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19.
Die drei Musterknaben des Herrn Pastor Eggeling

Der Pastor Wilhelm Eggeling in Ahlenstedt suchte wieder einmal seine drei Söhne und konnte sie nicht finden. Dieses ereignete sich bei ihm täglich mindestens zwei Mal, und es wird auch wohl bei allen Landpfarrern so sein, die Söhne haben; sie sind niemals da, wenn sie Schularbeiten machen oder in's Bett gehen sollen. Die Fähigkeit dieser Knaben, gerade dann dort zu sein, wo sie niemand sucht, ist völlig rätselhaft und wird kaum jemals aufgeklärt werden. Dieses Welträtsel wird selbst Häckel nicht lösen.

Es war ein schöner, reifer, satter Septembertag, so einer, bei dem jeder, der gern jung gewesen ist, unwillkürlich an saftige, reife Äpfel denkt. Es riecht in der Erinnerung so wundervoll herbe nach spätem Gras und feuchtem Moos, und man beißt in Gedanken durch die köstliche, duftende Schale in einen rosigen Apfel hinein, so recht rücksichtslos und frisch drauf los, wie es die göttliche Jugend immer macht. Später beißt man in nichts mehr so keck hinein, weder in einen Apfel noch in etwas anderes. Das wird alles erst vorsichtig besehen und abgeputzt und geschält; das ist zwar sicherer, aber es schmeckt nicht halb so gut. Man holt sich auch die Äpfel nicht mehr selbst vom Baume, obgleich diese gerade am besten schmecken.

Man ist behutsam, lebensklug und abgeklärt geworden!

So nennt man das nämlich.

Diese lebenskluge Abgeklärtheit ist in der Tat unendlich viel wert, aber, wenn einmal so eine ehrliche Erinnerung kommt, dann möchte man doch noch einmal wieder in einen Apfelbaum steigen und gleich da oben in einen frischen, natürlichen Herbstapfel durch die Schale hindurchbeißen.

Im Ahlenstedter Pfarrgarten roch es so herrlich nach Obsternte und nach dem ersten fallenden Laube, und von dem Grase, das ein wenig stark mit Moos vermischt war, stieg ein reiner, herber Duft auf.

Pastor Eggeling suchte jeden Winkel seines großen Gartens ab, aber kein Gottfried, kein Gottlieb und kein Gotthold war zu erblicken. Die drei waren wieder einmal dem Zauber dieses wundersamen Pfarrgartens völlig unterlegen, wie sich der Vater mit Kopfschütteln sagen mußte.

Ihre Spuren freilich fand er überall.

Hier lag noch eine umgestülpte Hohlkarre, mit der sie gestern Drehorgel, Leiermann und Affe gespielt hatten, nachdem sie etwas ähnliches von einem Fahrenden im Dorfe gesehen hatten.

Gottfried war der Anführer, Vorsänger und Erklärer und erfand dabei die wildesten und überschwänglichsten Geschichten. Gottlieb mußte an der Orgel die Leier drehen, wozu das Karrenrad bestimmt war, das heftig quietschte, weil es wie gewöhnlich nicht geschmiert war. Die Töne, die hierbei entstanden, schienen einem übermodernen symphonischen Orchester zu entstammen. Gottlieb mußte außerdem in den verschiedensten Takt- und Tonarten fortwährend »mtata mtata« dazu machen, was sich niemand als sehr leicht vorzustellen braucht, denn es gehört Ausdauer und Phantasie dazu. Diese zuletzt genannte schöne menschliche Eigenschaft wird sich demnächst nur noch bei spielenden Kindern finden; sogar den Dichtern ist es von den Kritikern, den Verlegern und dem Publikum verboten, Phantasie zu haben.

Gotthold endlich wurde als Affe oben auf die Karre gesetzt und fest angebunden, damit er nicht weglaufen konnte, wozu alle Affen eine wesentliche Neigung haben. Er mußte dabei fortwährend als Affe Äpfel essen und die Zähne fletschen, wobei ihm besonders das letztere vermöge seiner natürlichen Veranlagung sehr leicht wurde. Die Äpfel mußten ihm die befreundeten Altersgenossen aus dem Dorfe einhändigen, die das dankbare Publikum bildeten. Außerdem mußte der Affe Gotthold seine Mütze hinhalten und Geld einsammeln. Er bekam aber keins. Im wirklichen Leben pflegen allerdings die größten Affen das meiste Geld zu bekommen.

