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Nachdem bisher an einer kleinen Auswahl von Blättern gezeigt worden ist, wie sich die beiden formalen Gestaltungstendenzen – ornamental-dekorative und abbildende – höchst mannigfach in unserem Material verkörpern, sollen nunmehr einige Gruppen von komplizierteren Werken betrachtet werden. Dort gingen wir von den Prinzipien aus und behandelten die Einzelwerke, ihre Ausdrucksbedeutung mehr oder weniger vernachlässigend, nur als Beispiele. Es sollte klar werden, daß die anonymen formalen Tendenzen in jedwedem Gestaltungsprozeß erkennbar sind, spiele er nun auf den Höhen der Kunst oder in den Niederungen gleichgültiger Kritzeleien. Wir meinen durch solche Vorbereitung einer tiefer dringenden Analyse den Weg bereitet zu haben. Wenn wir uns nämlich angesichts der folgenden Werke mehr als bisher der seelischen Atmosphäre der gestaltenden Persönlichkeit zu bemächtigen trachten, so ist es von größter Wichtigkeit, daß wir auszuschalten wissen, was an unseren Bildern jenen anonymen Tendenzen zuzuschreiben ist und worin wir individuelle Komponenten, d. h. den Ausdruck persönlichen Erlebens zu suchen haben. Wir werden die Gestaltungsstufe eines Bildwerkes um so höher einschätzen, je vollkommener sein individueller Ausdrucksgehalt zu allgemeinverständlicher und verbindlicher Gestaltung gedieh – was von dem technischen Können fast unabhängig ist. Wir bevorzugen hier Werke, deren Bedeutung in dem anschaulich Gegebenen mit vorliegt, ohne daß Erklärungen des Urhebers auf versteckte tiefere Zusammenhänge hinwiesen, – die freilich damit nicht ausgeschlossen werden.
Abb. 39 bis 41 stammen von einem Schizophrenen, der in gesunden Tagen Photograph in einem kleinen Orte war. Man wird nicht fehlgehen, die Gewohnheiten seiner Retouchiertechnik in der feinen flockigen Schattierung dieser Bleistiftzeichnungen zu suchen. Die eine heißt »Steiler Pfad«. Von wolkigem Grunde – man weiß nicht, ob ein Berghang gemeint ist, oder ein unbestimmter Raum – hebt sich eine Fülle von kleinen wunderlichen Tieren ab. Rechts unten treten wie aus dunkler Höhle zwei schemenhafte Frauengestalten Arm in Arm hervor, kaum bis zu den Knieen sichtbar. Eine dritte Figur, halb Gnom halb Knabe, steht links vorn nicht weniger starr und weist nach oben hinter sich, wo der Pfad kaum erkennbar sich hinauf schlängelt. Maskenhaft unbewegt und fahl blicken alle drei Gesichter gerade aus dem Bild heraus. Die Tiere, teils als Esel erkennbar, teils sonderbare Zwitter aus Schwein, Rind und Meerschweinchen, sind ganz locker verstreut, fast ohne Zusammenhang miteinander. Rechts oben schlängeln sich zwei knitterige Schlangenleiber. Die märchenhafte Grundstimmung des Ganzen erhält durch die Unbestimmtheit aller Einzelheiten und die Unmöglichkeit, ihm einen rationalen Sinn zu unterlegen, einen fremdartig unheimlichen Charakter. Das Bild zerbröckelt in zahlreiche Einzelmotive, deren jedes etwas Eigenes sagen zu wollen scheint, ohne den erlösenden Ausdruck zu finden. Wem gilt die weisende Gebärde des bleichen Zwerges, dem Beschauer, oder den beiden aus der Höhle tretenden Frauen? Was bedeutet der Pfad, auf dem die Tiere spielen? Man gewinnt nichts, wenn man sich in solchen Erklärungsversuchen ergeht, gerade der zwiespältige Eindruck dieser verzauberten Welt ist das Entscheidende, und die relative Einheitlichkeit des Bildeindruckes kann weder von selten der Komposition, noch aus rationaler Beziehung der Figuren überzeugend erklärt werden, sondern eher daraus, daß die umgrenzte Bildfläche von einem gleichmäßigen Grau in Grau in der Rhythmik eines zaghaften Schattierstrichs erfüllt ist.
