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In diesem Jahre hatte das Gerede, das ja in Heinrichs IV. ganzer Königszeit nicht müßig zu gehen brauchte, Stoff genug. Nicht nur bei Hofe und unter denen aus dem Bürgerstande, nein, auch unter den Ärmeren und Armen, die nie hoffen konnten, von einem Strahle des Königsglanzes getroffen zu werden, ging die Fama entstellten Gesichtes um, und alle horchten gierig, um ihr Teil zu haben an dem, was da oben geschah und was sie bezahlten. Das an sich schon recht mißliebige italienische Gefolge war in aller Munde, aber das gab gerade nur kleine Vorgerichte ab bei dem großen Klatschschmause. In seiner Mitte stand der köstliche Skandal der beiden Schwangerschaften, der Maitresse, die ihren aufgetriebenen Leib nicht etwa vor der Königin verbarg, sondern sich keck vor ihr zeigte, wann immer es anging, die sich ebenso in einer Sänfte tragen ließ wie Marie. Und Heinrich, der wohlgefällig auf die eine wie die andere blickte und kürzlich sogar der Maitresse, wohl um sie für die geringe Freundlichkeit der Königin zu trösten, in Gegenwart aller Welt ein Paar Ohrgehänge zum Geschenk gemacht hatte. Und dann die Geschichte mit dem Hoffräulein, der Bourdaisière, obendrein! Die habe wieder ein gut Stück Geld gekostet, hieß es, und dem Vater habe man auch einen tüchtigen Brocken zuwerfen müssen, damit er das Bellen einstelle. Wie der Großtürke triebe es der König mit seinem weißen Barte, schmunzelten die Männer, aber wenige nahmen ihm das übel. Wer dagegen redete, hatte andere Gründe, die ihm die Entrüstung als nützlich erscheinen ließ. Heinrich fing an, wirklich populär zu werden, ohne sich selber viel darum zu scheren oder daran zu glauben. Noch ein paar Jahre zuvor hatte er, als ihm die Pariser während einer Wagenfahrt recht zujubelten, einem Vertrauten gesagt: So und noch mehr würden die seinem schlimmsten Feinde zujubeln, wenn der an seiner Stelle säße. Seine derben Scherzworte, seine scharfen, treffenden Antworten gingen jetzt schon von Mund zu Mund, seine Lebensgewohnheiten waren von der Art, wie sie in anderen Maßstäben die Männer selber hatten oder gerne gehabt hätten und welche die Frauen nur heuchlerisch mißbilligten. Freilich ging es nur langsam vorwärts mit all dem, was versprochen worden war. Aber daß Frieden im Lande war und die Sachen der Religion nicht jeden Tag neuen Aufruhr und neue Zerstörung des kaum wieder aufgenommenen Wirtschaftens oder Gewerbes bringen konnten, wie die ganzen Jahrzehnte vorher, das mußte man Heinrich schon anrechnen. Sie alle hatten genug Unheil aus den Hetzpredigten in den Kirchen, aus den Reden der Mönche, aber auch der protestantischen Prediger, entstehen sehen, so daß sie das im Jahr zuvor vom König gegebene Gesetz zu würdigen verstanden: daß wer immer Theologie studieren wollte, einen feierlichen Eid ablegen müßte, sich den Gesetzen des Königreiches zu unterwerfen, dem Könige und seinen Beamten zu gehorchen und – das war eine neue Wendung – niemals etwas gegen Frankreich zu unternehmen. Der Bruch dieses Eides sollte nicht nur an dem Schuldigen, sondern an dem Syndikus und dem Dekan seiner Fakultät gerächt werden.
