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Daß die Abbildetendenz erst an dieser Stelle aufgeführt wird, geschieht nicht ohne Grund. Die ganze Gruppierung der Wurzeln des Gestaltungstriebes verfolgt unter anderem die Absicht, zu zeigen, wie viele wesentlichen Seiten des Gestaltungsvorganges herausgehoben werden können, ohne daß von dieser einen die Rede ist, die lange Zeit ungebührlich im Mittelpunkt des Interesses gestanden hat und noch immer am populärsten ist.
Ohne auf die biologischen Grundlagen des Nachahmungstriebes einzugehen, die uns zu weit von dem Thema entfernen würden, seien nur einige Tatsachen vorausgestellt, um bei der psychologischen Erwägung als Folie zu dienen. Es kann natürlich keinem Zweifel unterliegen, daß die Freude an der gelungenen Nachahmung für ganze Zeitläufte und ganze Völker wichtiger war, als etwa das Bedürfnis, Symbole anschaulich zu verkörpern. Man führt in diesem Zusammenhange gewöhnlich die niederländische Malerei an, die in Landschaft und Genrebild sich sozusagen hemmungslos, geleitet nur von der Tradition ihrer Kunstschulen, der Freude an der körperlichen Umwelt widmete, und nicht müde wurde, diese Umwelt immer wieder möglichst naturgetreu auf der Bildfläche erscheinen zu lassen. Auch im Naturalismus des 19. Jahrhunderts drängt sich dieser unbefangene Nachahmungstrieb in der bildenden Kunst in den Vordergrund, der seelischen Haltung dieser Zeit entsprechend, die sich immer mehr einem materialistischen »Wirklichkeits«kultus verschrieb. Sehr zum Schaden der künstlerischen Kultur, die nun seit einigen Jahrzehnten auf dem Umweg über die Bildnerei aller Zeiten und Länder – unter großem Aufwand an blindem Eifer – zurückgewonnen werden soll.
Die Abbildlehre in der Ästhetik ist eines der wunderlichsten Beispiele für die Zähigkeit, mit der dogmatisch gestützte Gedanken trotz ihrer offensichtlichen Schiefheit Jahrhunderte hindurch die Menschheit faszinieren. Schon Sokrates definiert die Malerei als Abbildung des Sichtbaren und Platon scheidet sie als nachahmende Kunst von den technischen Künsten. Dennoch eifert Platon im »Staat« z. B. gegen die Anwendung perspektivischer Mittel, die zu illusionistischer Täuschung führen, und gibt damit zu erkennen, daß er formale Gesetze über die Nachahmung stellt. Die unglückselige Nachahmungslehre des Aristoteles aber, die alle Künste auf dieses eine, äußerlichste Merkmal festlegt, herrschte bis auf Kant und wirkt populär noch heute, wie alle Lehren, die auf so einfachen Tatsachen fußen, daß jedermann sie versteht und zur Not selbst finden könnte. Nachgeahmt wird nach Aristoteles in der Malerei die Wirklichkeit, im Drama Handlungen, in der Musik Gemütsstimmungen, im Tanz Seelenbewegungen. Daß mit diesen Definitionen nur ein leerer Schematismus gegeben ist, zu dem Aristoteles selbst eine Fülle von wertvollen Gedanken beibringt; geriet natürlich leicht in Vergessenheit und es blieb der ominöse Satz: wie schon Aristoteles sagt, besteht die Malerei in Nachahmung der Wirklichkeit – worauf denn der jeweilige Autor sich, mit dieser Denkfessel gebunden, um die Mannigfaltigkeit bildnerischer Gestaltung mehr oder weniger fruchtlos zu mühen begann. Und noch aussichtsloser wurde die Zwangslage der ästhetischen Grundprobleme durch den Begriff des Schönen in Natur und Kunst. So blieb die idealistische Kunstlehre ein dialektisches Ringen um Begriffe, die allzu dürr und fremd über der Lebensfülle wirklicher Gestaltung schweben. Und bis heute muß jede theoretische Überlegung, der die Abbildetendenz nichts weiter ist, als eine, nämlich die stofflich gerichtete Komponente der Gestaltung, sich gegen das tief eingewurzelte Nachahmungsdogma eigens wehren.
