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Das vieldeutige Gebiet der Ausdrucksbewegungen haben Piderit, Darwin, Wundt, später Croce und Kohnstamm dargestellt. In der allgemeinen Psychiatrie hat sich durch Kraepelin der Brauch eingebürgert, die Störungen der Ausdrucksbewegungen als eine Gruppe für sich zu behandeln. Eine geschlossene Ausdruckslehre hat jedoch erst Klages begründet, dem wir uns hier in wesentlichen Stücken anschließen Die Theorie dieser Ausdruckslehre und zugleich ihre Abgrenzung gegen die (außer Piderit) weit abweichenden Vorgänger wird am entschiedendsten gegeben in der soeben erschienenen 2. Aufl. von Ludwig Klages: »Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft. Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck«. Leipzig 1921. Einer Verwertung dieser wichtigen Erkenntnisse in der Psychologie der bildenden Kunst stehen zwar große Schwierigkeiten entgegen, die z. T. in der Vieldeutigkeit des »Ausdrucks«-Begriffes selbst liegen, z. T. in dessen vielfältiger Verquickung mit dem an sich schon komplizierten Gefüge des Gestaltungsvorgangs. Obgleich nun Klages auf dem von ihm theoretisch ausgebauten Gebiet der Handschrift in erster Linie und sodann auf dem der Sprache fußt, so scheinen uns doch seine Schlaglichter nach der bildnerischen Gestaltung hinüber weit erleuchtender zu sein, als die meisten theoretischen Bemühungen von Seiten der Kunstwissenschaft. Man darf gespannt sein, ob die Fülle der Anregungen, die in dem weit angelegten Gedankenbau von Klages steckt, auch nach dieser Seite wieder vorwiegend anonym wirken wird, wie seine grundlegenden Arbeiten auf charakterologischem Gebiet.. Ausdrucksbewegungen haben danach die Eigenart, Seelisches so zu verkörpern, daß es uns unmittelbar, im Miterlebnis gegeben ist. Träger von Ausdrucksvorgängen kann jede motorische Entladung nicht nur im Bereich des willkürlichen Bewegungsapparates sein, sondern ebenso auch im Bereich des vegetativen Systems, also etwa eine reflektorische Erscheinung wie das Erröten. Von der zielstrebigen Armbewegung, der Gebärde, die von Freude oder Zorn hervorgerufen wird, bis zur »Lautgebärde« des Wortes, zum Niederschlag in der Schrift und im Bildwerk – überall erfassen wir schlicht miterlebend, nicht etwa auf rationalem Gebiet über Assoziationen, Individuell-Seelisches.
Mögen Ausdrucksbewegungen auch in allen Lebensäußerungen eine Rolle spielen – sie können an jeder automatischen, oder Trieb- oder Willkürbewegung als eine Seite erscheinen, um mit Wundt zu reden – so gibt es doch ein großes Gebiet, das nur von diesen Ausdruckstatsachen her völlig überschaubar ist: das Reich der Gestaltung, zumal der künstlerischen Gestaltung. Während nämlich im Reiche des Erkennens mittels Begriffsbildung ein Gegenstand durch meßbare Eigenschaften eindeutig beschrieben und in seinen wichtigsten materiellen Faktoren getroffen werden kann, versagt diese allein objektiv genannte Betrachtungsweise, sobald es sich um Ausdruckstatsachen handelt. Man mag einzelne einfachere Ausdruckskomponenten immerhin mit Apparaten einfangen – etwa den Schriftdruck mit Kraepelins Schriftwage – je tiefer das Ausdrucksphänomen im Individuum verankert ist und je höher es als ein Gestaltetes steht, desto machtloser findet sich der mit Maß und Begriff Erkennende ihm gegenüber. Nur ein Narr wird sich einreden, er könne das, was am Tone eines Geigers wesenhaft ist, durch akustische Messung von Schwingungszahlen und Klangfarben bestimmen. Oder gar den Ausdrucksgehalt eines späten, in tiefen Farben glühenden Bildes von Rembrandt durch Nachprüfung mit der Farbenskala.
