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V. Das schizophrene Weltgefühl und unsere Zeit.

Wiederholt fand sich ein Anlaß, die aktuelle Bedeutung der schizophrenen Bildnerei für unsere Zeit hervorzuheben. Sie liegt in mehreren Richtungen. Einmal ist die besonders enge Beziehung eines großen Teils dieser Bildwerke zu der Zeitkunst offensichtlich. Dann aber zeigte die Erfahrung, daß Menschen ganz verschiedener Prägung, verschiedenen Alters und verschiedener Berufe ungewöhnlich stark und dauernd von diesen Bildwerken gepackt und nicht selten zu grundsätzlichen kulturellen und weltanschaulichen Fragestellungen gezwungen werden. Was die Beziehungen zur Zeitkunst anlangt, so konnten wir eine Reihe von Reaktionen beobachten, die ein grelles Schlaglicht auf den Einfluß affektiver Komponenten oder persönlicher Interessen in jedem Urteil warfen. Während nämlich kulturell konservative und historisch orientierte Personen entweder gar nicht auf die Eigenart der Bildwerke eingingen oder einen flüchtigen Eindruck alsbald zu kulturpolitischen Tendenzen zu verwerten suchten, gingen sämtliche Betrachter, die in den Problemen bildnerischer Gestaltung oder auch nur in der Psychologie des Abnormen intensiv leben, mit ungewöhnlichem Eifer gerade auf die fremdartigsten Werke ein. Unter den Künstlern gaben sich die einen (darunter sehr Gemäßigte und andererseits extreme Expressionisten) einem ruhigen Studium der Besonderheiten hin, bewunderten zahlreiche Stücke rückhaltslos und verwarfen andere, ohne an eine Scheidung von gesund und krank im mindesten zu denken. Andere aber, wiederum ganz verschiedenen Richtungen angehörig, verwarfen das ganze Material als Nichtkunst, widmeten sich jedoch trotzdem allen Nuancen mit großer Lebhaftigkeit. Und eine dritte Gruppe schließlich war bis zur Haltlosigkeit erschüttert, glaubte in dieser Schaffensweise den Urvorgang aller Gestaltung zu erkennen, die reine Inspiration, nach der man letzten Endes einzig trachte, und geriet zum Teil in ernsthafte Entwicklungskrisen, aus denen sie sich zu klareren Meinungen über sich selbst und ihre Produktion hinausfand.

Wie wir es ablehnen mußten, das Wesen schizophrener Gestaltung an äußeren Merkmalen darzulegen, so lehnen wir es nicht minder ab, durch Vergleich äußerer Merkmale Parallelen zwischen der Zeitkunst und unseren Bildern zu ziehen, wie das nicht nur von Laien, sondern sogar von namhaften Psychiatern in platter und sensationeller Weise in der Tagespresse geschieht. Abgesehen davon, daß damit, selbst wenn die mitgeteilten Parallelen stichhaltig wären, nur der Banause mit neuen Schlagworten unterstützt würde, hegt diesem Verfahren ein grober psychologischer und logischer Irrtum zugrunde. Es ist nämlich oberflächlich und falsch, aus Ähnlichkeit der äußeren Erscheinung Gleichheit der dahinterliegenden seelischen Zustände zu konstruieren. Der Schluß: dieser Maler malt wie jener Geisteskranke, also ist er geisteskrank, ist keineswegs beweisender und geistvoller als der andere: Pechstein, Heckel u. a. machen Holzfiguren wie Kamerunneger, also sind sie Kamerunneger. Wer zu so einfältigen Schlüssen neigt, hat keinen Anspruch, ernst genommen zu werden. Wir haben an einigen Beispielen gezeigt, wie die Bildwerke unserer Schizophrenen nicht nur an primitive Kunst, sondern auch an Werke aus großen Kulturzeiten anklingen. Und einige Werke ragten so tief hinein in die Sphäre unbestrittener Kunst, daß manche »gesunde« Durchschnittsleistung weit dahinter zurückbleiben muß. Von der Seite der äußeren Merkmale werden wir also den unzweifelhaften tiefen Beziehungen nicht beikommen können. Weit ergiebiger scheint es, den verwandten Zügen in der allgemeinen Gefühlshaltung der letzten Kunst die Aufmerksamkeit zuzuwenden. Und da finden wir in der Tat als einen Grundzug die Abkehr von der schlicht erfaßten Umwelt, ferner eine konsequente Entwertung des äußeren Scheins, an dem die gesamte abendländische Kunst bislang gehangen hatte, und schließlich eine entschiedene Hinwendung auf das eigene Ich. Diese Formeln aber sind uns bei unseren Bemühungen, das Weltgefühl des Schizophrenen zu umschreiben, ganz geläufig geworden.