Nachdem Gotthold etwa zwei Stunden lang Äpfel gegessen und die Zähne gefletscht hatte, konnte oder wollte er nicht mehr. Sein gewalttätiger Bruder Gottfried, der einen ungerechtfertigten Widerstand vermutete, ließ ihn jedoch von seiner Affenpflicht nicht los und zwang ihn unter den haarsträubendsten Drohungen, die jeden Erwachsenen vor die Strafkammer gebracht hätten, weiter zu essen und zu fletschen. Auch die ärgsten Ankündigungen von Leibschmerzen und deren befreienden Folgen halfen dem armen Leiermanns-Affen nicht. Gottfried verstieg sich zu der im höchsten Grade anfechtbaren Behauptung:

»Ein richtiger Affe kriegt überhaupt keine Leibschmerzen!«

So schleppte sich der Betrieb noch ein Weilchen hin; als aber auch Gottlieb bald darauf sich weigerte, das Rad mit seinem symphonischen Gequietsche und dem vielseitig-eintönigen »mtata« zu drehen, erklärte Gottfried plötzlich mit verdächtiger Schnelligkeit, die ganze Orgelei sei überhaupt langweilig.

Er ging mit Gottlieb auf und davon zu anderen Taten.

Den armen Gotthold ließen sie angebunden auf der Karre zurück; er konnte nicht los und fletschte nun vor Zorn und Kummer die Zähne. Zuletzt fing er außerordentlich an zu wüten, drehte rachsüchtig das Karrenrad ab und riß sich mit Gewalt los, wobei das halbe Hosenbein als Rest seiner talentvollen Affentätigkeit hängen blieb.

Wilhelm Eggeling hob die Karre auf und versuchte das Rad zu befestigen. Er brummte halb lachend dabei und seine Gedanken suchten nicht nach dem üblichen Stocke. Das traurige Ereignis des letzten Winters hatte bei ihm und seiner Gattin Sinn und Art in vielem umgewandelt; er hatte Einkehr gehalten und war mit sich zu Rate gegangen. Sein Nachbar Rautenstrauch hatte in mancher Nachmittagsstunde mit ihm gesprochen, und er hatte sich zuletzt dessen Rat und Wissen in so manchem gebeugt.

So war Friedas Ende nicht vergeblich gewesen. Ihr Leid war den Eltern und den Geschwistern zu Gute gekommen.

Am höchsten Apfelbaume des Gartens stand eine Leiter. Sollten die drei trefflichen Knaben da oben in den Zweigen stecken?

Er sah spähend hinauf. Nein, da oben waren sie nicht. Nur in der höchsten Spitze, von der es völlig unbegreiflich erschien, wie ein Mensch dahin kommen konnte, hing in träumerisch-behaglicher Verlassenheit ein Apfelkorb und bewies, daß da oben dennoch ein Mensch gewesen war.

»Kaum ein Eichkätzchen kann dahin klettern«, dachte der Pastor.

Daß es Gottfried dennoch fertig gebracht hatte, wußte er sehr genau. Gottfried konnte alles, nur die unregelmäßigen lateinischen Verba nicht, in deren köstliche Schönheiten ihn sein Vater mit hartnäckiger Gewalt einweihen wollte. Er konnte auch nicht Klavier spielen, was ihm seine Mutter durchaus beibringen wollte, um, wie sie sagte, seine urwaldartigen Sitten zu zähmen.

»Morgen holt er den Korb wieder herunter«, brummte der Seelsorger. »Gegen diesen Bengel ist ein Eichhörnchen ein gichtkranker Greis!«

Dort hinten auf dem Kartoffelacker hatten sie sich aus Bohnenstangen, Erbsenstiefeln, Kartoffelstroh und ähnlichen Sachen, die geeignet sind, ein richtiges Kindergemüt in jahrelanges Entzücken zu versetzen, eine Hütte gebaut, die sie als Indianerwigwam bezeichneten. Dann hatten sie vor drei Tagen einen Dorfjungen »geraubt« und ihn, nachdem sie ihn einen halben Nachmittag im Wigwam gefesselt hatten liegen lassen, an den nächsten Baum gebunden. Dieser Geraubte war der maßlos dicke Wilhelm Höltje, von dessen Mutter die klugen Dorfweiber erzählten, daß sie sich an dem fettesten Schwein ihres Stalles versehen habe.

Den Gefangenen am Baume hatten sie dann, wie Gottfried als Sachkenner äußerte, mit »Pfeilen gespickt«, indem sie ihn mit ihren Flitzbogen beschossen. Sie waren jedoch so vorsichtig gewesen, über Kopf und Gesicht ihres Opfers einen alten Kartoffelkorb zu stülpen, was sehr gut aussah und außerdem Höltjes von Wut und Jammer schweißtriefendes Gesicht mit Staub und Erde bedeckte.