So hatte Heinrich in all dem Gerede eine weit bessere Nachrede, als er sich selber erwartet hätte, und das hatte in einer Zeit, in der die so umwälzende Erfindung der Buchdruckerkunst noch nicht die meinungschaffende Zeitung hervorgebracht hatte, seine Bedeutung. Denn wenngleich es damals schon die fortlaufenden Veröffentlichungen Cayets zur Zeitgeschichte gab, so waren diese, wie die vielen Flugschriften, – die Kommentare und Satiren der Ereignisse, Diskussionen religiöser oder juristischer Probleme oder Trauerreden auf Verstorbene von Ansehen enthielten, – doch im allgemeinen nur von dem gebildeten Kleinadel und Bürgerstande gelesen, und haben allesamt nicht meinungschaffend wirken können, wie etwa jenes satirische Meisterwerk, die »Satire Menippée«, die der Liga den Todesstoß versetzt hatte. Jene ungreifbare »Meinung«, die das gefühlsmäßige Verhalten der Nation zu ihrem Könige enthielt, wuchs vielmehr aus den von Mund zu Mund gehenden Anekdoten und Klatschgeschichten, aus dem Lächeln, das sich zu dem Seufzen über die Lasten gesellte, und endlich aus jenem Irrationalen, aus dem das Königtum entstanden war und das es aus den Mythoszeiten bis in unsere Tage getragen hat.
Es wird des öfteren in diesem Buche der Versuch unternommen werden, aus Tatsachen aller Art und aus menschlichen Verhaltungsweisen die Grundstimmung dieser Epoche ahnen zu lassen, aus der Heinrich erst soweit verständlich werden mag, als das »Verstehen« menschlichen Wesens, das ja nur allzuoft schon am Nächsten versagt, in abgerückten Zeiten überhaupt möglich ist. Um es aber dem Leser mit Theoretisieren, Zitieren und anderem Aufzeigen von Gerinnseln aus dem Strömen der Zeit nicht allzu schwer zu machen, sei ihm die Grundstimmung in Erinnerung gerufen, in die er bei fortlaufendem Lesen der Märchen der Brüder Grimm versetzt wird. Diese Welt aus Bauern, Handwerkern, Bürgern und Edelleuten baut sich in einer gottgefügten Ordnung rund um den König auf; wie groß aber auch die ständische Sonderung sein mag, sie verstehen einander alle in ihren Lebensgewohnheiten aufs Prächtigste, der Hohe und der Niedrige, der Gute und der Schlechte; sie sind alle mit ihren edlen und üblen Taten in einer großen gemeinsamen Lebens Vernunft, aber die Ränder dieser vernünftigen Ordnung sind unscharf, verschwimmend, und in diese Welt (in der Pantagruel ist und der Ulenspiegel) kommt so selbstverständlich, wie daß der König zugleich ein Mensch und von Gottes Gnaden ist, so natürlich, wie die Wunder Christi und der Heiligen, etwas aus anderem Reiche hinein. Teufel und Dämonen fahren in die Leiber, und der von ihnen Besessenen sind viele, und manche behalten ihren Teufel, den kräftigsten Austreibungen zum Trotz. Oder des Schenkwirts Frau geht in die Kammer, um einen Schinken anzuschneiden, dann wird sie mit dem Messer in der Brust gefunden, aber es ist nicht mehr sie selber, denn etliche Nachbarn haben sie splitternackt aus dem Schornstein fahren gesehen. Und der ein wenig verwachsene Parlamentsrat, der sich keinen Diener hält, damit seine Geheimnisse nicht ruchbar werden, und den sie eines Tages mit gebrochenem Genick in seiner Kammer finden, wird ebenso ein Zauberer gewesen sein, wie der Mesner, der die Hostie stiehlt, oder der Alte, der die Gehenkten kauft, aber für Geräderte nichts zahlen will. Daß es das alles gibt, daß es da ist ringsum, das wissen sie alle im Blute, auch wenn sie es zu vergessen suchen, das ist mit in ihrem Lebensgefühl, in ihrer Lust und ihrer Vernünftigkeit. Nur hat der eine, der ungeschäftiger lebt, schärfere Sinne dafür als der vielleicht Gelehrtere oder Tätigere in den Städten; aber es ist da, auch in Heinrich ebenso, dem Wegbereiter eines neuen Zeitalters, wie in den Dumpfen, für die noch nicht die Erde sich dreht und der Mensch noch der Mittelpunkt des Weltgeschehens ist.