»Der Krötenteich im Vollmond« schließt sich in der Gesamterscheinung eng an den »Steilen Pfad an, nur daß bei ihm ein einfaches Naturmotiv zugrunde liegt, das allerdings durch die enge Vereinigung des monddurchbrochenen Wolkenhimmels mit dem brodelnden Teich einen Zug ins Mythische erhält. Dieser Zug, ins Monumentale gesteigert, gibt auch der »Fütterzeit der Pferde« die fremdartige Wirkungsgewalt, die besonders von bildenden Künstlern regelmäßig stark gefühlt wurde. Es fruchtet gar nichts, nachzurechnen, daß hier mindestens zwei unvereinbare Bildansichten sich kreuzen, nämlich die schematische Oberansicht in bezug auf die runde Futterschale und die beiden unteren Pferde, sowie die radiale Anordnung aller sechs Pferde und andererseits die Profilansicht der vier oberen Pferde. Man muß auf jede realistische Blickpunktseinheit verzichten und sich formalen Bildgesetzen rückhaltlos hingeben können, um der grandiosen Wirkung dieses Blattes ganz teilhaftig zu werden. Gerade in diesem Falle hat die unbefangene Vereinigung von rational Unmöglichem zu einer Gestaltung geführt, die einem kritischen Zeichner kaum gelungen wäre. Der Zwang zu zentraler (dekorativer) Anordnung der sechs Pferde auf dem Blatte hat jede realistische Abbildetendenz unterdrückt. Darin liegt psychologisch gesprochen der Schlüssel zu dem formalen Aufbau der Gruppe. Ob halluzinatorische Anregungen mitgesprochen haben, läßt sich bei diesem Zeichner nicht entscheiden. Er ist vor längerer Zeit gestorben. Doch wird es sehr wahrscheinlich, wenn man die Zeichnungen mit gesicherter halluzinatorischer Grundlage vergleicht (vgl. S. 101 ff.).
Der Kranke, von dem Abb. 42 sechs Blätter wiedergibt, hat Hunderte von ganz ähnlichen silhouettenartigen Figurengruppen gezeichnet und nicht selten an zwanzigmal die gleiche Szene mit ganz kleinen Veränderungen. Fast immer handelt es sich um Soldaten, stets ist die Szene nach oben durch einen schrägen dunklen Streifen abgeschlossen, in dem eine kleine Schattengestalt hellumrahmt erscheint. Man denkt an die Schilderungen mancher Schizophrener, wie die Umgebung ihnen unheimlich verändert vorkomme, die Menschen sich wie Leichen oder Maschinen bewegen. Derartige Stereotypien großen Stils, wie man solche Serienzeichnungen eines Motivs nennen könnte, kommen öfters vor. So hat der Kranke, der die zehn gleichen Wagen, Abb. 43, in Aquarell malte, an einem Tage die Aussicht aus seinem Fenster nicht weniger als 125 mal sauber gezeichnet und angetuscht, ohne daß man bei den letzten Nummern wesentliche Unterschiede von der ersten bemerken könnte. Er neigt von je zu Bilderfolgen und hat sich Dutzende solcher Zyklen von 12 Darstellungen mit Text, jeweils auf einem Aktenbogen, angefertigt. Aus seinen Zeichnungen geht ebenso wie aus den dazugehörigen Texten hervor, daß er zu den ziemlich geordneten Paranoiden gehört, und zwar repräsentiert er eigentlich den Typus des verkannten Erfinders, der komplizierte Maschinen mit endlosen Erläuterungen für Regierungsstellen und Fürsten ausarbeitet. Dabei ist er ein gefährlicher Verbrecher und ein jäh gewalttätiger Mensch, der in einem festen Haus verwahrt werden muß. Abb. 44, »Taten des Herrn Aff«, zeigt, daß er zu echtem Humor und fast geistreichem Witz fähig ist. Auf Abb. 45, die aus der letzten Zeit stammt, behandelt er sein Lieblingsthema, die korpulente Frau mit gewaltigem Busen, in grotesker Weise. Übrigens hat er nach seinen Angaben von je gern gezeichnet, ohne jedoch in seinem Berufe – er war Weber – dazu Gelegenheit zu finden. In seinen Bilderzyklen finden sich zahlreiche Szenen von außerordentlichem Reiz, die von starker Begabung, zumal in der Ausnutzung der von ihm gut beherrschten perspektivischen Mittel sprechen.