Als der Dicke genug »gespickt« war, hatten sie ihn losgebunden, und Gottfried hatte ihn mit den befehlenden Worten entlassen:

»So, Höltje, Du bist nun tot! Du kannst nach Hause gehen. Wir haben Dich totgespickt!«

Als Indianer und Wigwambesitzer sprach Gottfried hochdeutsch, während es ihm sonst nie einfiel, mit den Dorfjungens anders als in seinem geliebten Platt zu sprechen.

Der fette Wilhelm Höltje war mancherlei gewohnt, besonders von den drei Eggelings. Heute war es ihm aber doch zu arg gewesen und er schrie nach Rache.

Gottlieb war mit der Entlassung noch nicht einverstanden gewesen, sondern hatte gemeint, man müsse den erlegten Feind doch erst als Siegesmahl verzehren. Gottfried jedoch wehrte ab.

»Nein, ein Apache ist kein Menschenfresser! Ihr versteht das blos noch nicht. Außerdem ist dieser viel zu fett!«

In dem Apachenwigwam fand Pastor Eggeling seine wunderlieblichen Knaben ebenfalls nicht. Unbegreiflich. Er rief. Keine Antwort. Natürlich nicht. Sie antworteten niemals, wenn sie dachten, er wolle sie zu den Schularbeiten rufen. Sie waren dann plötzlich vorübergehend auf beiden Ohren taub geworden. Ein seltsames Phänomen, allen Ohren- und Schulärzten zur Beachtung empfohlen!

In der Erntezeit war es der hoffnungsvolle Vater freilich gewohnt, daß sie mit irgend einem Erntewagen halbe Tage lang umherfuhren und den dankbaren Bauern, die schon deshalb ihre Pastorenjungens außerordentlich hoch schätzten, Knechte sparten. Aber jetzt, wo nichts zu fahren war, – seltsam! Freilich, man konnte nie wissen, was sie ersannen. Sie waren so unerschöpflich und erfinderisch, und seit der Sinnesänderung ihrer Eltern hatten sie eine so glückliche Zeit, daß sie alle drei überhaupt nicht begreifen konnten, wie sich jemals ein Mensch glücklich fühlen könne, der nicht als Sohn eines Landpfarrers, insbesondere eines braunschweigischen, geboren sei und in einem Pfarrgarten aufwüchse.

Der Suchende erwartete sein Heil nun auf dem Hofe. Er mußte sie finden, denn sie sollten keine Schularbeiten machen, sondern durchaus noch einen Botengang zu Rautenstrauchs in Drömlingen tun.

Öde und leer war auch der Hof. Nur die Herbstsonne kramte und spielte in den Ecken umher.

Halt! Dort, die Tür des Holzstalles stand halb offen. Das war ein verdächtiges, ein fast sicheres Zeichen, daß sie darin gewesen waren oder sich noch dort aufhielten, denn gegen das Türzumachen hatten sie wie fast alle Menschen eine unbegrenzte Abneigung.

Nicht ohne eine gewisse gespannte Erwartung ging der Pastor in den Holzstall. Tiefe Stille. Es roch nur nach zersägtem und gespaltenem Buchenholz.

Er rief halblaut, auf der Schwelle stehend, den Heerführer: »Gottfried!«

Wahrhaftig, da regte sich etwas in der dunkelsten Ecke, da wo das neue Splitterholz demnächst lagern sollte.

»Gottfried!« rief er lauter.

Ein eigentümlicher Ton antwortete, der wohl am ersten als eine Art Fauchen zu bezeichnen war; es klang sehr langgezogen und durchaus abweisend. Dann brütete wieder tiefe Stille.

Der Pastor schüttelte halb lachend, halb ärgerlich den Kopf und näherte sich der dunklen Ecke.

Ein verstärktes, mehrfaches Fauchen ließ ihn unwillkürlich zurückprallen, und das war gut, denn er war im Begriffe gewesen, einen der drei aus Versehen im Halbdunkel auf den Kopf zu treten.

Es ließ sich nämlich durchaus nicht leugnen, daß die drei göttlichen Knaben in der dunklen Holzstallecke lagen.

Der glückliche Vater betrachtete sich jetzt, so gut es ging, den Tatbestand. Die Söhne lagen lang auf dem Boden, mit den hellen Köpfen nach auswärts, die sechs Beine wie in einen wirren Knäuel verstrickt. Sie rührten sich durchaus nicht und machten keine Anstalten, sich zu erheben.

»Was fällt Euch ein, Jungens! Was macht Ihr hier? Steht auf!«

Keine Bewegung, nur abwehrendes Fauchen.