Uns liegt hier vorwiegend an zwei Tatsachen. Einmal besagt Abbildetendenz im geringsten nichts über Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der dargestellten »Gegenstände«. Denn diese sind als Anschauungsbilder gegeben. Und für ein Anschauungsbild, das zur äußeren Gestaltung drängt, ist es unwesentlich, ob ihm etwas real Existentes, Sichtbares zugrunde liegt, oder ob sein Gegenstand nur vorgestellt werden kann. In diesem Sinne wird etwa die bürgerliche Vorstellung des lieben Gottes als eines alten Mannes mit großem Bart und behaglich-familiären Zutaten als Anschauungsbild gestaltet – er wird abgebildet. Die Abbildetendenz geht nur darauf, daß ein Anschauungsbild aus der Darstellung von dem Beschauer möglichst genau so aufgefaßt werden kann, wie es dem Bildner vorschwebte. Die andere, grundwichtige Tatsache bezieht sich auf die Art der Darstellung, den Stil. Ob ein Gegenstand realistisch oder abstrakt dargestellt wird, das ist vom Standpunkt der Abbildetendenz völlig sekundär. Diese ist ein rein psychologischer Begriff. Und der primäre psychologische Tatbestand heißt jedesmal: Gerichtetsein auf ein Anschauungsbild.
Wir durchmustern nun die bereits untersuchten Wurzeln des Gestaltungstriebes daraufhin, wie weit sie vom Nachahmungstrieb unabhängig oder mit ihm mehr oder weniger zwangsläufig verbunden sind. Den spielerischen Betätigungsdrang fanden wir seinem Wesen nach unabhängig von Darstellungstendenzen, obwohl er sich ihrer leicht bemächtigt. Dabei ist wohl in jedem Falle charakteristisch, daß eine solche Abbildetendenz nicht auf ein reales gegenwärtiges Objekt gerichtet ist, sondern mit dem Vorstellungsschatze frei schaltet. In demselben Grade, wie die Abbildetendenz zunimmt, nimmt der spielerische Charakter der Betätigung ab. Dagegen ist die Nachahmung fremder Bewegungen beim Spiel des Kindes stets beteiligt und daher auch beim Kinderzeichnen.
Fast noch geringer ist die Bedeutung des Nachahmungstriebes im Bereiche des Schmuckbedürfnisses. Wir sahen, wie dort das geschmückte Objekt als Ziel des Schmückens alle Formbemühung sich unterordnet. So erklärten wir uns die ganz überwiegende Geltung der formalen Grundprinzipien, die sich in Ornamentik und Dekoration verkörpern. Es ist bekannt, daß es ganze Ornamentstile ohne eigentliche Abbilder gibt: die geometrischen Stile, die von jeher als die reinsten Ornamentstile gegolten haben. Typisch für die in der Ornamentik verwendeten Abbilder ist es überall, daß sie nicht wirklichkeitsnah (naturalistisch) gestaltet werden, sondern wirklichkeitsfern (abstrakt), typisiert, stilisiert. Darin liegt unausgesprochen, aber doch völlig evident, die Tendenz, solche gegenständlichen Formteile nicht als Abbilder zu betonen, sondern sie als Elemente unter das Gesetz des Ornamentes einzureihen, genau so, wie ein Quadrat, einen Kreis und ein Dreieck. Die alte Streitfrage, ob abstrakte Ornamente aus Abbildern hervorgegangen seien, oder ob man in abstrakte Ornamente reale Objekte hineingedeutet habe, erscheint müßig, solange sie in der Form eines theoretischen Entweder-Oder geführt wird. Es wird wohl kaum gelingen, eine Stufe menschlicher Entwicklung aufzuzeigen, auf der infolge Fehlens jeder abstrakt ornamentalen Tendenz nur realistische Auszierung entstanden wäre, oder andererseits eine solche, auf der nur abstrakte Ornamentik ohne jegliches Abbild sich fände Das Problem: wie verhält sich bei Primitiven das Ornament zum Naturvorbild? ist gewiß eines der spannendsten, die im Gebiete der Kunsttheorie überhaupt vorhanden sind. Was die Ethnologen bislang dazu beigebracht haben, ist durchweg unergiebig, weil die psychologischen Voraussetzungen fehlen. Nichts kann das herrschende Dilemma eindrucksvoller vor Augen führen, als eine genaue Prüfung des Buches von Stephan: »Südseekunst«, Berlin 1907. Dieser früh gestorbene Arzt und Forscher war gerade in der Kunsttheorie nicht ungebildet und versuchte sich mit zähem Eifer an einem Nachweise der Ornamententstehung. Wenn er aber die übereinstimmende Ornamenterklärung zahlreicher Eingeborener als Beweis annahm, so erlag er aus Mangel an bildnerischer und psychologischer Erfahrung schweren Fehlschlüssen, zumal in der richtigen Einschätzung dekorativer Komponenten. Die Leute bezeichnen etwa den schmalen Zwischenraum zwischen zwei