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III. Spielerische Zeichnungen mit vorwiegender Ordnungstendenz. (Ornamentik und Dekoration.)

Wir unterschieden im Bereiche ordnender Tendenzen von formalen Regeln, die sich auf Einzelformen (Ornament) und Flächenteilung (Dekoration) erstrecken, das freie rhythmische Gleichmaß im Bewegungsablauf der einzelnen Linien. Dieses erscheint am einfachsten und vielleicht am eindrucksvollsten in Abb. 4a, wo zwei Bewegungsmotive, die kreisähnliche Kurve und die in Parallelführung zur Zwischenraumgliederung verwendete Gerade, den ganzen Formenschatz ausmachen. Diese Motive sind ohne jede vorschauende Berechnung rein spielerisch von einem Rande bis zum anderen durchgeführt und erzeugen nur durch die Konstanz ihrer gleichmäßigen Bewegtheit den einheitlichen Gesamteindruck. Nach denselben Prinzipien ist Abb. 5 mit ihrem wuchernden Reichtum von margueriten- und korallenähnlichen Formen entstanden, nur daß hier jeder Bewegungsrhythmus in sich abgeschlossene Einzelgebilde erzeugt. Man wird nicht fehlgehen, wenn man in den druckstarken, energischen Kurven dieser Gebilde den Ausdruck einer gespannten Erregung sucht. Das wird besonders überzeugend durch einen Vergleich mit den bizarr spielerischen Gebilden eines anderen Kranken, Abb. 2c und d. In der Tat fertigt dieser seit Jahren fast automatisch zahllose derartige Arabesken an. Zumal bei seinen größeren Blättern, wie Abb. 6, siegt über den ersten Eindruck des Reichtums eine gewisse Lahmheit in der Zusammenfügung des Ganzen. Wenige durch Jahre stereotyp sich wiederholende muschelartige Motive bestreiten den ganzen Aufbau. Auf die Rahmenfunktion des Randes wird häufig Rücksicht genommen, dagegen wird die Flächenteilung in kapriziöser Willkür bestimmt, ohne daß eine Ordnungsregel oder ein reales Objekt Berücksichtigung fänden. –

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Fall 267 u. 441. Abb. 4a u. b. Dekorative Kritzeleien (Bleistift). je 32x21.

Nicht so einfach ist Abb. 7 in ihre Komponenten zu zerlegen, denn sie ist in zwei Richtungen verankert: einmal sind innerhalb der Quadratteilung geometrische Figuren durch Diagonalen und Verbindungslinien der Quadratmittelpunkte konstruiert. Diese geben das Gerüst ab für die Kurven und die farbig ausgeführten Flächenstücke. Aber die Kurven sind nun keineswegs in geometrischer Regelmäßigkeit gezogen, sondern tragen in verwirrender Mischung Gesetz und Willkür zur Schau. Dann beruht wohl die gleichzeitig geschlossene und doch beunruhigende Wirkung des Blattes. Auch die Farbenverteilung trägt zu diesem zwiespältigen Eindruck bei, da sie ebenfalls stellenweise mit dem Anspruch auf gesetzmäßige Beziehung auftritt und dann wieder spielerischem Einfall zu folgen scheint. Ähnliches läßt sich von dem viel primitiveren Blatt Abb. 4 b sagen, dessen Hauptlinien scheinbar von einem am Rande gelegenen Punkte ihr Gesetz empfangen, während sich in Wirklichkeit die meisten Teilformen ganz unabhängig von diesem machen. Ob der Zeichner, ein von Natur imbeziller Schizophrener, wirklich von Anfang an ein Haus darzustellen beabsichtigte, wie er nachträglich angab, läßt sich bei dem spielerischen Deutedrang derartiger Kranker nicht mehr entscheiden. Bemerkenswert ist immerhin, daß eine solche scheinbar abstrakt dekorative Zeichnung unter Umständen reale Gegenstände meinen kann. Wir hätten also hier den Fall, daß zwei für unsere Begriffe völlig unvergleichbare Vorstellungskomplexe von dem Schizophrenen identifiziert werden: das Anschauungsbild eines Hauses, von dem wir kaum annehmen können, daß es vom Durchschnitt grundsätzlich abwiche und andererseits die abstrakte Zeichnung. In einigen Fällen läßt sich genau verfolgen, wie auf einem äußerst komplizierten landkartenähnlichen Blatt jedem Detail dauernd eine bestimmte Bedeutung zugeschrieben wird. Nicht nur Anschauungsbilder, sondern ganze Szenen und zumal wichtige Erlebnisse werden in ein nichtssagendes Gekritzel hineingeheimnißt. Von Symbolik sollte man in solchen Fällen vielleicht noch nicht reden.

Fall 195. Abb. 5. Ornamentale Zeichnung (Bleistift). 16x21.

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Fall 216. Abb. 6. Dekorative Zeichnung (Bleistift). 24x37.

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Fall 187. Abb. 7. Dekorative Zeichnung (Blei- u. Buntstift).19x19.

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Fall 114. Abb. 8. Ornament (Bleistift). 9x15.

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Fall 164. Abb. 9. Dekorative Spielerei (Tinte). 43x32.

Stumpfsinnig mechanische, regelmäßige Wiederholung weniger Motive ist das Merkmal der Abb. 8. Der Kranke hat zahlreiche dicke Hefte mit derartigen Mustern angefüllt, den psychopathologischen Begriff der Stereotypie auf kaum zu überbietender Weise verkörpernd. Da er aus einer Gegend stammt, wo Stickereiindustrie vorherrscht, so entstanden die Muster zweifellos unter der Einwirkung von Erinnerungsbildern. Eigentümlich ist hier die konsequente Auflösung der Symmetrie in den meisten Detailformen, wodurch das Ganze, trotz der recht pedantischen Wiederholung in langen Reihen etwas Schwankendes erhält. Eine Anfrage bei Stickereien ergab, daß die Muster trotz großer Ähnlichkeit mit den üblichen sich für die Maschinenarbeit nicht eigneten.

