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Man darf bei der Deutung rätselhafter Zeichnungen mit Hilfe der Erläuterungen von seiten der Kranken selbst nie vergessen, wieviel sie in spielerisch Entstandenes gern hineingeheimnissen. Das stärkste Beispiel dafür ist Abb. 64, ein großes Blatt in stumpfen Aquarellfarben, graugrün und braun, plump hingestrichen. Der Mann, ein derber Handwerker, der keine Spur von zeichnerischer Begabung besaß, erklärte mit großer Bestimmtheit, sein Machwerk stelle einen Wald mit vielen Bäumen, einem Drachen, Blut und einem Vögelchen dar. Aus den vorwiegend senkrecht geführten Pinselstrichen und aus dem Farbton kann man mit einigem guten Willen schließlich Bäume erkennen, für die übrigen Gegenstände, die der Mann verkörpert zu haben behauptet, sind schlechterdings keine anschaulichen Daten aufzufinden. Einer mit Prätention verkündeten Inhaltsbezeichnung entspricht also fast ein Nichts an Gestaltung. Es bleibt sozusagen nur noch die Gebärde des Darstellenden übrig, und das ist ein wahnhafter Zug, den die Kranken auch in anderer Richtung häufig zeigen. Besonders die Gebärde des Komponisten ist nicht selten. Auf parallelen Linien, deren Zahl sich zwischen 3 und 10 bewegt, werden notenähnliche Gebilde, Taktstriche und besonders ausgiebige Vortragsbezeichnungen angebracht. Werden solche »Kompositionen« dann von dem Autor feierlich gesungen, so ist das Verhältnis zwischen Leistung und Gebärde ähnlich, wie bei dem Drachenwald. Andere Kranke gehen gründlicher vor und ringen um eine eigene Formensprache, in der einfache Kurven eine bestimmte Bedeutung erhalten und dann stereotyp verwendet werden, oder sie versuchen durch Versenkung in irgendeine Vorstellung eine Ausdruckskurve für diese intuitiv zu finden, wie der Fall Welz (S. 253).
Bei einigen der besprochenen Bildwerke mußte schon auf die gesteigerte Bedeutsamkeit aufmerksam gemacht werden, die über das schlicht ablesbar Gegebene hinaus für den Beschauer einen geheimnisvollen Hintergrund bot. Ob diese durch Reflexion noch nicht aufgehellte erste Gefühlswirkung einem ähnlichen seelischen Zustand bei dem Urheber entspricht, läßt sich nur in Ausnahmefällen nachweisen, nämlich wenn mündliche oder schriftliche Erläuterungen aufbewahrt worden sind. Daß solche Wirkungen auch ohne Erlebnisgrundlage auf seiten des Urhebers entstehen können – diese logisch schwer formulierbare, psychologisch dagegen sehr wohl aufzuklärende Tatsache soll unter anderem an unserem Material dargelegt werden. Man kann Symbolik jedesmal finden, wenn in einem Bilde ein unanschaulicher Inhalt mitgemeint oder aber nur ohne Absicht des Bildners mitangeregt wird, das ist eine rein terminologische Frage. Wir neigen dazu, den Begriff der Symbolik von der psychologischen Genese im Einzelfalle (ob jemand Symbole bewußt oder unbewußt verwendet) ganz unabhängig zu halten und werden zur Theorie dieses Problems später noch einiges beitragen. Hier genügt die Erklärung, daß wir von Symbolik im weiteren Sinne immer sprechen, wenn wir in einem sinnlich Gegebenen ein Abstraktes, Geistiges, Übersinnliches finden, wenn uns das Bild zum Sinnbild wird. Ob wir Symbole und die von ihnen nicht scharf trennbaren Allegorien richtig zu deuten vermögen, hängt in erster Linie davon ab, wieweit der Zeichner sich konventioneller Symbole bedient und wieweit er selbst neue zu prägen unternimmt. Hiervon wäre noch zu unterscheiden eine magisch-zauberische Bedeutung, die wohl kaum unmittelbar aus dem Bild erschlossen werden kann, sondern nur aus entsprechenden Äußerungen. Die ergiebigsten, in symbolischer Vorstellungsweise verankerten Bildwerke finden sich bei den zehn Hauptfällen (S. 123 ff.). Hier sollen nur einige einfache Beispiele zeigen, in wie verschiedener Mischung mit anderen Tendenzen solche symbolische Neigung auftreten kann.