Die höchst phantastisch anmutende weibliche Figur, Abb. 46, stammt von einer Patientin, in deren Krankengeschichte auf einen tieferen Sinn ihrer Produktionen nichts schließen läßt. Sie hat nur wenige Blätter geliefert und nur dies eine von einigem Wert. Um so überraschender ist die große Bestimmtheit, mit der diese Buntstiftzeichnung ausgeführt ist, und die fast raffinierte technische Geschicklichkeit, die aus der Perückenkaskade spricht. Aus kleinen Verhältnissen stammend, früh selbständig als Kellnerin, hat sie kaum Gelegenheit gehabt, diese Fähigkeiten durch Übung zu erwerben. Sehr gut ist an diesem Blatt zu verfolgen, wie Formmotive, die zuerst abbildend gemeint sind, während der Arbeit ornamental zu wuchern beginnen und sich nun hemmungslos über das Blatt ergießen.
Der »Pfeifenstopfer«, Abb. 47 und 48, ist eine von den wenigen plastischen Arbeiten, die wir außer den Schnitzwerken des Falles Brendel besitzen. Ein fast 70jähriger Hufschmied schnitzte ihn nach seiner Versicherung, ohne früher je ähnliches gemacht zu haben. Er hatte sich das Holzstück zum Pfeifenstopfer gewählt und wollte es nun ansehnlicher machen, indem er eine Menschenfigur daraus schnitzte. Unten faßte er das Gerät mit einem Blechring ein und gebrauchte es etwa sechs Jahre, wodurch alle Kanten verstrichen sind und eine schöne dunkelbraune Patina sich gebildet hat, die dem Figürchen ein altertümliches Aussehen verleiht. Der kleine Tierkopf oben, von dem Patienten als Hund gedeutet, dient als Handgriff des Drahtes, den man zwischen den Beinen zum Vorschein kommen sieht. Er läuft mitten durch den Körper und wird zum Reinigen der Pfeife benutzt. Der Alte hat dann später zahlreiche Schmuckhäuschen mit Türen und Schubladen geschnitzt, die er in einer Wirtschaft nahe der Anstalt zum Verkauf auslegte. An diesen Häusern nun brachte er häufig übereinanderstehende menschliche Figuren als Kantenverzierung an. Die abgebildete Säule, Abb. 47, fertigte er statt einer solchen spontan entstandenen Kantenleiste an, weil er diese nicht ablösen wollte. Man sieht ohne weiteres, wieviel schematischer die drei Figuren im Vergleich zu dem Pfeifenstopfer sind, und noch leerer erscheint der Griff des Papiermessers, das er ebenfalls in vielen Exemplaren angefertigt hat. Der Pfeifenstopfer bleibt das einzige sehr bemerkenswerte Stück. Nicht nur wegen der bei allem Schematismus lebendigen Durchgestaltung, die der Figur eine außerordentliche Ähnlichkeit mit Werken primitiver Kunst gibt, wobei die Proportionen des Körpers – der Kopf beträgt ein Viertel der Gesamtlänge – und die dünnen, enganliegenden Arme eine Hauptrolle spielen. Sondern die Einzelformen des Kopfes: das vorspringende Untergesicht, der wirkungsvoll schematisierte Kiefer, die Augen – alles das steht primitiver Kunst so nahe, daß mancher Beschauer mit dem Figürchen getäuscht werden konnte. Wir kommen auf diese Beziehungen und besonders auf die beiden seitlichen Vergleichsfiguren der Abb. 48 noch zurück.
