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Zu allen Zeiten und bei allen Völkern sind einige wenige Prinzipien formaler Ordnung immer wieder aufgetreten. Und ebenso allgemein haben sich diese Prinzipien im Bereich des Schmückens beherrschend zur Geltung gebracht, während sie auf den übrigen Gebieten der bildnerischen Gestaltung mit anderen Tendenzen um die Vorherrschaft kämpften. Es sind die Prinzipien der Reihung, des regelmäßigen Wechsels, der Symmetrie, der Proportionalität – zurückführbar, wenn man will, auf Zahlen, auf Quantitäten und deren mathematische Beziehungen, und doch in solchem Einklang mit der Struktur des menschlichen Körpers, daß jener stolze Satz sich auch im Hinblick auf die bildnerische Gestaltung immer wieder aufgedrängt hat: der Mensch das Maß aller Dinge Vgl. die konsequente und wegen ihrer streng-begrifflichen Geschlossenheit so viel verkannte Lehre Schmarsows. Hier ergäbe sich eine Gelegenheit, auf die kunsttheoretischen Arbeiten der letzten beiden Generationen einzugehen und das, was wir hier skizzieren, auf bestimmte Ahnen zurückzuführen. Nur der Fachmann weiß, wie schwierig das in Kürze wäre, da dieses Gebiet mit Mißverständnissen und allseitigem Ressentiment wohl mehr als irgendein anderes geladen ist. Es genüge daher die Bemerkung, daß wir diese Skizze keineswegs ad hoc auf Grund einer schnellen Orientierung entwerfen, sondern auf Grund eines mehr als 15jährigen Vertrautseins mit den kunsttheoretischen Forschungen, das sich auch unter dem Einfluß von Schmarsow und Lipps 1908 zu einer Dissertation und einigen Aufsätzen verdichtete. Wie weit auch der hier gegebene Entwurf der psychologischen Wurzeln der Gestaltung sich von den strengen und oft begrifflich-dogmatischen Systemen eines Semper, Riegl, Wickhoff, Schmarsow entfernt, so mag der Kenner doch leicht die Fäden bemerken, die zu ihnen laufen, obgleich wir mit völlig anderer Einstellung an die Gestaltungsprobleme herantreten. Und gerade deshalb, weil wir uns von wertenden Gesichtspunkten relativ frei gemacht zu haben glauben (wozu es wohl unerläßlich ist, daß man der Bindung des Spezialfaches ledig ward), wagten wir den rein psychologisch gemeinten Versuch. Will man ihn also außerhalb des Zusammenhanges prüfen, in dem er hier erscheint, so ist zu berücksichtigen, daß er jenseits aller traditionellen Wertung steht und daher schwer erreichbar ist für Einwände, die nicht psychologisch fundiert sind, sondern in den Postulaten einer Kunstlehre. Soviel wir sehen, vertragen sich diese psychologischen Wurzeln sehr wohl mit solchen Prinzipien, die aus unmittelbarem Kontakt mit den Werken geschöpft sind und sich darin ständig erneuern, wie bei Fiedler, Wölfflin, Worringer, um nur wenige zu nennen. Auf eine Auseinandersetzung mit der sehr regen jüngeren Psychologie der Kunst muß hier, wo es sich noch vorwiegend um die Mitteilung des neuen Materials handelt, verzichtet werden. Bei der erklärten Bereitschaft, psychopathologische Grenzgebiete zu berücksichtigen, wie sie Utitz, Müller-Freienfels u. a. haben, wird in der späteren Diskussion dazu Gelegenheit genug sein.. Ob wir diese Formprinzipien im Bau und in der Bewegung des Menschen begründen wollen – im Rhythmus des Pulses, der Atmung und des Schreitens, den wir metaphorisch in der räumlichen Reihung wiederfinden mögen, in der symmetrischen Anlage des Körpers, in der proportionalen Gliederung seines Aufbaues – oder ob wir kosmische Gesetze dafür aufrufen wollen, das ist eine weltanschauliche Frage. Vergegenwärtigen wir uns den symmetrischen Aufbau von Kristallen und Pflanzen, den Wechsel von Tag und Nacht, Ebbe und Flut, Sommer und Winter, so werden wir wohl eher geneigt sein, jenen anthropozentrischen Maßstab fallen zu lassen und lieb er in dem rhythmischen Ablauf aller Lebensvorgänge Maß und Vorbild der Gestaltungsprinzipien anerkennen. Für uns ist die Feststellung wichtiger, daß solche Ordnungstendenzen sich zwangsläufig einstellen, und zwar um so sicherer, je weniger Abbildetendenz im Spiel ist. Darin liegt eben der Sinn des Ornaments – um dieses handelt es sich vorwiegend – daß es erstens schmückt und zweitens ein Eigengesetz in sich trägt, eine Ordnung, die nicht von einem Darstellungsstoff, sondern von abstrakten formalen Prinzipien diktiert ist. Die Entstehung der einfachsten Ornamentformen, sei es an den frühesten Tongefäßen, lange vor Erfindung der Drehscheibe, sei es bei der Bemalung des Körpers, vielleicht in Verbindung mit aufgereihtem Muschelschmuck, oder sei es am Flechtwerk, hat für uns wenig Bedeutung. Wir nennen Ornament eine von Ordnungsgesetzen beherrschte Schmuckform, ohne Rücksicht auf ihre Verwendung an einem bestimmten Ort. Ornamental heißt uns dementsprechend eine Form, die ihr Gesetz nicht aus dem realen Zusammenhang eines Vorbildes zieht, sondern aus abstrakter Ordnung.