Auf Abb. 65 werden kirchliche Symbole einfach locker nebeneinander dargestellt. Der Zeichner hat zahlreiche ähnliche Blätter in starken Farben unter reichlicher Verwendung von Gold gemacht. Vor allem aber phantastische Altäre in dem Abteilungszimmer aufgebaut, die sich in ähnlicher Weise aus allen möglichen Symbolen unter großem Aufwande von papierner Pracht zusammensetzen. Vor diesen Altären führte er feierliche Gebetsszenen auf. Unser Bild, mit zahlreichen Inschriften überwuchert, in denen »Gott Allmachts Hlg. Meister« mit »Gambrinius« sich trifft, ist sozusagen eine graphische Vergegenwärtigung kirchlicher Geräte und Symbole, ohne daß ein Aufbau oder auch nur eine durchgehende dekorative Ordnung gesucht würde. Nur die im Strahlenkranze mitten zu oberst vor dem Dreieck (Auge Gottes) schwebende Taube vereinheitlicht die lockere Fügung. Abb. 66 dagegen meint eine ganze Kirchenszene in kindlicher Grundrißdarstellung mit aufrechten Einzelheiten und dabei werden nur einige Symbole mit angebracht: das Auge Gottes in zwei Formen, der Hahn. Bei dem besonders simpel an ein Strichkreuz gehängten quadratischen Christus fällt die Inschrift am Kopfe auf, durch die »Sünder-Menschen« als »Männlich-weiblich« bezeichnet werden; darauf ist in anderem Zusammenhang zurückzukommen. – Aus dem Umkreis einfacher Kritzelei gerät Abb. 67 in die symbolische Sphäre. Sie stammt von demselben Manischen wie die Köpfe Abb. 23. Wie von ungefähr scheint diese Kreuzigungsszene sich ergeben zu haben. Sind die beiden Schächer noch kindlich-grotesk geraten, so wird die Maria links unten nur mehr durch ein Fabeltier repräsentiert. In welcher Funktion der Hahn vom Haupte Christi zu dem rechten Schächer fliegt, bleibt unerklärlich. – Abb. 68 fügt zwar im unteren Teil ähnlich wie Abb. 64 kindliche Geräte und Inschriften nur lose zusammen, gelangt dann aber in den beiden fast gleichen, symmetrisch angeordneten, bärtigen Köpfen mit der Überschrift ›Ecce Homo‹ zu einer feierlichen fremdartigen Gesamtwirkung. Dabei ist vor allem die Auflösung aller Einzelformen dieser Köpfe in fast ornamentale Kurven beteiligt.
An Abb. 69 und 70 seien noch zwei typische Arten von Bildwerken in ziemlich reiner Prägung gezeigt. Das eine ist eine vorwiegend allegorische Szene: Ein Weib streckt sich auf einem Lager, das auf dem Rücken eines Drachen (der Sünde) aufgebaut ist. Im Hintergrund röhrt ein Hirsch. Die aufgehende Sonne hinten, Herz, Mondsichel und Sterne sind nicht in eindeutige Beziehung zu dieser Paraphrase der fleischlichen Lust zu bringen. Dagegen ist Abb. 70 fast rein aus konventionellen Symbolen aufgebaut, deren Kombination freilich keinen rationalen Sinn ergibt, sondern mehr spielerisch unter dekorativen Gesichtspunkten entstanden zu sein scheint: Eule, Hufeisen, Kreuz, Anker, drei Kreise vor Flammengrund (vielleicht als Herz angelegt und als Dreifaltigkeit mitgemeint). Tatsächlich hat derselbe Mann solche Blätter zu Dutzenden hergestellt und zwischendurch rein geometrische Zeichnungen gemacht.