Bei einer Reihe von Bildwerken hat man, wie ja auch nicht selten im Umgang mit Schizophrenen, den Eindruck, daß die Urheber mit einer gewissen Freude groteske Verzerrungen der Umwelterscheinungen bevorzugen. Nicht als ob sie etwa einerseits ein realistisches Anschauungsbild pflegten und andererseits von diesem Entstellungen konstruierten, wie der Intellektualist sich das vorzustellen liebt; vielmehr schließt diese Freude am »Verzerrten« eine Abkehr von der schlicht erfaßbaren Umwelt in sich und ein solches Übergewicht von grotesken Anschauungsbildern, daß diese das Vorstellungsleben beherrschen und neben ihnen das Normale eher verblaßt. Wir würden dieses freie Schalten mit einer autonomen Formenwelt in Beziehung setzen zu dem Spieltrieb, in dem wir ja eine Grundtendenz aller Gestaltung erblicken. Damit wäre freilich nur die psychische Einstellung gekennzeichnet, und der tiefer führenden Frage, was denn an substantiell Seelischem sich ausdrücke in einer solchen selbstherrlichen Formenwelt, wäre damit erst der Weg bereitet. Denn uns Heutige hemmt in dem freien Verständnis dieser Probleme vor anderem die Gebundenheit an einseitig-realistische Umweltsauffassung. Recht harmlos wirkt noch das bizarr verzogene Damenporträt, Abb. 49, mit dem puppenhaften Ärmchen. Dieser Zeichner hat zahlreiche derartige Bildnisse mit Farbstiften angefertigt, teils nach Zeitschriften, teils nach Personen in seiner Umgebung. Stets beherrscht ein bestimmter Kurvenzug, der Gesicht und Körper gleichmäßig umfaßt, das ganze Bild – darin liegt der persönliche Stil, wenn man will.
Das stärkste an freiem groteskem Spiel außer dem Plastiker Brendel (S. 123 ff.) hat der ländliche Arbeiter M. aus der Westschweiz geleistet, von dem die Abb. 50 bis 54 stammen. Abb. 50 nennt er »Cannone«. Gemeint ist eine Kuh, in deren Innerem man Magen und Darm als ehrwürdige Muskete erblickt, aus der soeben ein Schuß nach hinten losgeht. Die Kugel, die man fliegen sieht, scheint den erklecklichen äußeren Erfolg synchron zu bewirken. Die Hauptpointe liegt aber darin, daß von dem Abzug der Muskete ein Faden nach einem Vorderfuß verläuft, der also durch Zerren an dieser Schnur die Entladung offenbar herbeiführen muß. Das ist die Methode, mit der Bärentreiber, die vier oder fünf Instrumente gleichzeitig spielen, das an ihrem Rücken angebrachte Schlagwerkzeug zu bedienen pflegen. Höchst absonderlich mischen sich charakteristische Formen der Kuh mit einem Schweinskopf und die Füße gehen gar in arabeskenartiges Blattwerk über, wie es ähnlich den Boden darstellt. – Fast noch skurriler ist der »Hirte, der sich vor seiner Ziege verbeugt«, Abb. 51. Führt der Mann doch seine Verbeugung aus, indem er die Beine biegt, die allerdings ihrer Länge nach mehr einem Storchen, als einem Menschen zukommen. Am eigenartigsten aber ist die freie Verwendung des Ziegenfußmotivs über das ganze Blatt hin. Nicht nur, daß es an den Füßen des Hirten und als Baum- und Strauchwurzel wiedererscheint, sondern es ersetzt sogar die Arme des Mannes und schmückt seine Kniee. Hier sehen wir in nicht mehr zu überbietender Weise die Verwendung eines Formmotivs ohne Rücksicht auf naturgegebene Zusammenhänge. Es ist ein musikalisches, leitmotivisches Verfahren, das sich nur der Realitätsbindung nicht entledigt und die ornamental-dekorative Bindung nicht gefunden hat. Denn in deren Bereich kann ein solches musikalisches Gestaltungsprinzip sehr wohl zu einwandfreien Resultaten führen. – In dem »toten kleinen Mädchen« ist dem Mann mit seiner plump-primitiven Zeichenart ein Blatt von fast erschütterndem seelischen Ausdruck gelungen. Das kärgliche, wie dahinschwindende Körperchen, der große Kopf mit den zerbröckelnden Umrissen und den querparallelen großen mandelförmigen Augen, dazu der üppige Rebenbaum links und Aschenbrödels Pantoffelbaum rechts mit phantastischen Früchten – dies ganze wunderliche Gemisch wirkt irgendwie schlicht ergreifend, obwohl die anschauliche Bindung der drei Motive auf keine gewohnte Weise gelingt.
