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Haben wir bisher von Kunst so gut wie gar nicht geredet, so können wir uns doch jetzt der Frage nicht entziehen: was hat das alles mit ernster Kunst zu tun? Für eine gründliche Untersuchung dieser Frage ist freilich hier noch nicht der Ort, denn dazu fehlen einige unerläßliche Vorarbeiten, die wir in der äußerlich reichhaltigen Literatur zu diesem Problemkreis noch nicht geleistet finden Da an dieser Stelle noch keine grundsätzlichen Untersuchungen dieser Frage angestellt werden sollen, so erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit der vorhandenen Literatur. Schriften wie Stadelmann: »Psychopathologie und Kunst« München 1908, können nur ganz flüchtig über einiges Material orientieren. Hellpach: »Das Pathologische in der modernen Kunst« Heidelberg 1911, gibt Gesichtspunkte vorwiegend für die Dichtkunst. Von Aufsätzen aus Zeitschriften ist der beste, weil er Wesentliches in aller Kürze erfaßt, Jolowicz: »Expressionismus und Psychiatrie«. Das Kunstblatt 1920. Vgl. außerdem Pfister, Anm. 41 und 42.. Ehe wir nicht einige Klarheit darüber besitzen, wie sich geistige Störungen in den Werken unbestrittener Künstler äußern, dürfen wir keine solchen Prinzipienfragen aufrollen. Es genügt durchaus nicht, das Leben solcher Künstler pathographisch zu beleuchten und dann ohne weiteres eine »Erklärung« für ihr Schaffen zu sehen. Sondern darauf kommt es an, ob in ihren Werken aus der Zeit der Krankheit eine neue produktive oder lähmende Komponente aufzuzeigen ist, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf die seelischen Veränderungen aus jener Krankheit zurückführen lassen. Nur um das Lebensschicksal des Privatmannes handle es sich, pflegt man beruhigend zu versichern, wenn man einen Schaffenden psychopathologisch auseinandernimmt, über das Werk sei damit nichts gesagt. Das ist wohlgemeint, aber die Wirkung ist stets eine andere. Wer sich nicht gegen das ganze Verfahren wehrt und in bester Absicht die vorgeschlagene Trennung zu vollziehen strebt, findet sich unversehens an die interessante Privatperson des Schaffenden gekettet und von seinem Werk abgelöst. Demgegenüber glauben wir der Geltung solcher Werke weniger Abbruch zu tun, wenn wir sie offen auf den Gestaltungsvorgang hin untersuchen und von der Persönlichkeit des Künstlers nur das Nötigste heranziehen. Vor allem suchen wir nach den produktiven Kräften, die etwa aus der Krankheit erwuchsen. Dabei wird grundsätzlich zu scheiden sein zwischen solchen Künstlern, die als konstitutionelle Psychopathen zu Ausnahmeerlebnissen neigten, anderen, die einer vorübergehenden Geistesstörung verfielen oder durch Rauschgifte ähnliche Zustände herbeizuführen suchten, und schließlieh den wenigen, die durch eine Prozeßpsychose (Paralyse und Schizophrenie) als Persönlichkeit sich veränderten. Der Kreis der Künstler, aus deren Werken wir unter diesen Gesichtspunkten wertvolle Erkenntnisse werden schöpfen können, ist nicht groß, denn wir müssen uns auf diejenigen beschränken, deren Biographie genügend bekannt ist, um uns die psychopathologischen Daten zu liefern. Aber erst wenn wir dann noch die Darstellung von Irrealem, Phantastischem, Visionärem in der ganzen Geschichte der bildenden Kunst heranziehen, werden wir eine Basis gelegt haben, die breit genug ist zu den grundsätzlichen Erörterungen über die Beziehungen zwischen den beiden Seelenzuständen des Schaffenden (Inspiration und Gestaltung) und des Geisteskranken, besonders des Schizophrenen (Weltgefühl und Gestaltung) – welches Problem wir eingangs als Richtpunkt unserer Untersuchung aufstellten.
