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A. Einleitung

I.

Von »Irrenkunst« hat die Öffentlichkeit in letzter Zeit einige Male gehört, von »Kunst der Geisteskranken«, von »pathologischer Kunst« und von »Kunst und Wahnsinn«. Wir verwenden alle diese Ausdrücke nicht gern. Das Wort Kunst mit seiner festen affektbeladenen Bedeutung schließt ein Werturteil ein. Es hebt gestaltete Dinge vor ganz ähnlichen heraus, die als »Nichtkunst« abgetan werden. Da nun die Bildwerke, um die es sich handelt, und die Probleme, zu denen sie führen, durchaus nicht wertend gemessen, sondern psychologisch erschaut werden, so schien es passend, den sinnvollen, aber nicht gerade üblichen Ausdruck: »Bildnerei Diese Wiederbelebung des wenig mehr gebrauchten, aber sinnvollen und schönen Wortes »Bildnerei« bedarf eigentlich kaum einer Rechtfertigung. Immerhin seien für Leser, die zunächst über das ungewohnte Wort stutzen, einige Hinweise gegeben, die es ihnen erleichtern werden, sich mit dem Terminus zu befreunden. Wenn man heute geneigt ist, Bildnerei ausschließlich als »Bildhauerei« zu verstehen, so entspricht das in der Tat der ursprünglichen Bedeutung des Zeitwortes »bilden«. Noch Winkelmann vermerkt, das »Bilden« sei auf Farbe, Leinwand und Pinsel weniger gerecht, obschon der Maler ein Bild und Bildnis male. Aber in der klassischen Literatur findet sich doch die Verwendung des Wortes in dem weiteren Sinne bei Klopstock, Wieland, Goethe, Schiller, Bürger u. a. (Lessing: Wie die Alten den Tod gebildet z. B.), so daß Grimm zusammenfassend sagt: »begreiflich entwickelt sich aus jenem künstlerischen Bilden des Holzes oder Steines die allgemeine Bedeutung des Darstellens überhaupt«. Und Sanders (Wörterbuch der deutschen Sprache) definiert kurzweg: »Bildner = ein Bildender, namentlich insofern es sich um künstlerisches Bilden handelt«, und ferner: »Bildnerei = die Tätigkeit und das Werk des Bildners«. Gerade die einheitliche Bedeutung der meisten von dem gleichen Stamme abgeleiteten Wortformen macht den Terminus besonders tragfähig. Betont wird durch die Benennung aller »Gebilde«, die im Sinne der »bildenden Kunst« produziert werden, als »Bildnerei«, daß über die Wertung solcher »Bildwerke« unter dem herkömmlichen Begriffe der »Kunst« noch nichts ausgemacht ist. der Geisteskranken« für das außerhalb der psychiatrischen Fachwissenschaft bislang fast unbekannte Gebiet festzuhalten. Gemeint ist damit alles, was Geisteskranke an räumlich-körperlichen und flächenhaften Gebilden im Sinne der Kunst hervorbringen.

