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B. Theoretischer Teil
Die psychologischen Grundlagen der bildnerischen Gestaltung

I. Metaphysischer Sinn der Gestaltung.

Im Sinne des Vorworts müssen wir gestehen, daß wir von einer Fiktion ausgehen: der metaphysische Sinn bildnerischer Gestaltung sei als bekannt vorausgesetzt. Tatsächlich ist er keineswegs bekannt, wie die Bemühungen der philosophischen Ästhetik beweisen, sondern ein Spielball weltanschaulicher Meinungen. Wir deuten daher nur die Richtung an, in der wir ihn zu erschauen meinen: nicht in einer Nachahmung der Natur, nicht in einer Illusion, nicht in einer Verschönerung des sonst unerträglichen Lebens und nicht in den möglichen erzieherischen Nebenwirkungen. Jede Zwecksetzung ist dem Wesen der Gestaltung fremd, wie berechtigt sie immerhin soziologisch im Zusammenhang des Lebens sein mag. Vielmehr suchen wir den Sinn alles Gestalteten eben in der Gestaltung selbst. Wir glauben Vollkommenheit eines Werkes nicht anders ausdrücken zu können als: höchste Lebendigkeit in vollendeter Gestaltung. Jede andere Wertung bedient sich weitverzweigter kultureller Hilfsgesichtspunkte. Dadurch ist der Begriff der »Kunst« völlig farblos geworden und für grundsätzliche Diskussionen wegen seiner affektiv überbetonten Vieldeutigkeit kaum mehr verwendbar. Die Hauptzüge des gestalteten Werkes glauben wir schon in dem auf seine wesentlichen Faktoren zurückgeführten Gestaltungsvorgang aufweisen zu können, wo sie als bestimmt umschreibbare seelische Funktionen psychologisch sehr wohl zu erfassen sind. In diesem von den individuellen Zügen und von jeder Bindung an sekundäre Instanzen gereinigten Vorgang glauben wir uns auch des metaphysischen Sinnes der Gestaltung zugleich zu bemächtigen, der im Zusammenhang des kulturellen Lebens durch äußere Zwecksetzung zumeist verhüllt wird.

Im Lichte dieses Grundgedankens sind alle psychologischen Einzelerwägungen zu betrachten, die nunmehr sich auf den Wurzelbereich der bildnerischen Gestaltung richten. Es gilt die Tendenzen aufzuzeigen, die in dem allgemeinen, noch nicht näher bestimmten Gestaltungsdrange zusammenwirken. Welches Gewicht man den einzelnen Tendenzen grundsätzlich beimißt, hängt von verschiedenen, vorwiegend weltanschaulichen Bedingungen ab. Auch wird in jedem Bildwerke die Wirkung der einzelnen Komponenten verschieden sein. Jede kann überwiegen, jede verschwinden. Daß die sechs zu beschreibenden Wurzelgebiete jedesmal in Frage kommen, daß man niemals aus einem einheitlichen Triebe das Ganze ableiten kann, das ist die Meinung.

Man könnte einwenden, solche theoretischen Erwägungen würden den Gang einer durch das Material bestimmten Untersuchung nur belasten und aufhalten. Indessen sind sie tatsächlich von entscheidender Bedeutung für die Auswertung dieses Materials und keineswegs so geläufig, daß man sich einfach auf sie beziehen dürfte. Wir gewinnen durch die Klarlegung umschriebener Gestaltungstendenzen und ihrer Zuordnung im »normalen« Gestaltungsvorgang eine Handhabe für alle künftigen Wertungen unserer Bildwerke. Statt auf vage Eindrücke angewiesen zu sein, werden wir fremdartige Züge im Bereich einer Gestaltungstendenz aufzeigen – statt einer Störung schlechthin werden wir eine bestimmte seelische Funktion als gestört nachweisen können.


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