Der Pastor wußte immer noch nicht, ob er lachen oder schelten sollte.

»Was ist das wieder für ein neuer Unfug? Vorwärts, aufgestanden!«

Äußerst feindseliges Fauchen. Nur geringe Bewegung der zusammengeknäulten Beine.

Der väterliche Tonfall wurde etwas eindringlicher.

»Jetzt ist's genug mit den Dummheiten! Vorwärts, aufstehen, oder ich helfe Euch!«

Der kleine Gotthold, der am eifrigsten war, versuchte noch ein grimmiges Fauchen, bekam jedoch dafür einen Rippenstoß von Gottfried, der jetzt den Kopf aufhob, um zu antworten, denn er entnahm aus dem Tonfall des Vaters, daß es jetzt die höchste Zeit dazu sei. Wenn auch der Vater im allgemeinen friedfertiger und verständnisvoller geworden war, so durfte man ihn doch nicht zu sehr reizen und ihm leichtsinniger Weise zu viel Vertrauen schenken. Rückfälle konnten sich sehr leicht einstellen, wie die Erfahrung gelehrt hatte.

»Aufgestanden!« rief der Vater schon wieder, und es klang bedenklich rückfällig.

»Ja«, sagte Gottlieb mit ächzender Fassung, »wenn das nur gleich so schnell ginge, Vater!«

»Warum nicht? Sag' mir um alles in der Welt, was dies hier wieder zu bedeuten hat?!«

»O, es ist weiter gar nichts, Vater. Wir haben uns man blos die Füße ein bißchen zusammengebunden. Mit den Schuhbändern, alle sechs Füße, weißt Du, alle zusammen und durcheinander. Kuck mal hier« – – –

Die verknäulten und verwirrten Beine rappelten und regten sich, aber es war tatsächlich keine Möglichkeit vorhanden, daß sie auseinandergingen.

»Seid Ihr denn eigentlich völlig verdreht geworden?« rief der Pastor händeringend.

»Nein, gar nicht, Vater! Weißt Du, fein geht das. Wir liegen schon eine Stunde hier, und wenn was kommt, dann fauchen wir. Vorhin war Rike hier und wollte Holz holen. Sie hat aber keins gekriegt. Gesehen hat sie uns nicht. Wie wir gefaucht haben, ist sie weggelaufen und hat geschrieen: Es spukt, es spukt!«

»Jungens, Jungens!« klagte der Pastor halb lachend, halb scheltend.

»Au, Vater, fein geht das! Willst Du mitspielen?«

»Ich danke!«

»Warum nicht? Vorhin war Mutter hier, die hat sich auch nicht rangetraut, wie wir so mächtig gefaucht haben. Da ist Walkemeiers großer Kater drin, hat sie gesagt zu Rike, die wieder mit war. Aber sie hat gleich rasch gemacht, daß sie wieder rausgegangen ist, und Holz hat sie vor Angst auch nicht mitgenommen. Die Tür wollte sie offen lassen, hat sie gesagt, daß der Kater raus kann. Das war gut, sonst waren wir eingesperrt!«

Wilhelm Eggeling schüttelte immer mehr den Kopf.

»Nun sagt mir endlich, was Ihr hier – wie Ihr darauf kommt. Ihr müßt Euch doch irgend etwas dabei gedacht haben!«

»O, fein geht es! Spiele ruhig mal mit. Wenn Mutter nochmal kommt, kannst Du sie mit graulich machen. Dann reißt sie vor Dir aus!«

Obgleich dieser letzte Gedanke etwas sehr Verlockendes für den Pastor hatte, konnte er sich dennoch nicht zum »Mitspielen« entschließen. Er fragte nur:

»Was also spielt Ihr denn eigentlich?«

»Das weißt Du nicht?«

»Nein«.

»Aber das mußt Du doch merken! Wir spielen doch – – Rattenkönig!«

Wilhelm Eggeling lachte, wie er seit jenem schneeigen Herbsttage noch nicht wieder gelacht hatte.

Da wurden seine drei Söhne am Boden äußerst fröhlich, und Gottfried erklärte weiter:

»Du weißt doch, der Rattenkönig ist mit den Schwänzen zusammengewachsen und liegt in einer dunklen Ecke. Und wenn was kommt, dann faucht er. Wir haben uns fein zusammengewachsen mit den Schuhbändern und Du mußt uns erst aufknüppern, wenn wir aufstehen sollen«.