Damit stehen wir vor der überraschenden Tatsache, daß die Verwandtschaft zwischen dem schizophrenen Weltgefühl und dem in der letzten Kunst sich offenbarenden nur in den gleichen Worten zu schildern ist, woraus uns sogleich die Verpflichtung erwächst, nunmehr auch die Unterschiede zu formulieren. Und das ist nicht schwer. Dort beim Schizophrenen ein schicksalsmäßiges Erleben. Ihm legt sich die »Entfremdung der Wahrnehmungswelt« als ein grauenhaftes, unentrinnbares Los auf, gegen das er oft lange kämpft, bis er sich fügt und langsam in seiner wahnhaft bereicherten autistischen Welt heimisch wird. Hier beim Künstler unserer Tage geschah die Abwendung von der einst vertrauten und umworbenen Wirklichkeit zwar im besten Falle auch unter einem Erlebniszwang, aber immerhin mehr oder weniger als ein Akt, der auf Erkenntnis und Entschluß beruhte. Sie geschah infolge quälender Selbstbesinnung, weil das überkommene Verhältnis zur Umwelt zum Ekel wurde, und sie ist daher oft getragen von Zweifeln, bösem Gewissen und Ressentiment. Andererseits hatte sie wenigstens theoretisch klare Ziele. Der Tendenz nach sollte die Loslösung vom Zwange der äußeren Erscheinung so vollkommen sein, daß alle Gestaltung nur noch mit unverfälschtem seelischen Besitz zu tun hätte und aus völlig autonomer Persönlichkeit quölle, die in einer unio mystica mit der ganzen Welt zu stehen sich anmaßte.

Der Zerfall des traditionellen Weltgefühls, aus dem diese verstiegene Haltung oft in großartiger, öfter in krampfhaft verzerrter Weise hervorwuchs, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Jedenfalls ist es keine Angelegenheit des Expressionismus, wie Kurzsichtige anscheinend heute noch hoffen, sondern dieser ist umgekehrt der Ausdruck dieses Zerfalls und ein Versuch, das Beste daraus zu machen. Sieht man von dem Wust der Programme ab und versucht die treibende Idee zu erfassen, die immer wieder zu neuen Exaltationen treibt, so finden wir die Sehnsucht nach inspiriertem Schaffen, wie es von den Primitiven berichtet wird und aus großen Kulturzeiten bekannt ist. Damit stoßen wir auf die schwache Stelle unserer Zeit – ihre Tragik und ihre Grimasse. Eben jenes primäre Erleben, das vor allem Wissen steht und allein inspirierte Gestaltungen zeugt, das scheint uns versagt zu sein. Und nach allem verstiegenen Wollen, nach allem entschlossenen Überwinden alter Irrtümer scheint es, daß wir schließlich fast nur intellektuelle Ersatzkonstruktionen in Händen halten.

Treffen diese Andeutungen das Richtige, so ist besonders die leidenschaftliche Erschütterung weicher Künstlernaturen vor unseren Bildwerken unschwer verständlich. Diese Werke sind tatsächlich aus autonomen Persönlichkeiten hervorgebrochen, die ganz unabhängig von der Wirklichkeit draußen sich selbst genug, niemandem verpflichtet, das verrichteten, wozu eine anonyme Macht sie trieb. Hier ist fern von der Außenwelt, planlos aber zwangsläufig wie alles Naturgeschehen, die Urform eines Gestaltungsprozesses abgelaufen. An solchen Eigenschaften einer Urgestaltung berauschen sich leicht Menschen, die gerade durch ihre mystischen Neigungen zu anarchischer Auffassung alles Kunstschaffens getrieben werden, wie der ehrwürdigste der an unserer Zivilisation Verzweifelnden, Tolstoj. Wir dürfen uns den Nachweis ersparen, daß die letzten Strömungen in der Kunst nicht als Privatunternehmen einiger Sensationslüsterner gelten können, welche harmlose und bequeme Meinung offenbar immer noch beliebt ist. Kulturelle Werte und Entwicklungen kann man niemandem zeigen, der sie nicht erlebnismäßig kennt. Und bei dem rasenden Tempo, in dem heute die Historisierung von Kulturmächten eintritt, lernt der Beschränkte schon nach wenigen Jahren als historische Tatsache kennen, was er eben noch als Phantasmagorie einzelner Schwärmer ignorieren zu können glaubte. Betrachtet man die Äußerungsformen unserer Zeit aufmerksam, so findet man überall, in der bildenden Kunst wie in allen Zweigen der Literatur eine Reihe von Tendenzen, die nur bei einem echten Schizophrenen ihr Genüge finden würden. Man beachte wohl, wir sind weit davon entfernt, in diesen Äußerungsformen Zeichen von Geisteskrankheit aufweisen zu wollen. Sondern wir fühlen überall eine triebhafte Neigung zu Nuancen, die uns bei Schizophrenen geläufig sind. Daraus erklärt sich die Verwandtschaft der Produktion, daraus die Anziehungskraft unserer Bildwerke. Was wir von dem Zerfall des traditionellen Weltgefühls bei den bildenden Künstlern sagten, gilt von der ganzen Zeitwelle durch alle Berufe. Und nicht minder allgemein verbreitet ist die Sucht nach unmittelbarem intuitiven Erleben mit mystischer Selbstvergottung, der metaphysische Drang, von dem echten philosophischen bis zum sektiererischen und theosophischen, in dem magische Mächte wieder eine Rolle spielen. Ja, wir sind versucht, unsere Formulierung für die Gesamthaltung der schizophrenen Gestaltung hier heranzuziehen und in der ganzen Zeit etwas von dem ambivalenten Verweilen auf dem Spannungszustand vor Entscheidungen zu finden. Die Tendenzen aber, die sich in dieser Hinneigung zu »schizophrenem« Weltgefühl zeigen, sind in der Hauptsache die gleichen, die vor zwei Dezennien in den Ausdrucksformen und dem Weltgefühl des Kindes und des Primitiven Erlösung zu suchen begannen von dem wuchernden Rationalismus der letzten Generationen, in dem nicht die Schlechtesten zu ersticken meinen.


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