In diesem Sommer des Jahres 1601 mengten sich mit einem Male in das viele lüsterne und gutmütig-lästerliche Gerede um Heinrich Stimmen, aus denen altvertrautes neues Unheil sich anzukündigen drohte. Die Spanier belagerten Ostende, und wenn der Wind vom Meere kam, waren ihre Kanonen bis in die Pikardie hinein zu hören. Da kürzlich erst der Savoyer erwiesen hatte, wie man es mit einem Friedensvertrage halten konnte, wenn man Lust darauf hatte, wie sollte man den Spaniern trauen, mit denen man seine Erfahrungen bis nach Paris hinein gemacht hatte? Zwar war der alte Philipp tot, aber der Kampf um die Niederlande ging weiter, und was man auch über den jungen Philipp hören mochte und über den Zustand seiner Kassen, die Spanier waren noch immer mächtig genug. Wohl hatte Philipp II. noch in seinem Todesjahre selber sein Reich verstümmelt, indem er die Freigrafschaft Burgund, die Niederlande und Luxemburg der Tochter in die Ehe mit dem Erzherzog Albrecht mitgegeben hatte. Aber habsburgisch blieben diese Grenzländer Frankreichs damit doch, das hieß für die Franzosen spanisch, und der neue Herr Albrecht sollte nach Heinrichs eigenem Ausspruch in der Tat ein guter Feldherr sein; der König hatte das als so sicher behauptet, wie daß die Königin Elisabeth von England eine Jungfrau und er selber ein guter Katholik war (welch letztere Bürgschaft freilich manche die Köpfe schütteln ließ). Die Spanier hatten außer ihrer Halbinsel mit dem gestohlenen Stück Navarra noch immer halb Italien in Besitz, Sizilien und Sardinien, ein gut Teil Nordafrika und Westafrika und fast die ganze ostafrikanische Küste, dazu Ceylon, große Landstriche in Indochina und die Inseln des Indischen Archipels. Und zu alledem die unermeßlichen neuen Länder mit ihren Goldschätzen, das südliche Nordamerika und fast ganz Südamerika! Mochte es auch, wie es hieß, wahr sein, daß es mit der Führerschaft Spaniens in Europa zu Ende sei und Frankreich nun an seine Stelle rücke: wer über so viel Länder gebot, war noch immer ein furchtbarer Gegner für Frankreich, das nur sich selber hatte. Man mußte die Spanier vielleicht nicht mehr wirklich fürchten, seitdem die kleinen Niederlanden ihnen hatten standhalten können, die Regimenter ihrer Infanterie, die nicht ihresgleichen gehabt hatte, sich dort verblutet hatten, und der Nachwuchs, bei dem selten gezahlten Sold und dem Leben von Plünderung, nicht mehr die alte Manneszucht hatte. Aber man mußte verdammt auf der Hut sein.
Der Meinung war auch Heinrich, der, seit er denken konnte, die Spanier als die Feinde kannte und haßte, wie man nur einen Nachbarn hassen kann, dessen Teufeleien man im eigenen Hause erlebt hatte. Heinrich war fast noch ein Kind gewesen, als er erfahren hatte, daß Philipp II. einen Preis auf die Gefangennahme der Königin von Navarra, seiner Mutter, ausgesetzt hatte, um sie als Ketzerin verbrennen zu lassen. Und wie waren sie dann all die Jahre hinter ihm her gewesen, mit Armeen, gedungenen Mördern, mit ihren Kardinälen in Rom und den Jesuiten in Frankreich! Wie viele Schlachten hatte er gegen sie geschlagen und gegen ihre Verbündeten der Liga. Wieviel französisches Land hatte er verheert gesehen, wieviel Städte und Dörfer brennend und wieviel Freunde erschlagen! Die Bartholomäusnacht wäre ein kindisches Stümperstück gewesen gegen das, was die aus Frankreich gemacht hätten, wäre erst das Land völlig in ihrer Gewalt gewesen. Heinrich wußte, welche Befehle damals auf ihrer Großen Armada gefunden worden waren: daß sämtliche Bewohner Englands, die über sieben Jahre alt wären, auszurotten und die Kinder, mit bleibendem Zeichen gemerkt, als Sklaven wegzuführen wären. Freilich hatten die Franzosen diesen Gegner auch nicht eben mit Milde bekämpft; in fast jedem Bericht über die Einnahme von spanischen Plätzen oder die Gefangennahme spanischer Abteilungen steht zu lesen, daß die Gefangenen in Stücke gehauen worden sind. Nun war zwar Frieden, im rechten Augenblicke