Wie ein systematischer Wahn für die ganze Gestaltung maßgebend sein kann, zeigen die Abb. 71 und 72. Der Kranke, der in den 90er Jahren von Amerika aus in eine deutsche Anstalt übergeführt wurde und dort vor längerer Zeit starb, hat lediglich derartige Bilder in Schuheinlegesohlen gedeutet und gezeichnet. Folgende Textprobe aus den sehr ausführlichen Beischriften, die er zu manchen Blättern geliefert hat, mag den Zugang zu den sonderbaren Konglomeraten aus Köpfen, Vögeln, Rehen, Zahlen usw. erleichtern: »Cristo viene, los muertos se levantan!' Christus kommt, die Toten stehen auf« steht an der Quelle eines fünfzehn Jahre lang von methodisch wahnsinnigen geheimen Giftmördern und Totschlägern in Deutschland hinter frecher wissentlicher Aktenfälschung verheimlichten Verbrechens geschrieben, das mit einem durch Habeas-Corpus-Befehl gebrandmarkten, von geistesgestörten Ärzten im Dienste amerikanischer Eisenbahnsubventionsschwindler in Mexiko angestifteten Justizmorde anfängt und mit einem Wunder des Heiligen Geistes endet, wie es nebenstehende Zeichnung veranschaulicht, ein Wunder in der Schuheinlegesohle des von satansbesessenen, geistesgestörten Meuchelmördern durch heimliche, gewaltsame Vergiftung und Gehirnzerschmetterung rücksichtslos Geopferten, Entmündigten, Totgeschriebenen. Ein vierseitiges Bild in einer Schuhsohle im Anschluß an einen neuen verheimlichten Doppelgiftmord, das nur verständlich und deutbar ist unter Zugrundelegung, der Photographien meiner verstorbenen Eltern Eduard und Mathilde L. geb. C. und deren neun Kindern. Die Eltern, von denen der 1893 verstorbene Vater in roher, gemeiner, das ganze deutsche Beamtentum bloßstellender Weise ahnungslos betrogen worden war, während meine Mutter zehn Jahre vorher 1883 der Tod ereilt hatte, entlarven in diesem wunderbaren, sicher allen, ebenso wie mir selbst, unerklärlich scheinenden Bilde die fluchwürdigen Mörder ihres Sohnes unter dem Zeichen des Heiligen Geistes, einer weißen Taube und dem Zeichen des Leidens, eines schwarzen Kreuzes, das die geheime Gehirn- und Rückgratzerschmetterung, die Kopfkreuzigung darstellt, die in Bart-, Haar-, Augenbrauen-Verlust, Gesichtsnarben und Flecken unverkennbare Merkmale des verheimlichten Verbrechens gegraben hat, während die Mutter mit ihrem durch ein Band zu einem Sprachbilde gewundenem und mit Kämmen aufgestecktem Haar die Vergeltung ›Haar um Haar‹ herausfordert. Näheres s. Extrablatt. C. L.«
Wirken manche der Gruppen nur wie ein rätselhaftes Gewirr aus unzusammenhängenden Teilen, etwa wie wenn man auf einer photographischen Platte mehrere Aufnahmen übereinander gemacht hätte, so wächst doch in anderen die Verbindung zwischen Mensch und Reh zu schlichter und inniger Einheit. Die Demutgebärde gar des großen Kopfes, der einen Ring in der Hand hochhebt, hat etwas von großem Ausdrucksstil. An der Gruppe der drei Köpfe links oben ist besonders bemerkenswert der konsequente Versuch, zwei Köpfe mit einer gemeinsamen Nase darzustellen, ein Problem, das in der letzten Zeit manche Künstler bewegt und zu ähnlichen mystischen Versuchen getrieben hat. Die in stattlichem Format ausgeführte Gruppe Abb. 71 hat etwas von stiller Monumentalität, das an den verhüllten Kopf Karls des Großen von Rethel gemahnt. – Eine genauere Analyse dieser außerordentlich fesselnden motivreichen Zeichnungen kann in diesem Zusammenhang nicht versucht werden. Das biographische Material dazu ist sehr verwickelt. Hingewiesen sei noch auf die reichliche Verwendung christlicher Symbole, die wir an zahlreichen Werken anderer Kranker schon beobachtet haben, und auf die für den Wahn des Kranken programmatische Inschrift links unten auf Abb. 71 über dem Dornengekrönten mit Kreuz vor der Stirn und zwei Sandalen in der Hand: »Vor die Tugend haben die Götter den Schweiß gesetzt.«
Abb. 73 zeigt, wie ein Geübter ein phantastisch bewegtes, von geheimen Bedeutungen erfülltes Blatt anlegt. Der Mann war bis zum Ausbruch seiner Psychose lithographischer Zeichner in Paris, übrigens nicht besonders gebildet, sondern mehr Handwerker als Künstler. Das Blatt stammt aus den 90er Jahren und ist nicht durch eigene Erläuterungen des Malers aufzuklären, doch sprechen einzelne Motive eine deutliche Sprache. Den Geübten erkennt man vor allem an dem Versuch einer Raumdarstellung, die freilich nicht klar ausgefallen ist, sondern von der Gruppe rechts durchbrochen wird, der offenbar das Hauptgewicht zukommt. Es ist ein gekreuzigtes Paar unter einem Kronenbaldachin, das mit doppelter Schnur umschlungen ist, und unten von zwei Engeln, oben von zwei Krähen flankiert wird. Diese Gruppe bricht auf Gewölk von oben in den Raum herein. Vorn steht ein greiser Wächter mit ragender Hellebarde und Laterne. Die kleineren Figuren entziehen sich der Deutung und ebenso der Sockel vorn mit dem schwach modellierten löwenartigen Gebilde darauf. Die Inschrift bringt wieder eine besondere Pointe in das Bild: ›Kirchenlicht. Gemälde von Michael Angelo, päpstlicher Scharfrichter‹.
