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II.

Man kann diese Bildwerke unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. Am nächsten liegt der psychiatrische, dem Milieu entsprechend. Und es ist ganz natürlich, daß dieser die ersten Studien Die ersten Studien über Zeichnungen Geisteskranker von Simon 1876 und 1888 stellen den diagnostischen Gesichtspunkt in den Vordergrund. Auch Mohr geht davon aus, erweitert aber die Problemstellung stark. beherrscht, wobei ebenso natürlich der Versuch gemacht wird, diagnostisch verwertbare Merkmale an Bildwerken verschiedener Kranker herauszufinden. Das geht im Groben. Aber wer eine Diagnose ohne dies Hilfsmittel nicht stellen kann, wird sie mit ihm ganz gewiß nicht leichter stellen. Und der Prozentsatz der zeichnenden Kranken ist sehr klein. In den neueren Lehrbüchern der Psychiatrie nehmen kurze Charakteristiken der verschiedenartigen Zeichenweisen schon einen festen Platz ein. Da wird besonders die mechanische, treue Kopie des Idioten und des Epileptikers, die unordentliche, unrastige, unsaubere Schmiererei des Manischen, die plumpe Verzerrung bei Neigung zum Obszönen in den Arbeiten des Paralytikers u. a.m. zutreffend geschildert und dann betont, daß weitaus am ergiebigsten die Schizophrenen in dieser Hinsicht sind. Die Phantastik, Unsinnigkeit, Inkohärenz, Stereotypie, Iteration usf. in ihren Bildwerken zwingt immer wieder dazu, gerade in den schizophrenen Produktionen eine noch unbenutzte Quelle psychiatrischer Erkenntnis zu sehen. Die vorliegenden Veröffentlichungen zeigen, daß eine Prüfung der Bildwerke in der Art, wie man den Kranken selbst flüchtig exploriert, nicht viel Aufklärung bringt. Man findet in den Bildern einige typische Symptome wieder, wie sie das Kompendium lehrt, etwa Stereotypien, wenn das gleiche Motiv sich einige Male wiederholt, Kontamination oder Verschmelzung, wenn ein Tierleib einen Menschenkopf trägt oder umgekehrt. Man kann leicht eine große Menge solcher Tatsachen sammeln, die hauptsächlich beweisen – was nicht anders zu erwarten ist –, daß solche Symptome gleichartig in verschiedenen Ausdrucksgebieten vorkommen. Klinisch ließe sich im Anschluß daran untersuchen, ob die Kranken, die zum Produzieren neigen, auch sonst gemeinsame Züge irgendwelcher Art erkennen lassen, ferner die Abhängigkeit des Produzierens von Stimmungsschwankungen, und umgekehrt seine Wirkung auf die Stimmung – jede solche exakte klinische Beobachtung eines produzierenden Kranken wäre höchst wertvoll. Leider liegt bislang noch nichts Derartiges vor, und eine solche Studie würde außerordentliche Anforderungen nicht nur an die Geduld, sondern mehr noch an Umsicht und Verständnis des Beobachters stellen. Nur wer das ganze Problemgebiet beherrscht, ist fähig dazu.

Eine vergleichende psychopathologische Bearbeitung verschiedener Bildwerke im Zusammenhang mit den Krankengeschichten ihrer Verfasser ist an dem heute vorliegenden Material aussichtsreicher. Nur bestehen dieselben Bedenken, daß den Bildwerken aus Unkenntnis vom Wesen des Gestaltens durch schematisches Abfragen Gewalt angetan wird. Wir sind also der Meinung, daß die besten psychiatrischen und psychopathologischen Methoden nicht davor schützen, aus diesem ihnen heterogenen Material unsinnige Schlüsse zu ziehen.