Ganz ausgeliefert hat sich M. seinen Neigungen zum Grotesken in Abb. 53 und 54. Der erste Kopf ist sozusagen zu einer Paraphrase über das Rüsselmotiv geworden, an dem zweiten wird der Schwarz-Weiß-Kontrast auf die Spitze getrieben, indem nur die Haut schwarz, Schleimhaut und Haare dagegen weiß gezeichnet werden. In den drei übrigen Köpfen aber verliert er sich in tolle Spekulationen über die selbständige Verlebendigung der beiden Gesichtshälften. Kann man bei dem dritten Kopf noch an eine Art Lichtwirkung denken, die eine Hälfte hell, die andere dunkel macht, so löst sich auf Abb. 54 nun tatsächlich ein neues Lebewesen aus der dunklen Gesichtshälfte. An dem linken Kopf überwiegt noch der Gesichtscharakter auch des dunklen Teiles, der freilich einen sonderbaren Körperfortsatz nach hinten treibt, dem spitz ausgezogenen weißen Kinn entsprechend. Dagegen schwindet an dem rechten Kopf der Gesichtscharakter des Ganzen wie der beiden Teile dadurch, daß diese in Beine auslaufen, die sich ineinander verschlingen. Die Kopulationsbedeutung dieses Formenspiels wird von dem Zeichner eigens betont.
Etwas Verwandtes liegt in den beiden Köpfen Abb. 55, obgleich diese technisch auf viel höherer Stufe stehen und vorwiegend abbildend gemeint sind. Der Zeichner war ein sehr kultivierter Privatgelehrter, der als Dilettant recht pedantisch vor allem Köpfe aus Zeitschriften nachzeichnete, bis ihm erst kurz vor seinem Tode dieses Blatt und das folgende, Abb. 56, gelangen. Leider hat er nichts darüber hinterlassen, was er etwa mit diesen starken Schöpfungen hat ausdrücken wollen. Das rätselhafte, dreieckige Stirnmal der Frau, das welke, wie zerfressene Gesicht des Mannes, alles weist darauf hin, daß hier konzentriertes Erleben zugrunde liegt, sei es irgendein Erlebnis des Grauens auf mehr gedanklicher Basis, sei es ein realer Gesichtseindruck mit diesem Gefühlston oder eine echte Halluzination. Jedenfalls ist hier in der Gefühlswirkung der Anschluß an große Kunst erreicht. Man denkt bei dem linken Kopfe an Goya, bei dem rechten vielleicht an Barlach. Für Abb. 56 gibt die Unterschrift die Erlebnisgrundlage an: »Oft Original-Kopf gesehen in E., dagegen der Charakter Mixtum«, und »Dezemberfreude: ich bin dein Tod. Kind aus E. sagt zu mir dabei kopfschüttelnd«. Danach würde, psychiatrisch gesprochen, die illusionistische Umdeutung eines realen Gesichtseindruckes der Zeichnung als Anregung gedient haben. Die unheimliche Wirkung des Kopfes beruht wohl in der Mischung von kindlichen und greisenhaften Zügen.