geschlossen, ehe Frankreich vollends am Ende seiner Kräfte gewesen wäre, aber Liebe und Vertrauen hatte der Pakt von Vervins weder den einen noch den anderen gebracht. Wenn Heinrich jetzt auch nicht mehr den Kampf der Niederländer um ihre Freiheit offen unterstützen konnte, wie er es so lange getan hatte, blieb seine Sympathie doch weiter mit den tapferen protestantischen Scharen, welche die größte Kriegsmacht des Jahrhunderts allmählich zermürbt hatten. Noch im Jahre vorher hatte der spanische Botschafter in Paris Klage geführt, daß trotz des Friedenszustandes noch immer so viele französische Edelleute auf Seiten der Niederländer kämpften. Heinrich hatte darauf nicht umhin gekonnt, allen Franzosen die Teilnahme an dem Kriege bei strengen Strafen zu verbieten. Heimlich aber hatte er weiter jeden gelobt und ermutigt, der sich auf den Weg nach den Niederlanden machte oder gar Soldaten mit sich dahin führte. Denn das bedeutete für ihn, zu der Genugtuung, ein spanienfeindliches Heer wachsen zu sehen, auch noch eine andere: Frankreich ein wenig von den Männern zu säubern, die im Frieden nicht zu brauchen waren.
Dieser noch so junge Frieden mit Spanien hatte im übrigen schon einen recht empfindlichen Stoß erhalten, so daß der Kanonendonner vor Ostende noch größere Wachsamkeit gebot. Am 12. Juli hatte der französische Botschafter in Madrid, Graf de la Rochepot, an Heinrich ein Schreiben gerichtet, das über einen höchst bedenklichen Zwischenfall Bericht erstattete. Ein Stück dieses langen Schreibens sei hier wiedergegeben, weil es den Vorfall anschaulich genug darstellt: »... Mittwoch, den achtzehnten laufenden Monats, fand ich um drei Uhr morgens mein Haus von mehr als vierhundert Spaniern erbrochen, die zumeist mit Rundschilden und Kettenpanzern, Hellebarden und Degen bewehrt waren; die einen drangen durch das Haupttor ein, das sie eindrückten, ehe ich Zeit hatte, meine Leute wecken zu lassen, die anderen über die Mauern hinter meinem Wohnsitz und wieder andere durch die Tür der Stallungen, wo sie allsogleich meinen Kutscher schlugen, der ihnen als erster entgegenkam, und ihm Schimpf antaten. Nachdem sie sich auf solche Art des Hauses bemächtigt hatten, begannen sie durch alle Zimmer einzudringen, erbrachen die Türen derer, in denen niemand war, um ihnen zu öffnen, und stahlen, was sie fanden, als ob offen Raub und Plünderung gewesen wäre. Nach diesem ersten Ansturme, und bevor ich noch Zeit gehabt hätte, mich anzukleiden, stiegen drei Hof-Alkalden zu meinem Zimmer herauf, mit ihren Hakenstäben in der Hand, welches ihre Gerichtsabzeichen sind, und ihnen folgten mehr als zweihundert bewaffnete Männer; die genannten Alkalden sagten mir, daß sie auf diese Art über Befehl des Königs von Spanien gekommen wären, um etliche meiner Leute als Gefangene hinwegzuführen, die sich, wie sie sagten, bei einem Morde befunden hätten, der die Nacht zuvor begangen worden sei. So wenig ich mir aber ihr Kommen erwartet hatte, so sehr kann ich Eure Majestät in aller Wahrheit versichern, daß ich gar nichts von dem Streite und dem Morde gehört hatte, wovon sie mir sprachen; so antwortete ich ihnen, daß ich nicht wisse, was es damit sei, daß ich aber nicht gewohnt sei, die Befehle des besagten Königs von Spanien weder in solcher Form noch durch solche Boten zu empfangen, und auch nicht glaube, daß genannte Majestät ihnen befohlen habe, mit Gewalt die Vorrechte zu verletzen, welche den Gesandten und der Würde Eurer Majestät zukommen ... Sie sandten einen der Ihren an Seine Majestät und den königlichen Rat, um zu erfahren, was sie zu tun hätten. Und ich sandte gleichfalls zu gleicher Zeit den Herrn Châstellain an den Herzog von Lerma und den Marquis von Vellada, um sie anzuflehen, Seiner Majestät von diesem ordnungswidrigen Tun zu berichten und ihm ein Ende zu machen. Der besagte Herr Châstellain blieb mehr als fünf Stunden dort, ohne sich zu Gehör bringen zu können, obgleich in seiner