Wir schließen also zusammen und stellen in Gegensatz zu der Sphäre der meßbaren Tatsachen das Reich der Ausdruckstatsachen, in dem Seelisches unmittelbar erscheint und ohne Zwischenschaltung eines intellektuellen Apparates ebenso unmittelbar erfaßt wird. Und alle Ausdrucksbewegungen sind als solche keinem anderen Zweck wesenhaft unterworfen als dem einen: Seelisches zu verkörpern und damit die Brücke zu schlagen vom Ich zum Du. Daß dies mit Freiheit und Vollkommenheit geschehe, macht offenbar ihren Eigenwert aus. Dazu gehört, daß die Bewegung tatsächlich erfüllt sei mit dem Seelischen, dessen Ausdruck sie ist, und ferner, daß sie bestimmt, womöglich eindeutig gestaltet sei. Die Tendenz aller bewußten Ausdrucksgestaltung: zur Vollendung in der Form zu gelangen, begreift diese beiden Komponenten in sich. Wir finden die Ansätze dazu schon unter ganz einfachen Umständen: beim Kinde, das im Verlauf seines Spieles einen lustigen Tanz erfindet oder eine Kritzelei auf der Tafel entwirft, die dem intimen Kenner sehr wohl nach ihrem Ausdruckswert deutbar ist Für das ganze Gebiet der einfachsten graphischen Niederschläge ist am wichtigsten das Buch von W. Krötzsch: »Rhythmus und Form in der freien Kinderzeichnung. Beobachtungen und Gedanken über die Bedeutung von Rhythmus und Form als Ausdruck kindlicher Entwicklung«. Leipzig 1917. Die Bedeutung dieser Studie an einem Knaben liegt schon in der Grundeinstellung. Es gelingt Krötzsch, die Reflexionen des Erwachsenen so konsequent in zweite Linie zu stellen, daß man in einem sonst selten erreichten Ausmaße das kindliche Gestaltungserlebnis rein und unverfälscht übermittelt bekommt. Dabei arbeitet Krötzsch, wenn auch manchmal in anfechtbarer Terminologie, sehr klar die Hauptprobleme einer Ausdruckspsychologie des Zeichnens heraus, ohne sich auf statistische u. a. Fragen einzulassen, deren breite Behandlung allzuoft die verwertbaren Erkenntnisse gerade in der Literatur über Kinderzeichnen verdeckt.; beim Primitiven, der in seiner Tanzmaske irgendwie sein von magischen und dämonischen Vorstellungen erfülltes Weltgefühl zum Ausdruck bringt und ähnlich bei zahllosen Vorgängen, in denen Seelisches Gestalt gewinnt. Wollen wir uns nun nicht darauf beschränken, die sichtbaren Niederschläge solcher Ausdrucksvorgänge deskriptiv zur Kenntnis zu nehmen, sondern psychologisch in diese Vorgänge selbst eindringen, so müssen wir den Antrieb, um nicht zu sagen die Kraft, benennen, die darin erscheint. Wir sprechen also von einer Tendenz, einem Drang, einem Bedürfnis zum Ausdruck des Seelischen und meinen damit jene triebhaften Lebensvorgänge, die an sich keinem außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck unterworfen, sondern sich selbst genug nur auf Gestaltung ihrer selbst gerichtet sind. Eine theoretische Begründung dieser Meinung kann hier auch im Umriß nicht versucht werden, weshalb wir vorziehen, diese Sätze einfach als zentralen Beziehungspunkt aller Untersuchungen dieses Buches hinzustellen. Auch diese Auffassung vom Wesen der Gestaltung fußt wesentlich auf Klages. Eine Darstellung, die den weitverzweigten Einzeltatsachen künstlerischer Gestaltung in diesem Sinne gerecht würde, gibt es noch nicht, doch wächst neuerdings die Neigung für eine solche Betrachtungsweise.
Mit gutem Grund wird in diesem Zusammenhange auf das substantiell Seelische, das in Ausdrucksphänomenen sich verkörpert und Gestalt gewinnt, nicht eingegangen. Denn dieses umfaßt ohne Ausnahme alles, was irgend in der Seele aktuell werden kann. Welche Rangordnung man den verschiedenen Sphären seelischen Erlebens zuerkennt, das ist wiederum, vom Standpunkte der Gestaltung aus gesehen, durchaus sekundär und von ethischen Maßstäben abhängig. Immerhin sei, um Mißverständnissen zu begegnen, hier noch einmal eigens betont, daß hier nur von unserem Zentralproblem der Gestaltung aus alles dargestellt wird. Dieses würde nicht voll zur Geltung kommen, wenn wir den Verlauf des Gestaltungsvorganges in einem Individuum zugrunde legten und in dem Chaos individuellen Erlebens zunächst sichten wollten, was für künftiges Gestalten wesentlich wäre.
