen Troubadours zurück. Wie wäre es, Herr Dichter, wenn Ihr unsere Begegnung zum Stoffe eines Heldengedichtes nähmt?
– Ich wette darauf, erwiederte King, daß er es bereits in seinem Kopfe fertig hat. Ich kenne seine Gewohnheit, wenn er nicht redet, dichtet er.
– Allerdings, sagte Milton auf den Scherz eingehend, gleicht die ganze Begebenheit einem vollendeten Gedicht, doch ich traue mir kaum die Kraft zu, den schönen Stoff in würdiger Weise zu behandeln.
– O, versucht es nur, bat das holde Mädchen. Doch dürft Ihr dabei Euch selber nicht vergessen. Wir müssen insgesammt in Eurem Gedichte vorkommen, mein Bruder, meine Befreier und auch Gott Komus, der mich in keine geringe Angst versetzt hat.
Da Milton nicht antwortete, so fügte sie besorgt hinzu:
– Wie, Ihr schweigt? Sollte ich Euch durch meinen kindischen Wunsch erzürnt haben. Freilich, ich kann es mir wohl denken, daß ein Poet, der so schöne lateinische Verse schreibt, wie Ihr, die ich leider nicht verstehe, die man mir aber sehr gerühmt hat, es unter seiner Würde halten muß, im schlichten Englisch ein so unbedeutendes Ereigniß zu besingen.
– Ihr irrt Euch, edle Miß! erwiederte der Dichter im ernsten Tone. Seit ich denken kann, habe ich keinen größeren Wunsch, als eines Tages irgend etwas zu Gottes Ruhm und für die Ehre meines Vaterlandes zu schreiben. Ich möchte ja so gern meinen ganzen Fleiß auf die Verherrlichung der Muttersprache verwenden; nicht daß ich gewillt wäre, mit eitlen Wortklaubereien und ähnlichen pedantischen Arbeiten meine Zeit hinzubringen. Mich beseelt nur der Eifer für diese gesegneten Inseln, welche meine Welt bedeuten, der Dolmetscher der edelsten und größten Gedanken zu werden. Schon von frühester Jugend an glaubte ich und mit mir einige gleichgesinnte Freunde, im Vertrauen auf die heilige Glut, welche sich in meinem Innern entzündete, daß ich meinen Landsleuten einige Seiten hinterlassen würde, die nicht so schnell untergehen können. An Arbeit und unermüdlichem Studium wollte ich es ja so gern nicht fehlen lassen, denn dies ist das Loos, das ich mir gezogen. Aber wie viele Jahre dürften noch vergehn, ehe ich mein Versprechen erfüllen werde. – Die Poesie, welche mir vorschwebt, ist nicht die flüchtige Blüthe jugendlicher Schwärmerei, noch das Erzeugniß eines galanten Höflings oder der Erguß eines hungrigen Parasiten, der für ein Mittagsbrod sich zum Reimen zwingt, nicht einmal jene glänzende Erscheinung unserer Tagesdichter, denen von der Mode kurze Zeit gehuldigt wird. Meine Muse wendet sich in Demuth flehend zu dem ewigen Geist, welcher allein der menschlichen Sprache die Kraft des Ausdrucks und die Tiefe der Wissenschaft verleiht. Erschickt für seine Lieblinge die heiligen Seraphim hernieder, welche die Lippen der Auserwählten mit göttlichen Flammen berühren und reinigen. Jetzt kennt Ihr mein Herz und wißt, wonach ich strebe.
– Und es wird Euch gelingen, sagte Alice ergriffen und fortgerissen von der Begeisterung des Dichters. Ich sehe bereits den Lorbeer, der einst Eure Stirne umschlingen wird. Neben Shakespeare und Spencer wird man den Namen Milton nennen.
– Haltet ein! entgegnete dieser. Noch bin ich nicht würdig, diesen großen Männern die Schuhriemen aufzulösen, am wenigsten Shakespeare, dem unsterblichen Genius Englands. Was habe ich bisher gethan, um nur mein Auge zu ihm empor heben zu dürfen?
– Ihr seid noch jung und erst mit den Jahren reift die Blüthe zur Frucht.
– War Shakespeare älter als ich, da er »Romeo und Julie« schrieb, dies hohe Lied der Liebe?
– Jede Pflanze hat ihre Zeit der Entwickelung und des Gedeihens. Auch die Eure wird noch kommen.