Sichere Darstellungen echter Halluzinationen sind außerordentlich selten. Wohl liegt es bei zahlreichen Bildwerken sehr nahe, an eine solche Entstehungskomponente zu denken, zumal wenn man geneigt ist, in jeder intensiven und fremdartigen Bildwirkung Ausnahmeerlebnisse zu suchen und den Umkreis des aus freiem Formspiel Gestaltbaren nicht kennt. Ganz sicher belegt, durch wörtliche Schilderung des Kranken, sind die Abb. 119-123 des Falles Neter und Abb. 57. Zu diesem Blatte berichtet die Krankengeschichte: »Anliegende ›Phantasieskizze‹, die er auch ›Luftzeichnungen‹ nennt, eigentlich seien es keine ›Phantasien‹, sie seien schon bei Leuten vor Jahrhunderten gezeichnet gewesen und durch ›Luftzug‹ auf ihn übergegangen, manchmal sehe er sie in der Luft, wenn er sie dann gezeichnet habe, sehe er sie nicht mehr, dann entstehe eine andere Luftentwicklung; sie stammten aus Luftmengen, die nicht mehr existierten; die Luftzeichnungen seien, wenn sie glückten, wie Luft, würden durch Luftzug verweht und gingen auf andere über, die sie wieder zeichneten; er grüble nichts aus, sondern zeichne das, was die Luft bei ihm entstehen lasse; das Bild lasse die Luft entstehen; so ähnlich wie andere Bilder manchmal, der Sumpf lasse auch solche Bilder entstehen; manchmal könne er in diesen ›Luftbildern‹ seine Ahnen erkennen.« Diese Schilderung schemenhafter Erscheinungen erklärt einige auffallende Züge an dem großen Kopfe recht anschaulich. Etwas von gläserner Durchsichtigkeit ist ihm eigentümlich. Darüber hinaus ist jedoch auch die Gestaltung im einzelnen bemerkenswert. Sobald man das Blatt als Kopf erkannt hat, wird man in die Rhythmik des Strichgefüges hineingezogen, das die ganze Fläche wie ein selbständiges Gewächs überzieht. Die Eigenlebendigkeit der Strichzüge überwiegt fast ihren darstellerischen Sinn. In diesem Zug, der in dem Begriff des Ornamentalen nicht ganz zu fassen ist, liegt eine Wesensähnlichkeit mit der Zeichenweise altdeutscher Meister. Aber nun findet der Autor seine besondere Freude darin, die hervorstehenden Hauptteile des Gesichts wie in anderem Material aufzusetzen. Man denkt an jene Gebäckformen, die sich in siedendem Fett bilden, an Darmgeschlinge oder an Geschwüre. Und gerade die Vielfältigkeit dieser in einem Menschengesicht anklingenden Formvorstellungen macht das Grauenhafte des Gesamteindrucks aus.