Hier müssen wir uns begnügen, in wenigen Andeutungen die Hauptfragen zu skizzieren. Bei aller berufsmäßigen bildnerischen Gestaltung haben Tradition und Schulung weitaus den Hauptanteil an dem entstehenden Werk. Das geht am klarsten daraus hervor, daß schon aus geringer Zeitdistanz die Kunst vieler Individuen durchaus als Gesamtkunst einer Generation erscheint, die noch durch Rassen und Länder in Gruppen geteilt werden mag. Die Kunstgeschichte spricht daher von Schulen, von Zeitstilen u. dgl. und läßt nur einzelne Persönlichkeiten aus der Menge der Schaffenden heraustreten, die durch die überragende Eigenart eines persönlichen Stils nun ihrerseits wieder schulbildend wirken. Es ist aber in der Geschichte der Kunst kaum ein Fall bekannt, daß ein Ungeübter, abgetrennt von der Welt, ganz auf sich gestellt, eines Tages den Stift ergriffen hätte, um von nun an Bildwerke hervorzubringen. Der Zollbeamte Rousseau steht mit seiner Entwicklung fast einzig da.
Alle Fragen nach dem Ursprung der bildnerischen Gestaltung gingen früher von einem theoretisch konstruierten Anfänger aus, der naturgemäß als Primitiver gedacht wurde. Und von diesem theoretischen Individuum aus suchte man sich an Hand der frühesten Gestaltungsdenkmäler den Ursprung der Kunst klarzumachen. Wir wiesen bereits auf die Unlösbarkeit dieses Problems hin, sofern es zeitlich gefaßt wird. Seit man nun an unseren Kindern das erste Auftreten und die früheste Entwicklung der bildnerischen Gestaltung zu beobachten gewohnt ist, auch zahlreiche Primitive beim Zeichnen zu sehen Gelegenheit hatte, sind zwar einseitige dogmatische Meinungen gefallen, die den ganzen, höchst vielfältig verwickelten Vorgang aus einem oder wenigen Erklärungsprinzipien herleiten wollten. Aber keineswegs ist der Gestaltungsvorgang ohne jede Wertung rein psychologisch ausreichend untersucht und geklärt worden. Die Personen, die unser Material produziert haben, zeichnen sich nun überwiegend dadurch aus, daß sie mehr oder weniger autonom arbeiten, ohne aus jenen Kraftquellen der Tradition und Schulung gespeist zu werden, denen wir den Hauptanteil an den üblichen Durchschnittsbildnereien zuschrieben. Gewiß sind sie nicht unabhängig von jeglicher traditionellen Bildvorstellung. Aber in einem Grade, den man unter keinen anderen Umständen mehr wird erreichen können (außer in anderen Erdteilen), stehen sie allem Erlernbaren der Gestaltung, allem Wissen und Können fern, wenn sie anfangen, spontan zu schaffen. Aus diesen Menschen bricht ohne nachweisbare äußere Anregung und ohne Führung der Gestaltungsvorgang zutage, triebhaft, zweckfrei – sie wissen nicht, was sie tun. Was man immer Einschränkendes über den Wert dieser Erkenntnisquelle sagen möge, gewiß ist, daß wir nirgends wie hier jene Komponenten des Gestaltungsvorganges, die unbewußt in jedem Menschen vorgebildet liegen, sozusagen in Reinkultur vor uns haben.
Konnten wir an unserem Material zeigen, daß aus diesen vorwiegend unbewußten Komponenten Bildwerke hervorwuchsen, die in mannigfach wechselnder Weise sich berufsmäßig entstandenen Kunstwerken aller Art annäherten, so folgt daraus: Tradition und Schulung vermögen den Gestaltungsvorgang nur an seiner Peripherie zu beeinflussen, indem sie durch Lob und Tadel Regeln und Schematismen fördern. Es gibt aber sozusagen einen Kernvorgang, zu dessen Ablauf in jedem Menschen die Fähigkeiten vorgebildet sind. Dieser Satz wird durch zahlreiche Erfahrungen gestützt. Wir wissen heute, daß die meisten Kinder einen originalen Gestaltungsdrang besitzen, der sich in geeigneter Umgebung frei entwickelt, aber schnell schwindet, wenn erst der rationale Überbau des Schulunterrichts aus dem triebhaft spielenden Geschöpf ein wissendes und zweckhaft wollendes macht. Dem entsprechen die Erfahrungen mit Primitiven und andererseits manche Traumerfahrungen. So gewiß nämlich Gestaltung eine Tätigkeit ist, und an sich mit Visionen und ähnlichem nicht viel zu tun hat, so gewiß weist die Fähigkeit, anschauliche Bilder in Träumen und hypnagogischen Halluzinationen zu erleben, auf eine ursprüngliche Gestaltungskraft hin. Wenn man daher, zumal in der Psychotherapie, immer wieder die Erfahrung macht, daß fast jeder Mensch unter geeigneten Umständen seine Konflikte in äußerst prägnanter symbolischer Einkleidung zu erleben vermag, so ist diese Tatsache ebenfalls in derselben Richtung verwertbar wie unsere Überlegungen. Wir würden also zu der Annahme gezwungen, daß ein originaler Gestaltungsdrang, der allen Menschen wesenhaft eigen ist, durch die zivilisatorische Entwicklung verschüttet worden ist.