Dreiecken (= Vogelflügel) als Schlange – unmöglich kann doch daraus hervorgehen, daß sie in diesem Streifen eine Schlange dargestellt haben. Es ist ebenso wahrscheinlich, daß sie für solchen »Streifen« kein Wort besitzen und die lange dünne Form ein für allemal Schlange nennen. Jedenfalls muß viel entschiedener der Grundunterschied festgehalten werden, der zwischen der Entstehung (dem psychomotorischen Vorgang) und der späteren Wahrnehmung und Beschreibung besteht. Dem Primitiven bleiben einfache Formelemente Repräsentanten realer Objekte, weil er sie nicht anders benennen kann. Wie sich diese Tatsache mit den mehr spielerischen und dekorativen Tendenzen verquickt und von magischen Absichten wiederum überlagert wird, das kann nur an großem Material und an Hand zahlreicher guter Einzeluntersuchungen verfolgt werden. Niemals wird man sagen können, ein Ornament sei rein abbildend oder rein abstrakt entstanden, sondern man wird in jedem Falle die beteiligten Gestaltungskomponenten kritisch abwägen müssen.. Die paläolithische Periode kommt zwar dem ersten Typus nahe und die neolithische dem zweiten, aber keineswegs verkörpert sie ihn rein. Man wird sich also wohl darein finden müssen, beide Tendenzen als ursprünglich triebhaft gegeben gelten zu lassen und jedesmal das Mischungsverhältnis beider zu prüfen. Wir halten fest, daß auch diese beiden Tendenzen in einem Wechselverhältnis stehen, so daß im allgemeinen die eine an Gewicht verliert, wenn die andere zunimmt.
In dienender Stellung erscheint die Abbildetendenz auch, wenn wir Bildwerke von der Seite des Ausdrucksbedürfnisses betrachten. Wir weisen an anderer Stelle darauf hin, daß man etwa dynamische Werte ohne realistische Abbildung eindrucksvoller zu gestalten vermöge, als bei Wiedergabe der vollen Körperlichkeit. An Gebrauchsgegenständen und tektonischen Formen erscheint die Ausdrucksgestaltung ebensowohl mit wie ohne Abbildetendenz. Gewiß soll die Schwellung der Säule nicht darstellen, wie eine Säule aus weichem Material an dieser Stelle auseinanderquölle, und doch überträgt sich der Ausdruckswert dieser Schwellung in dem Sinne, als ob die Säule an dieser Stelle am stärksten in Anspruch genommen wäre und daher verstärkt werden müßte. Die Blumen und Blätter am Kapital hingegen sind mehr oder weniger getreue Abbilder, leiten in ornamental geordneten Kurven zum Gebälk über und symbolisieren zugleich die Funktion des Tragens.
Von jener anderen Seite des Ausdrucksbedürfnisses aus – der anschaulichen Gestaltung von Gefühlen – ist Abbildung realer Gegenstände sicher nicht erforderlich. So gewiß jedes Gefühlserlebnis sich an Abbilder von Personen und Objekten heften und in dieser Verbindung gestaltet werden kann, so gewiß haben Linie und Farbe, etwas weniger vielleicht die räumliche Form, Ausdruckspotenzen im Sinne der Musik. Wir führen an anderer Stelle aus, wie die bildende Kunst mitten innen zwischen den zwei Polen der künstlerischen Gestaltung steht: dem nachbildenden, auf Naturnähe gerichteten, und dem formalen, auf Abstraktion, Gesetz, Gestalt gerichteten. Dem ersteren Pol zunächst finden wir etwa Plastik und epische Dichtung, an dem letzteren steht vor allem die Musik. Dieser ist es ja eigentümlich, daß sie nichts Naturgegebenes nachbildet, sondern rein durch melodische Linie, Klangfarbe und rhythmischen Ablauf, also durchweg unter dem einzigen Gesetze der Zahl, Gefühlsabläufe zu verkörpern und im Hörer anzuregen vermag. Sind auch solche seelischen Vorgänge nicht so eindeutig beschreibbar wie Abbilder, so sind sie doch dafür nach allgemeiner Ansicht unmittelbarster Ausdruck der Gefühlssphäre. Auf solche Erwägungen stützen sich alle jene Versuche, mit reinen Farbenakkorden, mit reinen (d. h. nicht abbildenden) Linien und mit abstrakten Raumformen ein Bildwerk aufzubauen. Sicher spielen dabei theoretische Betrachtungen häufig eine große Rolle, aber man kann solchen Bemühungen keineswegs die innere Berechtigung absprechen. Und wenn ernsthafte Bildner mit diesen Neigungen auf völliges Unverständnis stoßen, so können sie sich mit Recht darauf berufen, daß wir meistens nur so rohe Empfangsorgane für ihre subtilen Werke haben, wie der Unmusikalische für reine Musik – ihm geht ja oft genug Programm-Musik, Oper und Lied, bei denen er sich etwas denken kann, allein ein.