Dagegen nun erkennt man aus Abb. 74 die Art, wie ein völlig Ungebildeter mit stark symbolischen Tendenzen sich eine Formensprache schafft Über diesen Fall erscheint soeben eine Monographie von Morgenthaler: »Ein Geisteskranker als Künstler«, Bern 1921. Darin wird mit 24 Abbildungen die sehr fesselnde Lebensgeschichte des Mannes dargestellt und vorsichtig in psychoanalytischem Sinne gedeutet. Für die Gestaltungsfragen glauben wir hier brauchbare Gesichtspunkte entwickelt zu haben.. Für ihn ist die Bildfläche nicht Grundlage zu einer räumlichen Darstellung, sondern zu dekorativer Aufteilung mit flächenhaften stereotypen Formen, deren jede durch hundertfältigen Gebrauch einen bestimmten Bedeutungsumfang besitzt. Wie aus ähnlichen Bildern hervorgeht, ist die große Figur eine Art Schutzengel mit Flügeln. Mit ›St. Adolf, Groß-Gott-Vatter‹, meint der Zeichner sich selbst. Das Schlangen- und ›Vögeli‹-Motiv, das ihm von je sehr wichtig war, läßt er möglichst oft durch Ausnutzung der Zwischenräume entstehen. Das ›Glöggli‹motiv am Rande bedeutet, daß das Bild auch als Musik abzulesen ist, wobei die ›Glöggli‹ die Taktzahl angeben. Die suggestiv bildmäßige Wirkung wahlloser Buntheit auf einem umrahmten Blatt kann kaum eindringlicher gezeigt werden, als auf diesem Bilde.
Die blasphemische Verzerrung kirchlicher Symbole im Dienste erotischer Phantasien zeigen Abb. 75 und 76. »Die russische Frauenliebe«, die »in Irrenanstalten gesetzlich geschützt ist«, könnte mit ihrer Strahlenkrone unmittelbar von den vielerorts üblichen Gnadenbildern abgeleitet werden, während das Flammenherz mit dem Leidenskreuz darauf, zumal an dieser Stelle, freie Kombination ist. Die Kreuzigung des Weibes auf Abb. 76 wird uns vor allem als Vergleichsstück zu anderen Behandlungen desselben Themas wichtig. Besonders reich an Rätseln ist Abb. 77 von einem Appenzeller Bauern. In der Mitte eines palastartigen Gebäudes, das freilich nur fassadenmäßig behandelt ist, spielt sich unter einem Bogen die Szene ab, der die Inschrift gilt: »Antwort von Jessu III Jare Alt Beim Reinigen Von Einem Fischen Glaß Was Meinen Sie? Kleiner Messiaten Vom Fieschen Glaß Geht Es Den Frauen Nicht Fast Also«. Die Erklärung des ziemlich verschrobenen Mannes war sehr unergiebig. Er machte ein verschmitztes Gesicht, wies nur auf die Einzelheiten der Zeichnung hin: den Hirsch, den auch nach frischem Wasser verlangt, oberhalb der Fischglasszene, die Glocke im Turm, die Taube des Hl. Geistes, den Stern von Bethlehem usw., ohne Zusammenhänge aufzuhellen. Derselbe Mann zeichnete einen Rettich, auf dem unter reichlichem Ornamentwerk Christus mit Kelch und Oblate erscheint. Dies hat er angeblich an einem frisch aus der Erde gezogenen Rettich gesehen. Bei dem Manne spielen magische Beziehungen noch deutlich mit, da er seine Erzeugnisse stets ins Klosett trägt und unter feierlichen Sprüchen dort versenkt.