Wenn nun bei Geisteskranken oft nach jahrelangem Anstaltsaufenthalt dieser Gestaltungsdrang sich spontan Bahn bricht, so läßt sich dieser Vorgang einmal auf Grund der soeben angestellten Überlegungen so erklären: eine Fähigkeit, die jedem Menschen zukommt, aber gewöhnlich latent bleibt oder verkümmert, ist hier plötzlich aktiviert worden. Als Ursache dafür käme in Betracht die innere Entwicklung oder Wandlung des Kranken, seine Abkehr von der Umwelt, seine autistische Konzentration auf die eigene Person und andererseits die Veränderung seines äußeren Lebens, des Milieus, zumal die Abtrennung von der Außenwelt mit ihren zahllosen kleinen Reizen, die Untätigkeit. Mißt man der Milieukomponente das Hauptgewicht bei, so müßten auch andere ähnliche Milieus, wie Klöster, Gefängnisse, das Freiwerden solcher Produktion begünstigen. Ferner wäre es theoretisch wahrscheinlich, daß auch innere Entwicklungen von introvertierendem Charakter die gleiche Wirkung hervorzubringen vermöchten. – Zweitens aber könnte man eine Erklärung auf ganz anderer Basis versuchen. Der Kranke würde danach unter der ganz spezifischen Einwirkung der Schizophrenie zu einer Gestaltungskraft gelangen, die ihm sonst versagt wäre, indem nämlich in seiner Psyche sich Vorgänge abspielen würden, die sonst dem Künstler vorbehalten sind. Beide Erklärungen scheinen uns einen Teil der Beobachtungen richtig zu deuten, doch läßt sich die Tragweite der zweiten erst näher festlegen, wenn wir uns Klarheit darüber verschafft haben, welche neuartigen Erlebnisweisen dem Künstler in der Psychose zuteil werden. Vor allem müßte man dazu wissen, ob ihm etwa vertrauter ist, was andere als völlig fremd überfällt.
Ein anderer Problemkreis geht mehr in die Soziologie der Gestaltung über. Welche Beziehungen herrschen zwischen schizophrener und dekadenter Gestaltung? Solche Fragen können jedoch nur aufgeworfen werden, wenn wir über den Begriff der Dekadenz oder Entartung uns klar zu werden vermögen, was wiederum einen Normbegriff voraussetzt Ansätze zur Aufstellung eines neuen Normbegriffes des Menschen, in dem schöpferische Gestaltung als wichtigste Eigenschaft gilt, machen sich in letzter Zeit wieder bemerkbar. Vgl. vor allem den strengen klaren Versuch von Kurt Hildebrandt in seinem Buche »Norm und Entartung des Menschen« Dresden 1920. Rein psychologisch entwickelt Gruhle die abnormen seelischen Erscheinungen aller Art in dem Bande »Psychologie des Abnormen« des im Druck befindlichen Handbuches der vergleichenden Psychologie (bei E. Reinhardt-München). Für den Nichtpsychiater, dem die bekannte »Allgemeine Psychopathologie« von Jaspers (2. Aufl., 1920) vielleicht zu konsequent auf psychiatrische Bedürfnisse zugeschnitten ist, wird durch die Arbeit von Gruhle wohl zum ersten Male das ganze Gebiet zugänglich. Reichliches Material aus allen Zeiten bringt Birnbaum: »Psychopathologische Dokumente« Berlin 1921. – Von soziologischer und kunstwissenschaftlicher Seite kommen manche Versuche diesen psychopathologischen Arbeiten entgegen, z. B. E. von Sydow: »Die Kultur der Dekadenz« Dresden 1921.. Bei unserer rein psychologisch angelegten Untersuchung glauben wir auf eine Diskussion aller Wertprobleme verzichten zu sollen.