In dem Ausdrucksbedürfnis besitzt alles Seelische gleichsam ein Vehikel, mit dem es aus der persönlichen Enge in die Weite des allgemeinen Lebens gelangt und im Gleichklang mit anderen Menschen sich objektiviert. Aber was wir damit als Ausdrucksbedürfnis benennen, ist ein dunkler triebhafter Drang, der an sich keine eigene Form der Entladung besitzt, wie der Trieb im engeren Sinne. Vielmehr ist er darauf angewiesen, sich anderer triebhafter Äußerungsweisen zu bedienen, die bereits auf bestimmte Verwirklichungsarten angelegt sind Insofern unterscheidet er sich eben von den gerichteten Trieben. Die gehen ihrem Wesen nach auf eindeutige Betätigungen aus, sie sind immanent zweckhaft: Spieltrieb, Nachahmungs-, Geschlechtstrieb. Das Ausdrucksbedürfnis ist nur als allgegenwärtiges Fluidum zu begreifen, wie der Eros. Darum kann man niemanden auch nur von der Existenz eines derartigen Fluidums überzeugen, der es nicht aus unmittelbarem Erleben kennt. Und darum begnügen wir uns mit diesen Hinweisen und wenden uns lieber den Bahnen zu, auf denen es sich kundtut. Dem Ausdrucksbedürfnis, das sich selbst genug in der Gestaltung gipfelt, stehen, wie eingangs schon erwähnt, sämtliche Bewegungsarten und ihre Niederschläge als Bahnen seiner Selbstdarstellung zur Verfügung. Wir beschränken uns hier, da es uns ja nur um die bildnerische Gestaltung zu tun ist, auf jene Äußerungsformen, die sich in der körperlich-räumlichen Sphäre optischer Anschaulichkeit auswirken. Was wir zu benennen trachten, sind wiederum die Wurzelbereiche dieser Äußerungsformen in der Sphäre der vitalen Vorgänge, wobei wir auf wohleingebürgerte Bezeichnungen stoßen. Dabei sind wir uns voll bewußt, dem fließenden lebendigen Geschehen einen Schematismus aufzulegen, glauben aber mit diesem Schema (s. u.) eine Art Hierarchie der triebhaften Gestaltungsgrundlagen zu geben, die Wesenhaftes verdeutlicht.
Eng benachbart dem zentralen Ausdrucksbedürfnis und ihm darin verwandt, daß sie noch kaum durch Objekte determiniert sind, scheinen nur zwei solcher Triebe, Dränge, Bedürfnisse (auf die Wahl des Wortes kommt hier wenig an) nämlich der Spieltrieb und der Schmucktrieb. Beide hat man denn auch gern als Ursprungsgebiet der Gestaltung angesprochen. Ausdrucksbedürfnis, Spieltrieb und Schmucktrieb schießen zusammen in dem Gestaltungsdrang, der nun rein, ohne irgendeine Bindung an formale Tendenzen, in den objektfreien ungeordneten Kritzeleien (vgl. S. 57) sich niederschlägt. Diese selten beachteten, an sich wertlosen zeichnerischen Produkte genauer zu analysieren, ist aus theoretischen Gründen recht lohnend, wie wir zeigen werden. Bemächtigt sich die Ordnungstendenz, der wir wiederum triebhafte Bedeutung zusprechen, der Formelemente einer solchen Kritzelei, so sind schon die wesentlichen Komponenten von Ornamentik und Dekoration gegeben, während der von der Theorie allzusehr mißbrauchte Nachahmungstrieb zur abbildenden Darstellung führt. Unter dem Symbolbedürfnis begreifen wir alles das, was das primitive Denken von dem auf rationale wissenschaftliche Erkenntnis gerichteten unterscheidet. Der ganze Umkreis magischer Denkweise gehört dahin, die ja – wie man heute wieder zu bemerken beginnt – keineswegs den »Primitiven« vorbehalten ist, sondern auch heute ihre Macht noch nicht verloren hat, und in der Kirche zumal unter anderem Namen offiziell gepflegt wird (vgl. S. 37 f.). Abstrakte symbolische Darstellungen können rein aus den Formelementen der Kritzelei und dem Symbolbedürfnis abgeleitet werden, wenn sie sich auch meist mit Ordnungstendenz verschwistern (z. B. in der Sakralkunst) und dann auch Abbilder bald einbeziehen. – Daß ein sonst neutrales »Zeichen« Bedeutungsträger für einen Sinn wird, der nicht anschaulich mitgegeben ist, sondern in Abkommen und Tradition beruht, bietet dem Mitteilungsbedürfnis einen Anknüpfungspunkt. Hier wäre also psychologisch die Entstehung der Schrift anzusetzen, während man aus abbildender Darstellung im Dienste einer Mitteilungstendenz leicht didaktische Kunst, Genre- und Historienmalerei entwickeln kann.
Eines soll aus dieser graphischen Skizze der sechs Wurzeln der bildnerischen Gestaltung und den kurzen Erwägungen dieses Abschnittes vor allem klar werden: daß man auf keinen Fall einen »Ursprung der Kunst« in historischem Sinne jemals wird nachweisen können. Es gibt nicht »Kunstwerke«, wie es Steinbeile und Pfeilspitzen gibt – die sind als zweckbestimmte Werkzeuge entweder vorhanden oder nicht, und alles weitere ist eine Frage der Technik. Der Gestaltungsvorgang, der in einem Kunstwerk von heute sich verwirklicht, wird gespeist aus sehr verschiedenartigen seelischen Bezirken. Und seine Quellen brauchen nicht alle zusammengeflossen zu sein, ehe sie den Namen Gestaltung verdienen. Vielmehr könnte man das Gleichnis so einkleiden: wie sickerndes Wasser im Boden zutage drängt und in vielen Quell-Läufen zum Strome rinnt, so drängen und rinnen Ausdrucksimpulse auf vielen Gestaltungsbahnen zu dem großen Strome der Kunst. Historisch wie psychologisch-theoretisch kein Anfangspunkt, sondern weite Quellgebiete, die schließlich alles Lebendige durchdringen.