Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Das 1922 im Verlag Julius Springer, Berlin, erschienene Werk »Bildnerei der Geisteskranken« von Hans Prinzhorn ist längst vergriffen, auch die unveränderte zweite Auflage von 1923. Daß sich der Verlag zu einem Neudruck entschloß, verdient Anerkennung und Dank. Das Werk ist auch heute noch geeignet, Interesse aus verschiedenen Richtungen her zu erwecken: Nicht nur Psychiatrie, Kunstgeschichte und Ästhetik sind angesprochen, sondern die ganze Breite menschenkundlicher Belange, die sich als »Anthropologie« vielfältig auffächert.
Hans Prinzhorn war es nicht vergönnt, eine weitere Neuauflage selbst zu besorgen. Er erlag allzu früh, im Alter von 47 Jahren, am 14. Juni 1933 einem Typhus. Ein kurzer biographischer Rückblick auf das Leben dieses ungewöhnlichen Mannes, der seine Zeitgenossen faszinierte, mag hier am Platze sein Vgl. Maria Rave-Schwank: »Hans Prinzhorn und die Bildnerei der Geisteskranken« im Ausstellungsbuch 1 Bildnerei der Geisteskranken aus der Prinzhorn-Sammlung, Galerie Rothe, Heidelberg, 1967, S. 7. Dort auch: Jan M. Broekman: »Das Gestalten Geisteskranker und die moderne Kunst« und Wolfgang Rothe: »Zur Vorgeschichte Prinzhorns«..
Geboren am 8. Juni 1886 in Hemer/Westfalen als Sohn eines Papierfabrikanten, studierte er in Wien zunächst Kunstgeschichte, promovierte in diesem Fach, erwarb dann in London eine Gesangsausbildung. Danach studierte er Medizin, wandte sich der Psychiatrie zu, wurde 1918, aus dem Kriege heimgekehrt, Assistent an der Heidelberger Psychiatrischen Klinik. Der Direktor dieser Klinik, Karl Wilmanns, hatte ihn dafür gewonnen, eine bereits von Wilmanns angelegte kleine Sammlung von bildnerischen Produkten Geisteskranker zu vergrößern und wissenschaftlich zu bearbeiten. Prinzhorn sammelte gegen 5000 Nummern aus Psychiatrischen Anstalten in Deutschland, Österreich, Schweiz, Italien und Holland. Aus dieser Sammlung erwuchs das Ende 1921 in Heidelberg abgeschlossene Werk. Prinzhorn blieb nur wenige Jahre in Heidelberg, arbeitete dann im Sanatorium »Weißer Hirsch« bei Dresden, ließ sich später als Psychotherapeut in Frankfurt a. M. nieder. 1929 unternahm er eine Vortragsreise in die Vereinigten Staaten, daran anschließend eine Reise nach Mexiko zum Zwecke von Rauschgiftstudien. Es folgten Jahre schriftstellerischer Arbeit in Paris, im Schwarzwald und in München. Er stand mit zahlreichen bedeutenden Persönlichkeiten der Weimarer Zeit in Verbindung, mit Künstlern, Schriftstellern und Philosophen. Sich selbst betrachtete er als Schüler von Ludwig Klages, vertrat dessen Lebensphilosophie in Wort und Schrift. In der Zeit des Unterganges der Weimarer Republik haben ihn neben wissenschaftlichen und künstlerischen Interessen auch politische lebhaft bewegt. Als wissenschaftlicher Schriftsteller war er produktiv auf dem Gebiete der Charakterologie und Psychotherapie. Nach der »Bildnerei der Geisteskranken«, die ihn mit einem Schlage weithin bekannt machte, verfaßte er auch ein Werk über die »Bildnerei der Gefangenen« (Berlin 1926, im Verlag Juncker).
Die zeichnerischen, malerischen und bildhauerischen Produkte, die Prinzhorn in Heidelberg gesammelt und bearbeitet hat, stammen in der überwiegenden Zahl von künstlerisch ungelernten, ungeübten Personen, Anstaltsinsassen, die erst durch den Ausbruch einer Geisteskrankheit – die meisten litten an Schizophrenie – zu einer gestaltenden Tätigkeit angetrieben wurden. Im Gegensatz zu neueren Kollektionen psychotischer Kunst handelt es sich bei der Prinzhorn-Sammlung nicht um Ergebnisse beschäftigungstherapeutischer und psychotherapeutischer Anregung von außen, sondern um gänzlich spontan entstandene Bildwerke. Ihre Schöpfer waren kranke Menschen, die in der anregungsarmen, sozial isolierenden Atmosphäre geschlossener Anstalten lebten. Entstanden sind diese Bildwerke, von denen der vorliegende Band nur eine relativ kleine, aber von Prinzhorn sorgfältig und repräsentativ getroffene Auswahl wiedergibt, zwischen 1890 und 1920.