Ein Uhrmacher vom Lande, der fast 30 Jahre in der Anstalt zubrachte, malte das gestaltenreiche und farbenprächtige Blatt Abb. 78. Er begann erst im 11. Jahre seines Anstaltsaufenthaltes, im 21. Jahre des nachweisbaren, schizophrenen Prozesses, zu zeichnen, und hinterließ bei seinem Tode eine Reihe von Heften mit zahlreichen subtil gemalten Aquarellen in der Art der Abbildung, sowie äußerst umfangreiche schriftliche Aufzeichnungen in Poesie und Prosa. Diese bewegen sich in einer höchst manierierten, orakelhaft dunklen Sprache Dieser Fall ist wegen der durchgängigen Parallelen seiner schriftlich oft in gebundener Sprache niedergelegten Betrachtungen zu den überaus fein ausgeführten farbigen Bildern ganz besonders ergiebig und wird in Kürze monographisch veröffentlicht werden. Allerdings gibt er in der Richtung der Symbolbildung (Tradition oder spontanes Neuschaffen) sehr schwierige Rätsel auf.. Abb. 78 gibt eines der ansprechendsten symbolüberladenen Bilder wieder, das nun trotz des wuchernden Motivreichtums fast pedantisch in strenger Symmetrie aufgebaut ist. Wir durchmustern diese Motive von unten aufsteigend: Die umgekehrten Kreuze bedeuten, wie aus anderen Bildern hervorgeht, den notleidenden Glauben und ähnlich ist wohl auch die nach oben umgekehrte Glocke gemeint. Über dem hübschen Muster aus gelben Küken – Symbole des Entstehens und Werdens – sind Sense und Totenschädel zu grobem Kontraste angebracht. Besonders dicht angefüllt ist das helle Bogenstück unten. Da betet links einer auf dem Geldsack, rechts sitzen Mann und Frau, durch goldene Ringe rückwärts aneinander gekettet. Mitten mag das goldene Kalb gemeint sein, vor dem ein umgekehrter Leuchter mit der Mondsichel nach unten wiederum ein Kreuz statt der Kerze enthält. Von den zwei nackten Figuren, die das Kreuz, auf unklarem Boden stehend, flankieren, trägt eine in hochgehobener Hand ein Knochenmännchen, die andere einen Menschenkopf. Die Inschrift »sündhafte Glaubensgefangenschaft ohne Staatsrecht« mag alle diese Personen betreffen. – Die hellgrüne Partie sieht etwa aus wie eine Relieflandkarte und trägt auf dem Horizonte zwei Gebäude, neben denen, ihrem Charakter entsprechend, links steht »Für die Erde« und rechts »Für den Himmel«. Daß diese Inschriften entwertet sind, indem jederseits unter dem gekreuzten roten Szepter und Morgenstern das Gegenteil nochmals steht, ist eine echte schizophrene Spielerei, die keine Pointe schont. Auf dem scheinbar einen Kelch verhüllenden Tuch, das die zwei schwebenden Engel halten, stehen hintereinander ein Leuchter mit weißem Kreuz darin und ein kleinerer Kelch in weißem Umriß, ferner die Gebotszahlen 1-10 in römischen Ziffern wunderlich wechselnd angeordnet und »Corinther 1. Kap. 13« (d. h. »wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete – –«). Die Fülle der kleinen Einzelheiten können wir dem Betrachter überlassen. In der Gesamtordnung des Bildes herrscht die vom Uhrmacher besonders geschätzte Zweiteilung, die seiner mystisch-symbolischen Weltanschauung entspricht: Unten, vorwiegend gelb, schwarz und grün gehalten, ist das Reich der Sünde, wo alles verkehrt steht und die Menschen unter ihren Trieben leiden; dahin gehört auch das Zeugen und »Gebieren«, das hier von den Küken vertreten wird. Oben dagegen, in blau, rot und grün, ist das Reich der Treue, Unschuld und Seligkeit.