Die Mitteilungen über solche Arbeiten Geisteskranker, die bisher veröffentlicht wurden Über den größten Teil der Veröffentlichungen von psychiatrischer Seite wird kritisch referiert in: Prinzhorn: »Das bildnerische Schaffen der Geisteskranken«, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 52, 307-326. 1919. Die erst später meist durch freundliches Entgegenkommen der Autoren zugänglich gewordene italienische Literatur enthält noch einige gute Einzelstudien. Auch aus England und Amerika vermochten wir einige Arbeiten zu erhalten, die aber wenig Wichtiges brachten., waren meist nur für Psychiater bestimmt und bezogen sich auf wenige Fälle, wie sie im Laufe der Jahre jedem Psychiater einmal begegnen. Ausblicke auf allgemeine Probleme enthält besonders die auch außerhalb der Fachliteratur häufig erwähnte Studie von Mohr Mohr: »Über Zeichnungen von Geisteskranken und ihre diagnostische Verwertbarkeit«. Journal für Psychologie und Neurologie Bd. 8. 1906. Das kleine Buch von Rèja: »L'Art chez les fous«, Paris 1907, ist ein gewandter Essai über das ganze Gebiet, einschließlich der Poesie, geht aber den Problemen psychopathologischer wie kunsttheoretischer Art aus dem Wege. Morgenthaler hat phylogenetische Gesichtspunkte für die Vermischung von Zeichnen und Schreiben anzuwenden versucht. Schilder ging in seiner Studie »Wahn und Erkenntnis«, Berlin 1918, über die reine Beschreibung hinaus, indem er mit Hilfe von Zeichnungen solchen seelischen Vorgängen bei Geisteskranken näher zu kommen versuchte, die in enger Parallele mit der Denkweise der Primitiven stehen. Die entscheidenden Anregungen zu solchen vergleichenden Studien gehen freilich von Freud, Jung und ihren Anhängern aus, richten sich aber nicht auf bildnerische Gestaltung, sondern auf die Verwandtschaft heutiger individualpsychologisch wichtiger Seelenvorgänge mit der Symbolik in Mythos, Märchen, Ritus und Volksbrauch. Wir kommen auf dieses Problemgebiet, das wir aus mehreren Gründen in diesem Buche meiden, obwohl wir es mehrmals streifen werden, an einer anderen Stelle nochmals zurück (vgl. Anm. 31).. Stets wurde mit Bedauern eine Sammlung großen Stils vermißt, die erst Gelegenheit bieten würde, Fragen aller Art an reichem Vergleichsmaterial zu untersuchen, wodurch allein man der Gefahr entginge, aus wenigen zufällig gefundenen Einzelfällen vorschnell zu verallgemeinern. Solche Einzelfälle sind wohl in jeder älteren Heilanstalt bekannt. Vielfach haben sie Anlaß gegeben, ein kleines Museum zu begründen, oder sie sind den schon bestehenden Museen angefügt worden, in denen Brotknetereien, Papierklebereien, Ausbrechinstrumente und Abgüsse von abnormen Körperbildungen ein wenig im Stile alter Raritätenkabinette zur Schau stehen. Manche älteren Psychiater besitzen auch kleine Privatsammlungen. Das scheint in Frankreich besonders üblich zu sein. Lombroso Die Sammlung Lombrosos ist an das Instituto di Medicina legale der Universität Turin übergegangen, dessen Direktor Prof. Carrara die Heidelberger Sammlung durch Stiftung von Photographien und Publikationen zu Dank verpflichtet hat. hatte seinerzeit wohl die größte Sammlung zustande gebracht. Er berichtet von 57 bildnerisch tätigen Kranken, unter denen freilich manche Künstler waren. Umfangreichere Sammlungen wurden ferner in der Anstalt Waldau bei Bern von Morgenthaler (77 Fälle), in Konradsberg bei Stockholm von Gadelius und in London von Hyslop angelegt, wobei man sich allerdings auf das zufällig in der eigenen Anstalt vorhandene Material beschränkte.