Gegenwart der genannte Alkalde zu dem Herzog von Lerma eintrat und über den gleichen Gegenstand Audienz hatte, während welcher Zeit ... mein Haus voll von Leuten blieb, deren Zahl augenblickweise anwuchs. Das Tor war stets von achtzehn oder zwanzig Alguasils bewacht, die niemand von den Meinigen hinausließen. Ich fuhr fort, mich bei den beiden Alkalden über die gewalttätige Art ihres Vorgehens zu beklagen, worauf einer so keck und unverschämt war, mir auf eine Art voll Anmaßung zu sagen, ich brauche mich gar nicht zu wundern, wenn sie meine Leute als Gefangene wegführten und, sofern sie von Seiner Majestät den allergeringsten Befehl erhielten, mich selber auch wegführen würden ...« Dann zählt Rochepots Bericht noch andere kränkende Maßnahmen auf, wie die weggebrachten französischen Edelleute halbbekleidet unter unausgesetzten Mißhandlungen durch die Stadt geführt wurden und dergleichen, und wie auf alle seine Proteste und Vorstellungen beim Könige Philipp III. und dessen allmächtigen Günstling Lerma ihm immer wieder volle Genugtuung zugesichert worden sei, ohne daß daraufhin auch nur der kleinste Schritt dazu erfolgt sei.
Auf diesen Zwischenfall hin, der zugleich die Stimmung Spaniens verriet und den kastilischen Hochmut strotzend wie in Karls V. besten Tagen zeigte, bewies Heinrich eine Mäßigung, die angesichts der Größe der Beleidigung und bei seinen privaten Gefühlen gegen die Spanier doppelt bemerkenswert ist. Er ließ es zu einem wirklichen Abbruch der Beziehungen nicht kommen, sondern fand den Mittelweg, daß er zwar des Botschafters Rochepot Abreise zustimmte, die Geschäfte der Botschaft in Madrid jedoch von einem Sekretär für lange interimistisch weiterführen ließ.
Der Gleichgewichtszweck, der nach dem Worte Hegels an die Stelle des früheren allgemeinen Zweckes einer Christenheit, deren Mittelpunkt der Papst wäre, getreten war, schien in den Kriegen, die den größten Teil des eben abgelaufenen Jahrhunderts erfüllt hatten, mehr als erreicht zu sein. Worum es für Frankreich nur noch gehen konnte, war Vorherrschaft, Führung, Übernahme der Sendung, die das ermattende Haus Habsburg im Heiligen Römischen Reich und in Spanien nicht mehr erfüllen zu können schien. Der entscheidende Krieg stand wohl noch aus, und Heinrich schien es gewiß, daß er ihn noch würde führen müssen. Wenngleich der berühmte »Große Plan« in Sullys Hirn gereift und dann in den Altersjahren dem hingegangenen Herrn zugeschrieben worden war, gab es doch kleinere Pläne genug in Heinrich, die alle mit diesem Entscheidungskriege rechneten. Nur sollte der hinausgeschoben werden, solange es irgend ging, bis Frankreich gesundet, reich und vollgerüstet und durch zuverlässige Bündnisse allseits gestützt wäre. Ein Krieg mit Spanien um diese Stunde wäre am Ende wohl zu gewinnen gewesen, aber in welcher Zeit und mit welchen Opfern! Was für Frankreich zu tun war, hatte kaum begonnen. So war Heinrich entschlossen, diesen Krieg jetzt zu vermeiden, soweit er es vermochte. Nur überraschen wollte er sich von ihm nicht lassen. Und er sah nach dem Rechten. Er wollte sich mit eigenen Augen vom Verteidigungszustand von Calais und Boulogne überzeugen. Aber jetzt kam ihm die sonst so erwünschte Schwangerschaft Maries in die Quere. Vorwürfe und Klagen erwarteten ihn, wenn er der Königin sagte, daß er fort müsse. So ließ er lieber es ihr sagen. Und Sully, der den Kopf voll genug hatte von seinen Geldsorgen und seinen Geschützen, erhielt den Auftrag, Marie über diese Abreise zu beschwichtigen. Mit der Vollführung dieses Befehls übernahm Sully ein neues Amt, das oft schwieriger wurde als all sein anderes Tun zusammen und ihm bis zu Heinrichs Lebensende blieb: das des Vermittlers der königlichen Ehe, die nun immer öfter des Mittlers bedurfte. Daß er dann nur zu oft Maries Briefe an Heinrich verfassen und diese hernach mit dem Könige durchsprechen mußte, war noch die gelindeste Seite dieses vielseitigen Geschäftes.