Von den außerpsychiatrischen Gesichtspunkten sind es zwei, die vor solchen Trugschlüssen schützen können und die genau so materialgemäß sind wie die psychiatrischen. Diese Bildwerke sind Gestaltungsversuche, das haben sie psychologisch mit der »Kunst« gemein. Wir sollten also in kunsttheoretischen Fragen, besser gesagt, in der Psychologie der Gestaltung, einige Erfahrung besitzen. Ferner wurde von je die überraschende Ähnlichkeit dieser Bildwerke mit den Gestaltungen der Kinder und der Primitiven hervorgehoben – daraus erwächst die Verpflichtung, nachzuprüfen, worin denn die Ähnlichkeit besteht, was ihr psychologisch zugrunde liegt, was andererseits den Unterschied ausmacht. Und daher müssen wir auch vergleichend psychologisch oder völkerpsychologisch gewappnet an diese Probleme herantreten. Schließlich ist wiederholt betont worden, zu der Kunst der jüngsten Zeit stünden die Werke unserer Geisteskranken in noch näherem Verhältnis als zu irgendeinem anderen Vergleichsgebiet. Ja, diese Beziehungen erregen gegenwärtig weit mehr die Teilnahme der Öffentlichkeit als die der nächsten Fachwissenschaften. Dabei haben aber unsere Bemühungen, die Gefahr sensationeller Ausbeutung zu verhindern, überall volles Verständnis gefunden, so daß man darin auch als Skeptiker den Beweis dafür erblicken muß, wie tief diese angeregte Wißbegier wohl in treibenden Kräften unserer Zeit verankert ist. Wir stehen nicht an, zu bekennen, daß wir die aktuelle Bedeutung ziemlich hoch einschätzen, die eine gründliche, zu ernsthafter Selbstbesinnung zwingende Darlegung unseres Problemgebietes gewinnen kann, wenn sie den rechten Ton trifft. Und diese Meinung vermögen wir nicht nur mit guten Gründen, sondern auch mit gewichtigen Stimmen Gleichgesinnter zu stützen.

Aus diesen Überlegungen ist eines wohl deutlich geworden: welche außerordentlichen Schwierigkeiten sich einer methodisch durchsichtigen Darstellung unseres Materials und der in ihm steckenden vielgliedrigen Probleme entgegenstemmen. Vergebens suchen wir einen festen Standpunkt in einer der Fachwissenschaften – jedesmal würden dogmatische Fragen sich aufdrängen, die uns zu eng scheinen. Und die letzten begrifflichen Gegensätze auf den beiden zuständigen Gebieten lassen uns auch noch im Stich: weder der Gegensatz Krank–Gesund noch der Gegensatz: Kunst–Nichtkunst ist anders als dialektisch eindeutig. Vielmehr findet der Empiriker, wenn er rückhaltlos ehrlich ist, nur polare Gegensätze mit zahllosen Übergängen, die er eindeutig benennen kann, aber nur in Anlehnung an eine jetzt und hier gerade herrschende Kulturkonvention, die ihm vielleicht in ihrer Beschränktheit quälend klar ist.

In solchem Dilemma wählten wir als Richtpunkt einen psychologisch möglichst zentral gelegenen Begriff, der sich schon dem sogleich zu entwickelnden Hauptproblem (künstlerische Gestaltung und Weltgefühl des Geisteskranken) nähert, nämlich eben den der Gestaltung. Dieser ist daher theoretisch so weit zu fundieren, als es zur Verständigung nötig scheint. Und somit können wir als das Ziel dieses Buches, seinem Untertitel entsprechend nur angeben, daß es als Beitrag zu einer künftigen Psychologie der Gestaltung ein Grenzgebiet lebendig darstellen soll. Zu diesem Zwecke soll einerseits das Material unserer Sammlung möglichst in allen Haupttypen zur Geltung gebracht und andererseits die Fülle der Probleme mindestens so weit übersichtlich ausgebreitet werden, daß der Gesamteindruck künftigen Arbeiten die Orientierung erleichtert. Wieweit unsere Schlüsse aus den überall nachprüfbaren Tatsachen schon als Lösungen von Problemen gelten dürfen, wird sich erst erweisen müssen. Daß eine richtige klare Fragestellung oft wertvoller ist als eine halbklare, obzwar richtige Antwort, gilt uns für ausgemacht. So bemühten wir uns mehr um jene als um endgültig klingende Formulierungen für Erkenntnisse, die noch nicht spruchreif schienen. Vielfach wird nur uraltes, für unser Zeitalter verschollenes Wissen wieder hell. Das mag manchen mehr freuen als der immerhin selbsttäuschungsverdächtige Erwerb »neuen« Wissens.


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