Vor Prinzhorn galten Bildwerke von Geisteskranken mehr oder minder als bloße Curiosa, waren selten Gegenstand wissenschaftlicher Bearbeitung (Lombroso 1888) und niemals Thema einer gründlichen und angemessenen Analyse. Die Bildwerke von Kranken, die an »Dementia praecox« (vorzeitiger Verblödung, das ist die frühere Bezeichnung für Schizophrenie) litten, imponierten als erstaunliche, im Grunde unverständliche Hervorbringungen eines geistigen Totenreiches. Für Prinzhorn, der in der Heidelberger Klinik die Schizophrenielehre des Schweizer Psychiaters Eugen Bleuler aufgenommen hatte, waren sie Durchbrüche eines allgemein menschlichen Gestaltungsdranges, der den autistischen Abkapselungstendenzen der Geisteskrankheit entgegenwirkt. Er konnte überraschende Parallelen in den Bildwerken von Kindern, alten Hochkulturen und Primitiven aufzeigen. Die engste Verwandtschaft aber fand er im Vergleich mit der zeitgenössischen, expressionistischen Kunst. Er sah starke Ähnlichkeiten zwischen dem in der Bildnerei der Geisteskranken ausgedrückten schizophrenen Weltgefühl und dem Zerfall des traditionellen Weltgefühls, der die moderne, expressionistische Kunst aus sich heraus geboren habe. Den Unterschied erblickte er darin, daß sich der schizophrene Künstler an die schicksalsmäßige, psychotische Entfremdung und Veränderung seiner Welt anzupassen habe, während der nichtpsychotische, seelisch gesunde Künstler sich bewußt von der vertrauten Wirklichkeit, vom Zwange der äußeren Erscheinung abwende, um dem Zerfall des ehemals herrschenden Weltgefühls mit autonomer Innerlichkeit zu begegnen.
Nach Prinzhorn hat man in den Bildnereien Geisteskranker Symbolismen und Formmomente erblickt, die verschlüsselte Kommunikationsversuche mit der sozialen Umwelt sowie zugleich auch Versuche der Ich-Findung in den Ich-auflösenden Vorgängen der Psychose bedeuten (Navratil). Die nach Prinzhorn aufgekommenen Interpretationen dieser Werke bringen den von ihm wenig beachteten lebensgeschichtlichen Aspekt hinzu und liefern dadurch die Grundlage zu ihrer psychotherapeutischen Verwertung.
Trotz der Wandlung in der Betrachtungsweise und Interpretation der von Geisteskranken, insbesondere von Schizophrenen geschaffenen Bildwerke behauptet das Buch von Hans Prinzhorn seinen Platz im Grenzgebiet von Psychiatrie und Kunst, Krankheit und schöpferischem Ausdruck. Prinzhorn war, unter bewußter Ausklammerung aller psychoanalytischen Gesichtspunkte, vor allem an den in den Bildwerken wirksamen, formalen Gestaltungsprinzipien interessiert, z. B. an dem elementar sich durchsetzenden, überwuchernden Symbolbedürfnis der Kranken oder an ihren ornamentalen, iterierenden Ordnungstendenzen. Auch diagnostische Zuordnungen beschäftigten ihn nur am Rande. Die unbestreitbare Kunstleistung mancher dieser Kranken hat ihn besonders beeindruckt Er hat es verstanden, ihre Leistungen durch seine vergleichende Methode dem Betrachter und Leser nahezubringen. Unzweifelhaft ist es ihm gelungen, das Bewußtsein für die geheimnisvolle Tiefe zu wecken, aus der manche Schizophrene künstlerisch produktiv werden, das Bewußtsein für das Fremde, Unheimliche, Unergündliche solcher psychotischer Produktionen. Es ist bemerkenswert, daß auch heute noch, 45 Jahre nach dem ersten Erscheinen des Werkes, gilt, was der Autor damals selbst hervorgehoben hatte: Menschen ganz verschiedener Prägung, verschiedenen Alters und verschiedener Berufe würden ungewöhnlich stark und dauernd von diesen Bildwerken gepackt und nicht selten zu grundsätzlichen kulturellen und weltanschaulichen Fragestellungen gezwungen. Das Gleiche kann man heute noch feststellen. Ein Verdienst von Hans Prinzhorn war es, diesem Angesprochensein des künstlerisch interessierten und geistig gebildeten Menschen seiner Zeit, unserer Zeit durch eine reich und schön bebilderte, gedanklich klar gegliederte und zugleich fesselnde Darstellung entgegenzukommen. Dieses Verdienst erweist sich als auffallend zeitbeständig, es rechtfertigt nach unserer Überzeugung allein schon den Neudruck des Werkes – ganz abgesehen von seinem psychiatrischen und psychiatriegeschichtlichen Wert.