– O, daß Ihr wahr sprächet. Wie gern wollt ich Tag und Nacht dem hohen Ziele weihen. Von Euch, edles Fräulein, und vor meinem Freunde darf ich offen reden, denn ich weiß, daß Ihr mich nicht mißverstehen werdet. Ihr dürft es hören, aber laßt mich mein Geständniß nur leise ins Ohr flüstern, damit ich nicht zu erröthen brauche. Ja, ich sehne mich nach Unsterblichkeit. Ich übe meine Schwinge und denke auf einen kühnen Flug; aber mein Pegasus schwingt sich nur auf schwachen Flügeln noch empor. Darum will ich lieber in Demuth mich bescheiden. –
Dröhnender Hufschlag und der Ruf verschiedener Stimmen unterbrachen den plötzlich beredt gewordenen Dichter in seinen weiteren Herzensergießungen. An der Spitze einer Dienerschaar, welche die besorgten Eltern ausgeschickt, zeigte sich jetzt der junge Lord Brakley, der seine Schwester suchte. Mit einem Freudenruf begrüßte er die Wiedergefundene. Alice stellte die Freunde dem Bruder als ihre Retter vor, der ihnen herzlich dafür dankte und sie ebenfalls einlud, wegen des aufziehenden Gewitters die Nacht in Ludlow-Castle zuzubringen. Nur Thomas fehlte noch, doch waren die Geschwister Seinetwegen nicht allzu besorgt, da der muthige Jüngling öfters von seinen Ausflügen und Jagdparthien spät in der Nacht heimzukehren pflegte. Zur Vorsorge hatte man eine andere Abtheilung von Dienern in den Haywood-Forst geschickt, um ihn aufzusuchen.
Bald befreundete sich der junge Lord mit den Begleitern seiner Schwester, von denen ihm nur King unbekannt war, da er den Dichter bereits in dem Hause seiner Tante gesehen hatte. Auf einen Wink von ihm wurden die Freunde beritten gemacht, die Diener leuchteten mit den mitgebrachten Fakeln voran und so setzte sich der Zug in Bewegung.
In kurzer Zeit erreichten die Reisenden Ludlow-Castle, noch ehe das drohende Gewitter sich entladen hatte. Die Eltern waren noch wach und empfingen ihre Gäste in der Halle des Schlosses mit alt englischer Höflichkeit und Gastfreundschaft. Ein reiches Mahl wurde aufgetragen und Alice, welche zwischen den Freunden saß, mußte ihr Abenteuer von Neuem erzählen. Dies geschah mit möglichster Schonung des abwesenden Bruders, den trotzdem von allen Seiten Tadel traf. Um so größer war das Lob, welches dem ritterlichen Benehmen der Freunde zu Theil wurde. Der edle Wirth des Hauses unterhielt sich mit ihnen auf das freundlichste und dehnte die Einladung seiner Kinder auf mehrere Tage aus, da ihm das bescheidene Benehmen und die klugen Antworten seiner jungen Gäste überaus gefielen. Wie es bei solchen Gelegenheiten zu geschehen pflegt, fanden sich unerwartet bei näherer Berührung eine Menge freundschaftlicher Beziehungen und Annährungspunkte. King's Vater war dem Lord Präsidenten von Wales aus früherer Zeit bekannt. Beide waren am Hofe und in der Londoner Gesellschaft öfters zusammengetroffen und hatten hier und da auch ein freundliches Wort miteinander gewechselt; so daß der Sohn setzt schon um deswillen eine überaus herzliche Aufnahme fand. Auch Milton hatte plötzlich hier an der Tafel des Lords einen alten Bekannten und Universitätsfreund getroffen. Ihm gegenüber saß ein junger Mann, der die Stelle eines Musiklehrers in der Familie des Grafen von Bridgewater bekleidete. Trotz Jahre langer Trennung kamen dem Dichter die Züge seines Nachbars bekannt vor und er nahm daher keinen Anstand ihn als seinen alten Schulfreund Henry Lawes, zu begrüßen. Alice freute sich dieses Zwischenfalles um so mehr, da sie dem bescheidenen und in seinem Fache äußerst tüchtigen Lehrer besonders geneigt war. Die Wiedererkennung gab zu vielen Erinnerungen Veranlassung, aus denen die aufmerksame Zuhörerin manche interessante Begebenheit aus dem Jugendleben des Dichters erfuhr. Lawes spielte besonders auf ein früheres Abenteuer Miltons an, das den bescheidenen Dichter in Verlegenheit zu setzen schien.
– Weißt du auch noch, fragte der Musiker seinen Freund, welchen Beinamen wir dir auf der Schule gegeben haben?
– O! gewiß, entgegnete Milton, indem er erröthete.
– Und wie lautet dieser? fragte Alice neugierig.
– Freund Milton hieß nur »die Dame des Kollegiums« antwortete der heitere Musiker. Diesen Spitznamen hatte er wegen seines zarten, mädchenhasten Aussehens erhalten. In der That glich er auch mit seiner feinen Gestalt, den rosigen Wangen und der Zierlichkeit seines ganzen Wesens weit mehr einem jungen, schüchternen Fräulein, als den wilden, übermüthigen Knaben, welche mit ihm in einer Klasse saßen. Er wurde darum oft von uns geneckt, aber im Grunde des Herzens hatten wir ihn alle lieb, weil er die beste Seele von der Welt war. Auch fehlte es ihm nicht trotz seiner Zartheit an Muth und Kraft. Wenn wir es ihm zu arg machten, wehrte er sich tapfer und was ihm an roher Stärke abging, ersetzte er durch die Uebung und Gewandtheit seiner Glieder. Ich hätte es Keinem gerathen, ihn herauszufordern. Im Ringen, Schlagen und Reiten stand er seinen Mann, aber nichts destoweniger hieß er ein und allemal »die Dame«; es hatte dies freilich auch noch einen anderen Grund.