Ganz ähnlich klingt die Schilderung, die der Zeichner der Abb. 58 von seinen Erscheinungen gemacht hat, ein ungebildeter Tagelöhner und Landstreicher. Er weiß nicht recht, ob es ein Traum war oder ein waches Erlebnis, als ihm solche Gestalten zuerst erschienen. »Ich saß im Bett, da kamen aus dem Wasser lauter solche – wie soll ich denn sagen? – solche Viecher heraus, und da war meine Mutter mit dabei. Das waren so halbe Menschen, halb Tiere; das habe ich ganz deutlich gesehen. Es war wohl Hexerei dabei. Ich denke, daß meine Mutter mich da mit ins Wasser ziehen wollte, daß ich vielleicht auf diese Weise von der Welt gewesen wäre – – wenn ich still hinliegen tue, dann kommt das noch immer hin und wieder zum Vorschein. – In der Luft sehe ich das, so im Halbdunkel am besten.« – Der Kranke hat eine ganze Anzahl ähnlicher Blätter angefertigt, auf denen jedesmal in dem unregelmäßigen Umriß eines großen Steines durch gleichmäßige Schraffierung eine körnige Grundfläche angelegt ist – damit ist also nach der Erläuterung wohl das Wasser gemeint. Von diesem dunklen Grunde heben sich die ausgesparten Figuren hell ab. Sie sind mit höchst unsicherem, dünnem Strich ohne klare Körperteilung angedeutet. Zwischen lagernden oder schwebenden Körpern erscheinen immer stehende kleinere, zwerghafte, mit großen Köpfen, die oft etwas Tierisches an sich haben. Es geht ein schwer zu fassender lasziver Reiz von diesen Gestalten aus. Die beigeschriebenen Gedichte lassen sich meist nicht in verstehbaren Zusammenhang mit den Zeichnungen bringen. Kaum zu bezweifeln ist die halluzinatorische Entstehung der Abb. 160 des Falles Pohl. Sonst sind wir überall auf Vermutungen angewiesen. Abb. 59, ›Der Schreckensüberfall‹, stammt von einem jungen Hebephrenen, der spontan zu zeichnen begann und, von uns ermuntert, auf diesem Blatt darzustellen versuchte, wie er zu Hause am Tisch sitzend die ersten geisterhaften Erscheinungen erlebte. Seine Beschreibungen der Szene waren höchst unergiebig.
Die folgenden vier Bilder sind Aquarelle, die ein alter Dienstmann in der Anstalt malte und schriftlich mit Erklärungen versah. Gerade diese Erklärungen, meist in Form sachlicher Schilderungen gehalten und an alte Chroniken gemahnend, weisen in ihrer wunderlichen Verschrobenheit nach schizophrener Seite, während die Anstalt senile Manie annahm. Der Mann war eines jener Originale, wie sie gerade in Universitätsstädten ein wenig gezüchtet werden. Er dichtete volkstümliche Verse, die er angeblich als fliegende Blätter verkaufte und ›komponierte‹ ganze Hefte voll, d. h. er malte auf fünfzeilige Notensysteme zahlreiche dicke Notenköpfe in mehreren Farben ohne musikalischen Sinn. Halluziniert hat er scheinbar in der Anstalt sehr viel, freilich vorwiegend akustisch. Doch muß man auch für seine Bilder halluzinatorische Erlebnisse in Betracht ziehen. Das Krankheitsbild wird dadurch kompliziert, daß er schwerer Alkoholiker war. Die meisten seiner Aquarelle fallen durch eine miniaturartige Technik auf; er trägt die Farbe gern möglichst trocken, am liebsten in plastisch hervortretenden kleinen Tupfen auf, bevorzugt matte Töne und eine zeichnerische Pinselführung.
Zu Abb. 60, ›Der Wackelfels‹, gehört folgende Erläuterung: »Erklär einen wakelfels (granit) 1868 nah pfingsten besteig den w. im rundgang dicht an Eichstätter chausse; überzeug w. wakel, find stell inmit; breitbeinig gewakelt; zwei türm hoch; 3 furen erd aufgefaren zeug pfingsten halme wie auf insel Helgoland; 6 busch schwarzdorn rings zu schutz angepflanzt; am abhang mir Schwindel; kau'r nider; krig auf viren langsam denselben Weg hinab; treff 2 kunden; 3 nach großstadt Wien; viaticire; weil 1¼ jar keine contition find, empfang dopel viaticum 8 gulde; nachte gasthofs golden krone kein bet, weder hotel, gasthofs noch privat, ist besetzt; dinstmädel zünd latern führ mich in kuhstal, rigel ein; schlumer auf stroh; unrein; mite nacht wek knistergeräusch mich wach; dunkel; fauch mich an; fül nach; greif ein horn; fül rand vom strohut; zer her zer rük; stoß an kethängend balke; laß faren; fres zu kanalie; tubabläser; mein neuer strohut caput morgen pfingstfest, kein lade offen, beest; kein Strohhalm über; schlumer ärgerlich trüb u. bekümert ein; 1. feiertag besuch zoolog. garten, spei ein lama zerkaut heu mit saft on hut gesicht u. augen voll. O. H.«
Danach geht die Anregung zu dem Bild von einer alten Erinnerung an die Zeit der Wanderschaft aus, wie das auch bei mehreren anderen Stücken nachweisbar ist. Ein Hauptreiz liegt außer in der eigentümlich subtilen Aquarelltechnik in dem Aufbau der Landschaft. Da mischen sich in die mehr kindliche Schichtung der Einzelmotive über- und nacheinander rudimentäre perspektivische Kenntnisse – so schwebt die Raumgestaltung fremdartig zwischen ›Richtigkeit‹ und kindlich naiver Fabulier-Unbefangenheit.