Die Bildersammlung der Psychiatrischen Klinik in Heidelberg dagegen verwirklicht jenen von Fachgenossen oft geäußerten Wunsch: wir haben Arbeiten von rund 450 Fällen mit gegen 5000 Nummern aus Deutschland, Osterreich, Schweiz, Italien, Holland vereinigt und stehen mit dem übrigen Ausland, auch über See, in Verbindung. Es ist nicht übertrieben, wenn wir behaupten, daß dieses Material allen vernünftigen Anforderungen entspricht und für jede Fragestellung eine Fülle von geeigneten Studienobjekten bietet. Den Ausbau gedenken wir vor allem nach der internationalen Seite weiter zu betreiben. Bis auf wenige Ausnahmen haben alle Fachgenossen, zu denen wir in Beziehung standen, die gemeinsame Sache über ihre Besitzerfreude gestellt – die freilich gerade bei den Ausnahmen durch Unkenntnis des eigenen Besitzes noch suspendiert war. Dafür wird den Stiftern mit uns jeder Besucher und gar jeder Bearbeiter der Sammlung dauernd Dank wissen. Die Katalogisierung, auch nach formalen und inhaltlichen Spezialgesichtspunkten, ist durchgeführt. Von allen wichtigeren Fällen liegen die Krankengeschichten für wissenschaftlichen Gebrauch in Abschriften bereit. Auch das Vergleichsmaterial aus verwandten Gebieten (Bildnerei der Kinder, der Primitiven, gesunder Erwachsener u. a.m.) wächst langsam an. Leicht kann die Sammlung der Mittelpunkt und die tragfähige Grundlage für zahlreiche psychopathologische Probleme werden, die seit Jahrzehnten in steigendem Maße Psychiater, Psychologen und Kunsttheoretiker gefesselt haben, und heute wohl durch die Entwicklung der Zeitläufte auf dem Gipfel des Spannungszustandes angelangt sind Dem Direktor der Klinik Prof. Wilmanns, mit dem gemeinsam der Verf. die Bildersammlung errichtet und ausgebaut hat, gebührt auch an dem Zustandekommen dieses Buches ein erhebliches Verdienst. Hat er doch durch Entlastung von der klinischen Arbeit und fast unbeschränkte Beurlaubung zu Arbeitszwecken erst die Möglichkeit zu den ausgedehnten Reisen und Studien gegeben, die erforderlich waren. Nicht weniger sind wir den Kollegen zu Dank verpflichtet, die sich nicht sträubten, die Mehrbelastung mit klinischer Arbeit durch Monate auf sich zu nehmen. Mögen sie von dem Resultat ihres Opfers nicht zu sehr enttäuscht sein.
Vielleicht ist es gut, die Geschichte der »Bildersammlung der Psychiatrischen Klinik Heidelberg« hier kurz niederzulegen. Als Verf., aus dem Felde zurückkehrend, im Winter 1918/19 in die Klinik eintrat, hatte Prof. Wilmanns bereits einige Zeichnungen Geisteskranker aus der Klinik bereitgelegt und bot sie zur Bearbeitung an. Es waren mehrere Hefte und Einzelblätter, die man schon länger aus den Krankengeschichten entnommen und nach Diagnosen geordnet, mit Schriftproben zusammen in der Lehrmittelsammlung aufbewahrt hatte. Der Plan, dies Material einmal zu bearbeiten, war zumal von Prof. Wilmanns wiederholt erwogen worden. Verf., der bei der ersten Besprechung 1917 schon betont hatte, daß ihn in erster Linie das Grenzgebiet zwischen Psychopathologie und künstlerischer Gestaltung fessele, lehnte den Vorschlag zuerst ab, weil das Material zu knapp und belanglos sei, gab aber dann brieflich zu erwägen, ob man nicht von anderen Anstalten so viel Material bekommen könne, daß die Arbeit sich verlohne. Darauf wurde zunächst an persönlich bekannte Anstaltsleiter ein Rundschreiben gesandt, das sogleich überraschend guten Erfolg hatte, indem einige der schönsten Fälle gestiftet wurden. Diese persönlichen Beziehungen des Direktors ebneten auch weiterhin die Wege. Nachdem Verf. seinen Plan, das ganze Gebiet auf breitester Grundlage aufzurollen, gegen den ersten Plan durchgesetzt hatte, demzufolge verschiedene Bearbeiter Einzelfälle mehr in klinisch-kasuistischer Form hätten publizieren sollen, widmete er dem Ausbau des Unternehmens zwei Jahre hindurch den größten Teil seiner Tätigkeit. Auf Reisen von Anstalt zu Anstalt wurde weitergesammelt, durch Vorträge und Aufsätze geworben, Privatmittel flüssig gemacht. Das vorhandene Material wurde, soweit es bei den knappen Mitteln möglich war, durch Aufziehen und Einkleben in Passepartouts geschützt. Eine ausführliche Katalogisierung auch nach formalen und inhaltlichen Sondergesichtspunkten wurde durchgeführt, die Anordnung der Bildwerke auf dem engen verfügbaren Raum geregelt, so gut es ging. Alle diese Dinge fanden verständnisvolle Unterstützung durch den Direktor. Allein verantwortlich ist Verf. jedoch für die Problemstellung, besonders soweit sie vom Boden der Psychiatrie auf andere Gebiete führt – also für alles, was in diesem Buche steht und in Vorträgen gesagt wurde.
An dieser Stelle sei auch noch der Anstalten gedacht, denen wir zu danken haben für das hier verwertete Bildermaterial, für Krankengeschichten und Auskünfte über die Kranken, die oft nicht ohne persönliche Mühe der Anstaltsleiter und Ärzte zu beschaffen waren. Es sind dies die Anstalten: Eickelborn, Lindenhaus-Lemgo, Eglfing, Haar, Weissenau, Rottenmünster, Schussenried, Weinsberg, Tübingen, Tannenhof, Klingenmünster, Wiesloch, Emmendingen, Konstanz-Reichenau, Haina, Kennenburg, Eberswalde, Schwetz, Dösen, Langenhorn, Neufriedenheim, Obersendling, Göttingen, Hubertusburg, Sonnenstein, Strecknitz, Kreuzungen, Münsterlingen, Herisau, Wil, Waldau, Münsingen, Schaffhausen, Werneck, Erlangen, Bayreuth.
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Über Art und Herkunft unseres Materials sei hier nur soviel gesagt: Es handelt sich fast ausschließlich um Arbeiten von Anstaltsinsassen, also von Menschen, an deren Geisteskrankheit kein Zweifel möglich ist; und zweitens um spontane Arbeiten dieser Kranken, die ohne jede Aufforderung von irgendeiner Seite aus eigenem Bedürfnis entstanden sind; und es handelt sich drittens ganz überwiegend um Kranke, die im Zeichnen, Malen usw. ungeübt waren, also außer ihrer Schulzeit keine Unterweisung genossen hatten. Demnach bilden den Inhalt der Sammlung hauptsächlich: spontan entstandene Bildwerke ungeübter Geisteskranker.


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