Vergebens winkte Milton dem durch die Freude des Wiedersehens und einige Becher Weins aufgeregten Schulfreund.
– Ja, winke nur, fuhr der lustige Musiker in seiner scherzhaften Erzählung fort, Miß Alice soll doch die Geschichte erfahren, die dir begegnet ist. Sie klingt zu schön und wunderbar, so daß ich fast glauben möchte, daß du nur geträumt oder eine deiner gewöhnlichen poetischen Visionen gehabt hast.
– Ihr macht mich in der That neugierig, warf Alice dazwischen ein, die sich muthwillig an der Verlegenheit des Dichters zu ergötzen schien.
– Eines Tages, berichtete der schwatzhafte Musiker, lag Freund Milton unter einem Baume im Garten des Collegiums und schlief, da soll eine fremde, italienische Dame, welche in Cambridge zu Besuch war, den schlummernden gesehen und dermaßen von ihm entzückt gewesen sein, daß sie eine blühende Rose aus ihren Händen auf ihn niederfallen ließ. Um den Stengel derselben war ein Papierstreifen gewickelt, welcher einen schönen Vers in italienischer Sprache auf den schlafenden Endymion enthielt.
– Vielleicht erinnert ihr Euch noch des Gedichtes, fragte Alice im neckenden Tone.
– Allerdings. Es lautet, wenn ich mich nicht irre, folgendermaßen:
Ihr schönen Augen, Sterne dieser Erden,
Wenn ihr geschlossen mich schon tief verwundet,
Was soll aus mir, wenn ihr euch öffnet, werden.
– Ich finde die Strophe reizend, bemerkte die Zuhörerin; obgleich sie mir weit eher für eine Frau als für einen Mann zu passen scheint.
– Das meinte auch die ganze Klasse und darum hieß Milton seitdem erst recht »die Dame des Kollegs.«
– Und habt Ihr von der unbekannten Dame nichts mehr vernommen? fragte Alice den verlegenen Dichter.
– Wie sollte ich? entgegnete dieser. Vielleicht war das Ganze nur ein schlechter Schülerscherz. Am liebsten wäre ich geneigt, das seltsame Ereigniß für einen Traum meiner lebhaften Phantasie zu halten, hätte ich nicht bei meinem Erwachen die Rose mit den um den Stiel derselben sorgfältig gewickelten Zeilen vorgefunden. Auch glaubte ich wirklich, als ich die Augen wieder öffnete, eine weibliche Gestalt gesehen zu haben, die sich schnell aus dem Garten entfernte. Ja sogar ihr Name ist mir geblieben, denn deutlich hörte ich sie von einer älteren Begleiterin »Leonora« rufen. Ich gestehe offen, daß mich die seltsame Erscheinung längere Zeit beschäftigt hat.
– Vielleicht begegnet Ihr der Schönen noch einmal im Leben, scherzte Alice. Solltet Ihr nie diesen Wunsch gehegt haben?
– Früher wohl, aber seit langer Zeit ist die ganze Begebenheit aus meinem Gedächtniß geschwunden und erst Lawes hat mich wieder daran erinnert. Jetzt sehe ich in dem Abenteuer nur den übermüthigen Scherz einer Fremden mit einem Knaben und wer weiß, ob ich wünschen soll, noch einmal der Signora zu begegnen. Die Wirklichkeit würde vielleicht mich nur enttäuschen, wie das gewöhnlich zu geschehen pflegt. So lebt sie wenigstens in meiner Phantasie als das Bild der Muse, die ihren Jünger in seinen Träumen besucht hat.
– Und Ihr fürchtet eure Muse alt und häßlich wiederzufinden. Da möchtet Ihr Recht haben, setzte Alice lächelnd hinzu.
Unterdeß unterhielt sich der herablassende Wirth mit dem jungen King und sprach mit ihm von den Angelegenheiten des Königs und den Vorgängen am Hofe Der edle Graf urtheilte über die Verhältnisse mit vieler Mäßigung. Er verhehlte dabei nicht seine Besorgnisse wegen den Streitigkeiten, die zwischen Karl dem Ersten und seinem Parlamente waren. Doch hoffte und wünschte er eine gütliche Beilegung dieser Zwistigkeiten. Am Schlusse seines Gespräches ergriff der würdige Lord-Präsident von Wales den vor ihm stehenden Becher.
– Gebe Gott, rief er laut, dem Vaterlande Ruhe und Frieden. Euch aber, meine lieben Gäste, heiße ich von ganzem Herzen in Ludlow-Castle nochmals willkommen und möget ihr in meinem Hause so lange verweilen, als es Euch bei uns beliebt und gefällt.
Hieraus erhob er sich und gab somit das Zeichen zum Aufbruch. Für die Freunde hatte der Haushofmeister des Grafen in einem Seitenflügel des Schlosses die nöthigen Zimmer in Stand gesetzt. Unter Vortritt eines Bedienten und in Begleitung des gutmüthigen Musikers begaben sich beide zur Ruhe, nachdem sie sich von der Familie des Grafen verabschiedet hatten.