Eine andere Gruppe von Bildern des Mannes ist kosmischen Ereignissen gewidmet: Kometen u. dgl. Zu Abb. 61 gehört die »Erklärung über Erduntergang. Am 3. April 2053 infolge zusamenpral des Eiskomet mit Komet Bila Hauptkomet in unbeschreibliche Ferne am westl. Horizont, Sone, Mond, Sterne erbleichen; stürzen senkrecht in endlose Nacht. O. H. Generaldirektor an der Kgl. Nervenklinik.«
Wieweit halluzinatorische Erlebnisse im optischen Bereich bei H. mitspielen, ist nicht sicher. Besonders für die folgenden beiden Blätter lassen sich halluzinatorische Erlebnisse nicht ausschließen. Abb. 62 trägt die Erläuterung: »Disertation über gericht zwischen Himel u. erde finde nur bei gewiter stat; auf Alheiligkeit befel ist-heil. apostel u. misionar kniefälig verhör geleitet; schatenfürst erhebt anspruch an abgefalne, welche grund anklage ihm gehören; durch fürst formel folgen schuldige in leonidenwolke; drin spant geist elektro dem wink, augenblik durch zersprengte erdrinde sele in höle zu fördern; geist magnet eilt elektro schrit; dame ungenant woltätig; eigen ich schleudert sie in höle; wil name wisen? citir im jugendmedium fürst der schaten in seinen körper; rede wahr zu beleren eine virtelstunde; danke für name; frag über citirte auf dem bild; wie lang strafe? frag über dich selbst; folg seinem rat; dan ist kein anteil; ruhe läutert deine sele; befrag über angehörige; grauer Fürst unterhält sich gern; auf befel zeigt er sich; fürchte nichts! befrag über Anstelung; harmlos. O. H. Hypno-Elektro-Magnetiseur.«
Abb. 63 scheint auf praktische Tätigkeit des H. als Magnetopath zurückzugehen. Hier ist der Aufbau des Hauses wie eine Puppenstube, die rein dekorative Anordnung der schematisierten Tannen darüber und die Tupfeltechnik wieder von einigem Reiz. Besonders betont sei, daß die ausdrücklich lila genannten Funken (s. u.) durchaus nicht lila gemalt sind, sondern grün, rot, weiß – selbst bei der Darstellung einer bestimmten Szene setzt sich nicht das Wissen um Einzelheiten durch, sondern diese werden irgendwie im Verlauf der Gestaltung von formalen Komponenten verdrängt, abgelöst, ersetzt. Die Szene mit dem Tier, das den auf dem Sofa sitzenden Mann bedroht oder umarmt, ist nicht geklärt in der zugehörigen »Disertation über Frau Gern. Steh 1886 am bet Frau Gern auf empfel Dr. U. behandelt G.; geb durchsichtig glas; sieht 1 minut drauf; spricht auf befel: ›ich bin müd und möcht schlafen‹ ›du bist müd und möcht schlafen‹ – schlummert – ›dein Körper durchkreis heilsam elektromagnetisch strom‹; augenblik wele har lila funken; schwelen adern, wange rot – »erwach kerngesund zu neuem leben.« –. O. H. Generaldirektor.«