Der formale Aufbau zeichnet sich durch ungewöhnliche Strenge aus, die aber nicht eigentlich pedantisch wird, da der große Motivreichtum öfters zur Gegenüberstellung verschiedener Gruppen führt. Dadurch wird die symmetrische Bindung der Bildhälften an die von unten bis oben betonte Mittelachse ein wenig gelockert. Auch die Teilung des ganzen Bildes in eine obere und untere Hälfte, die nach Farbakkord und Bedeutung einander ganz entgegengesetzt sind, mildert die Geltung der Mittelachse. – Jedem Kunstfreund wird bei dem Blatt Phil. Otto Runge einfallen, der auf mehreren Zeichnungen und Bildern nicht nur ähnliche Motive – schwebende Genien im Lichtkelch – anschlug, sondern auch diese Flächenteilung ebenso liebte: daß sich nämlich ein Rand mit eigenem Motivkreis um das Blatt mit der Hauptdarstellung herumzieht. Diese Anordnung ist aber auch auf persischen Miniaturen nicht selten und kommt zudem in der mittelalterlichen Buchmalerei und später bei uns in Westeuropa häufig genug vor. Trotz dieser Parallelerscheinungen auf dem Gebiete der Kunst wirkt auf unserem Bilde alles nach Motiv und Anordnung so originell, daß wir keinen zwingenden Grund haben, an der selbständigen Erfindung des Mannes zu zweifeln.
Die Mannigfaltigkeit der Bildwerke, die von ungeübten Geisteskranken hervorgebracht werden, ist an dem bisher besprochenen Material wohl nachdrücklich zutage getreten, und zwar in stofflicher wie in gestaltungstheoretischer Hinsicht. Obgleich wir auch bei einer solchen Durchmusterung des Materials, die der gestaltenden Personen kaum gedenkt, die wesentlichen Merkmale herausziehen könnten, so drängt sich doch die Frage auf, wie nun die Menschen seelisch beschaffen sein mögen, die solche merkwürdig aufregenden Bildwerke gestalten. Vielleicht, daß wir auf individualpsychologischem Wege doch noch Zugänge zu diesen Bildern finden, die sich der unmittelbaren Anschauung nicht darbieten. Und abgesehen davon wird wohl in jedem Betrachter der Wunsch sich regen, von diesen fremdartigen Bildnern sich eine Vorstellung machen zu können. Anstatt von zahlreichen Kranken Hauptzüge der Persönlichkeit und Symptome registrierend aufzuzählen und daraus etwa typische Eigenschaften herauszurechnen, ziehen wir es vor, von wenigen besonders ergiebigen Fällen unter Benutzung aller zugänglichen Hilfsquellen Charakteristiken in gedrängter Form zu entwerfen. Daß sich dabei methodisch eine Mischung von Krankengeschichte und Charakterskizze ergibt, wird man aus der Eigenart des Materials verstehen, wenn nicht billigen. Uns schien die übliche kasuistische Darstellung mit allem Detail zuviel für unsere Probleme sachlich Unwichtiges mitzuschleppen, eine psychologische Skizze dagegen einerseits zu arm an nachprüfbaren Befunden zu sein, und andererseits zu leicht auf novellistisch zugespitzte Typenschilderung hinauszulaufen. Das mag einleuchtender wirken, da jedes Detail dann schon im Hinblick auf das zum Schluß erscheinende Problem: »Wie kommt dieser Mann zum Zeichnen?« zurechtgestutzt ist, und den Leser zu der Überzeugung bringen hilft, man habe ihm ein klares, folgerichtiges, geschlossenes Bild entrollt. Wir sehen in der Pflege einer solchen Fiktion einen frommen Trug. Ehrlicher und sachlicher aber schien es, dem Persönlichkeitsbild jene Atmosphäre von Wunderlichkeit, ja von Absurdität zu lassen, die an allem Lebendigen haftet, zumal aber im Zustand der ›Störung‹. So setzen wir den psychologischen Schilderungen unserer zehn Meister einen Krankheitsabriß in jener reizlos-sachlichen Form voraus, die ihm gemäß ist. Damit tragen wir der Tatsache Rechnung, daß diese Personen eben soziologisch nichts sind als ›Anstaltsinsassen‹, ›Geisteskranke‹, Objekte ärztlicher und staatlicher Fürsorge. Und wir scheuen uns nicht, den grellen Kontrast stehen zu lassen zwischen dieser körperlichen sozialen Existenzform und jener seelischen, die hinaufreicht in Kultursphären, ohne daß diese Menschen ›wissen, was sie tun‹.