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Fall 218. Abb. 10. Dekorative Zeichnung, abbildend gemeint (Bleistift).10x16.

Einfache Naturformen, wie Blätter, Bäume können in symmetrischer Anordnung leicht zu bescheidener dekorativer Wirkung gebracht werden, wofür zahlreiche Beispiele vorliegen. In besonders bizarrer Weise geschieht das gleiche auf Abb. 9. Da sind die Umrisse täglicher Gebrauchsgegenstände in zentraler Anordnung, ohne auf gegenseitige Überschneidungen Rücksicht zu nehmen, in einem Gewirr von Worten und Zahlen angebracht: Teller, Löffel, Tassen, Kanne, Brotscheiben, Federn, Geldstücke usf. Die Umrisse dieser Gegenstände entstanden offenbar zuerst, denn sie werden begleitet von Inschriften, und die wagerechten Zeilen beschränken sich auf die Zwischenräume, von denen einige durch zahllose Wiederholungen der Ziffer 1 angefüllt sind, während die Blattränder drei Reihen von Kreuzen tragen, und zwar auch die am Falz des Aktenbogens liegenden Ränder, obwohl bei diesen gar keine Rahmenwirkung in Frage kommt. Der Falz hat also so suggestiv auf den Zeichner gewirkt, daß er mit sinnloser Konsequenz das Kreuzmotiv auch mitten über sein Blatt durchführte. Die Mischung von Zeichnung und Schrift kommt bei unserem Material besonders häufig vor (vgl. auch Abb. 3, 9, 21). Sehr charakteristisch ist die Verwendung der gegenständlichen Formen; sie werden ohne Rücksicht auf Körperlichkeit und aufrechte Stellung rein als Umrißkurven spielerisch verwertet. Daß reale Objekte auch auf Abb. 10 dargestellt sind, die zunächst ein rein dekorativer Entwurf, etwa für ein Eisengitter zu sein scheint, wirkt überraschend. Aber die Inschrift beweist unwiderleglich, daß unten zwei Kinderbetten – offenbar in Oberansicht –, oben ein Kleiderbrett gemeint sei. Bei Abb. 11 scheint das Gegenständliche eher aus konstruierendem Spiel und Ausdeutung entstanden zu sein. Durch die straffen Verbindungskurven, die wie magnetische Kraftfelder anmuten, mag sich mehr zufällig die Gestalt des adlerartigen Vogels entwickelt haben, die nun eine fast monumentale Wirkung erreicht.

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Fall 187. Abb. 11. Dekorative Zeichnung (Bleistift).19x19.

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Fall 123. Abb. 12. Dekorative Zeichnung (Tinte).17x12.

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Fall 123. Abb. 13. »Madonna-Soldaten« (Bleistift).10x7.

Reichhaltiger und beweglicher in der Formensprache sind die beiden Blätter Abb. 12 und 13, wie die meisten Zeichnungen dieses höchst verschrobenen schizophrenen Endzustandes, auf Klosettpapier gekritzelt. In ihm kreuzt sich, bei großer Lockerheit des Striches, die Neigung zu stereotypen Wiederholungen mit ausgesprochenem Sinn für Flächenteilung und leichter Abwandlung des gleichen Motivs. So ist das fünfmal wiederholte Tier auf Abb. 12 jedesmal etwas verändert, die senkrechten Streifen werden nach rechts zu schmäler. Auf Abb. 13 scheinen nichtanschauliche Vorstellungskomplexe eine größere Rolle gespielt zu haben, als auf den bisher betrachteten Blättern. Der Kranke nennt diese Zeichnung »Madonnasoldaten«. In der Tat sind wohl weibliche Figürchen mit Heiligenschein gemeint, über denen links das Kreuz steht. Rechts unten das Himmelbett, das darüber in Oberansicht nochmal zu sehen ist, erläuterte der Kranke mit geheimnisvoller Miene: »und führe uns nicht in Versuchung«. –

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Fall 182. Abb. 15. Figürliche Kritzelei (Bleistift). 17x20.

Sehr schwer zu analysieren ist der rätselhafte Zauber, der von Abb. 14 ausgeht. Da mischen sich in regellosem krausem Gewirr stark bunte Formen, deren exotische Pracht an Blumen und farbige Steine erinnert, ohne daß irgendeine Einzelform als reales Objekt erkennbar wäre. Um so fremdartiger wirkt in diesem abstrakten Kaleidoskopspiel der fast realistisch ausgeführte Kopf. Alles außer diesem Kopf ist vieldeutig und rationalen Erwägungen unfaßlich. Man kann auch kein Einheitsmoment finden, außer der rücksichtslosen Buntheit und der vorwiegenden Eckigkeit der Einzelformen, die wir unter dem Begriff des Rhythmus verstehen würden. Denn aus diesem halb-chaotischen Gefüge spricht sicher etwas im Sinne der Einheit; aber dies ist auf keine uns geläufige Gesetzlichkeit zurückzuführen, sondern entspringt der Willkür einer Persönlichkeit, die von irgendwelchen uns geläufigen Bindungen befreit ist. So erklärt sich vielleicht das beunruhigende Gefühl, das auch in dem Erlebnis relativer Bildeinheit nicht schwindet.

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Fall 229. Abb. 14. Abstrakt-dekorative Spielerei (Buntstift). 31x23.

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Fall 159. Abb. 16. Köpfe (Bleistift). 10x12.


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