Indessen begann sich das Kriegsgewölk wieder zu lichten und mehr und mehr zu verziehen. Heinrich schrieb fast täglich an Marie, immer heiterer und voll immer erhellterer Herzlichkeit. Aus dieser Zeit stammt ein in Frankreich wohlbekannter Brief, die Antwort auf Maries Mitteilung, daß sie sich jetzt mit Lesen beschäftige. Der Brief lautet: »Meine Freundin, ich erwartete von Stunde zu Stunde Ihren Brief, und ich habe ihn beim Lesen geküßt. Ich antworte Ihnen auf der See, von einer Ausfahrt, die ich bei diesem stillen Wetter machen wollte. Es lebe der Herrgott! Sie hätten mir gar keine angenehmere Nachricht schicken können, als die, daß Sie die Lust am Lesen gepackt hat. Plutarch lächelt mir immer in neuer Frische; ihn lieben, heißt mich lieben, denn er ist der Lehrer meines Kindesalters gewesen. Meine gute Mutter, der ich alles danke und die eine so große Neigung hatte, über mein gutes Gehaben zu wachen und, so sagte sie, nicht einen berühmten Nichtswisser in ihrem Sohne sehen wollte, hat mir dieses Buch in die Hände gelegt, als ich noch nicht viel mehr als ein Kind an der Mutterbrust war. Es ist für mich wie mein Gewissen gewesen und hat mir viel Gutes und Ehrenwertes und vortreffliche Sätze für meine Führung und die Leitung der Staatsgeschäfte ins Ohr gesagt. Leben Sie wohl, mein Herz, ich küsse Sie hunderttausendmal. Am dritten September in Calais.«
Hier kommt den Erzähler das Bedauern an, dieser heraufgerufenen Jugenderinnerung Heinrichs nicht nach Pau zurückfolgen zu können, nicht die edle und tapfere Muttergestalt der Johanna d'Albret nachzeichnen, noch von diesen Kindheitstagen Heinrichs sagen zu dürfen, in denen der recht unfürstlich gehaltene kleine Junge sein Latein wie eine lebendige Sprache lediglich im Sprechen und Hören erlernt und die Bekanntschaft mit dem Plutarch gemacht hatte, der in der Tat das einzige und eigentliche Buch seines Lebens geblieben ist. Daraus hatte er dieses Grundgefühl geschöpft, in dem er sich in eine große heroische Ordnung der Welt eingereiht wußte. Was hernach noch dazu kam – und auch das kam von der Mutter –, war das Bibellesen der Kalvinistenzeit und daraus vor allem das Alte Testament. In diesen zwei Büchern mochte er eine Ahnenvorwelt empfunden haben, und sie sind mit ihren Beispielen die einzige Dichtung geblieben, die er brauchen konnte, eine solche nämlich, die sich lebensmäßig brauchen läßt. Aber wir haben von Heinrich, dem Manne am Ende des fünften Lebensjahrzehnts, zu erzählen unternommen. Da Rückschau und Einkehr in die Vergangenheit ein seltenes Ding für ihn waren, wollen wir es mit seiner Vergangenheit halten wie er selber und uns wieder dem der Kriegssorgen ledigen Könige zuwenden, dem nun in zwei Mutterleibern Früchte seines Samens dem Licht entgegenreiften.