Im Ornament werden Formelemente hauptsächlich in einliniger Ordnung aufgereiht. Anders, wenn eine gegebene Grundform durch Formelemente aufgeteilt werden soll. Bei einer solchen Aufteilung etwa einer regelmäßig begrenzten Fläche (um diese handelt es sich weitaus in der Mehrzahl der Fälle, nämlich um die Bildfläche, das Blatt Papier) wird nun ganz überwiegend die Mitte hervorgehoben, indem die Elemente zentral angeordnet werden, oder es wird durch die Mitte eine symmetrische Achse gelegt. Und ferner wird der Rand betont, der ja als Grenze der kontinuierlichen Fläche schon auf dem ungeschmückten Blatte eine Sonderstellung einnimmt. Dazu dient entweder die rahmenartige Hervorhebung der Randzone oder gesetzmäßige Beziehung (Abstand) von Formelementen auf den Rand. Das sind die allgemeinsten Grundformen der Flächenteilung. Ihr Wert beruht offenbar darin, daß sie in einer Vielheit von schmückenden Einzelformen die Einheit der Gesamtform aufrecht erhalten. Die große Zahl anderer Möglichkeiten läßt sich von diesen überall wiederkehrenden Grundgesetzen aus leicht entwickeln. Nur für die hiermit flüchtig angedeutete Aufteilung der Fläche nach irgendwelchen Ordnungsregeln wird der Ausdruck Dekoration und dekorativ gebraucht. Außer der erwähnten strengen Flächenteilung, die mit Rahmen und Zentrum rechnet, ist das fortlaufende Muster zu nennen, das sich sozusagen nur als Ausschnitt aus einer unendlich großen Fläche gibt, wie etwa auf einer Tapete. Ferner muß außer jener strengen, durch Maße kontrollierbaren Ordnung, wie sie auf der weitaus größten Zahl unserer Gebrauchsgegenstände und zumal in allen klassischen Flächendekorationen verkörpert ist, eine freie selbstherrliche Ordnung unterschieden werden. Diese findet sich nur ganz allgemein mit dem Gesetz des Randes ab und breitet sich auf der Fläche wohl in gebundenen, aber durchaus nicht nachrechenbaren Verhältnissen aus.
Es hat sich eingebürgert, nicht nur wie in der Musik den Wechsel ähnlicher Elemente als Rhythmus zu bezeichnen, sondern unter Berufung auf die ursprüngliche Wortbedeutung »fließen« ganz allgemein den geformten Ablauf einer Ausdrucksbewegung als rhythmisch anzusprechen. Damit werden eben alle geformten Bewegungen und deren Niederschläge als Träger von Lebensvorgängen auszeichnend hervorgehoben vor jenen anderen Erscheinungen, die nachmeßbar geregelt sind, sei es durch geometrische Regelmäßigkeit, sei es durch genau gleiche Abfolge von Formelementen oder Kurven usw. Der »Rhythmus« einer Zeichnung besteht also in dem irgendwie gleichmäßigen Bewegungsablauf ihrer Linien, so daß diese sich einem bestimmten Typus mehr oder weniger nähern. Ganz gleichgültig, was die Linien bedeuten, oder ob sie überhaupt sinnvoll sind, solcher einheitliche rhythmische Fluß kann ihrem Gefüge eine Gewalt verleihen, die stärker als alle anderen Gestaltungskomponenten wirkt – nach unserer Meinung eben deshalb, weil hier Ausdrucksbewegungen ganz rein sprechen, ohne daß irgendeine zweckhafte Beziehung möglich wäre. Reine Melodik in der Musik, wie in Solo-Sonaten für Violine oder Cello von Bach, wäre das einzige Vergleichsstück. In jeder Gestaltung aber gehört dieser rhythmische Fluß der Elemente zu den wesentlichen Imponderabilien, wenn auch nur der Kenner sich dessen bewußt werden mag.
Man könnte Bedenken hegen, daß durch so freie Fassung des Begriffs »Rhythmus« einer phrasenhaften Verwendung Vorschub geleistet würde. Doch scheint uns die Unterscheidung von Rhythmus gleich Abfolge ähnlicher Werte in ähnlichen Zeit- oder Raumteilen und dagegen Regel (Takt, Gesetz) gleich exakte, nachmeßbare Abfolge von gleichen Werten in gleichen Zeit- oder Raumteilen (Klages) von so grundlegender Wichtigkeit zu sein, daß wir nicht glauben darauf verzichten zu können. Zumal die Gewöhnung an maschinelle Gleichförmigkeit hat es verschuldet, daß heute die Ansprechbarkeit durch lebendige rhythmische Werte außerordentlich gering ist. Da nun aber eben hierin die Fähigkeit, Gestaltetes zu erfassen und zu werten, vorwiegend beruht, so werden wir an dem Wortgebrauch festhalten, Rhythmus als lebendig gleichförmige Bewegtheit, Regel oder Gesetz als mechanische Gleichförmigkeit zu bestimmen. Beides liegt auf dem Wege der Ordnungstendenz. Was verwirklicht wird im Gestalteten, hängt von anderen Instanzen ab.