»Kinder, wie kommt Ihr auf den Rattenkönig?«

»Das habe ich gelesen, und Du hast doch gesagt, wir sollten Naturgeschichte lernen und Naturgeschichte machen. Wie Herr Pastor Rautenstrauch, der seiner Tochter, die so schön aussieht und so gut ist, weißt Du, auch so viel Naturgeschichte gelehrt hat, hast Du uns doch gesagt. Und Naturwissenschaft ist bei alles die Grundlage, hat Herr Pastor Rautenstrauch mal zu Dir gesagt. Und da haben wir heute Naturwissenschaft gemacht. Wir machen jetzt jeden Tag Naturgeschichte«.

»Unglaublich seid Ihr! Nun steht aber auf!«

»Du mußt uns doch aufknüppern!«

»Wie kann ich das, hier in dem dunklen Stalle! Seht nur zu, wie Ihr loskommt. Ihr sollt jetzt gleich nach Drömlingen gehen, zu Rautenstrauchs«.

Gottfried sprang mit einem wilden Satze auf, und man hörte den Ton von zerplatzenden Schuhbändern, die sonst im gewöhnlichen Leben immer gerade dann reißen, wenn man es beim Anziehen und Zuschnüren sehr eilig hat, weil man nach der Bahn oder sonst irgend wohin gehen muß.

Der Rattenkönig fing an, sich aufzulösen wie ein Reichstag, und nach einigem Ziehen und Zerren standen auch die beiden anderen Teile auf den Füßen, allerdings mit Verlust ihrer sämtlichen Schnürschuhbänder. Außerdem waren die Gewänder sehr stark mit Lehm, Sägespänen, Holzfasern, Spinnengewebe, Stroh und anderen Kennzeichen eines Aufenthaltes in einer finstern Holzstallecke bedeckt.

Gottfried, Gottlieb und Gotthold sahen wie gewöhnlich auffallend anmutig aus. Ihren frischen Gesichtern stand alles gut.

»Was sollen wir denn eigentlich in Drömlingen?« fragte Gottfried.

»Ihr sollt einen Brief und einen Blumenstrauß hinbringen. Fräulein Grete Rautenstrauch hat heute Polterabend und morgen Hochzeit«.

Als Gottfried dies hörte, drehte er sich mit der ihm eigenen Kunstfertigkeit dreimal auf dem rechten Hacken um seine eigene Achse, was bei ihm der gewöhnliche Ausdruck irgend einer großen Freude war; er hätte dabei mit jeder Ballettänzerin, und sei sie noch so geübt, uralt und hoftheaterhaft, in Wettbewerb treten können. Gottlieb stellte sich auf den Kopf, während Gotthold sich völlig krümmte und sein liebenswürdiges, harmloses Kindergesicht zwischen den kurzen Beinchen hindurchsteckte, wobei er seinen Vater so bezaubernd fröhlich ansah, daß dieser herzlich lachte und ihm einen scherzhaften Klaps vor das andere, ausdruckslose Gesicht gab.

»Nun seid aber vernünftig! Es wird sonst zu spät. Ihr müßt außerdem Eure Sonntagskleider anziehen«.

Das war ein großartiges Fest, am Alltage Sonntagsanzüge anziehen! Natürlich mußten auch die Sonntagsstiefel herhalten, denn an den alten waren sämtliche Schnürbänder unbrauchbar geworden. Die Mutter mußte nachher neue Bänder einziehen und konnte dabei ebenfalls in eine gewisse Feststimmung geraten.

Die einzelnen Teile des Rattenkönigs verschwanden im Hause. Gottlieb hatte bereits auf dem Hofe seine Stiefel von den Füßen in hohem Bogen durch die Luft voraus geschleudert; den einen fing er im Fallen wieder auf, der andere flog donnernd gegen die Haustür.

»Polterabend!« rief er dabei mit einer Stimme, in deren Klange jede Sanftmut vermißt wurde.

Mutter Wilhelmine, die gleich ihrem Gatten seit dem vergangenen Herbst einen weichen Zug im Gesichte trug, der bei ihr echt mütterlich aussah, steckte mit Hülfe ihrer nun einzigen Tochter ihre drei Wunder- und Musterknaben in die Sonntagsanzüge, wobei sie einige nicht unangebrachte Mahnungen und nicht übertrieben harte Warnungen von sich gab.

Sie hatte es ihren drei Knaben nicht vergessen können, wie sie in den Tagen des Jammers und der Selbstvorwürfe so still und gut gewesen waren. Sie konnte es nicht vergessen, wie der Älteste zu ihr gekommen war, als sie in tränenvoller Verzweiflung nicht gewußt hatte, wer ihr helfen würde. So fest und ritterlich, so gut und treu hatte er da seine Kinderarme um ihren Hals geschlungen und tröstend gesagt:

»Weine nicht, Mutter!«

Es waren nur drei Worte, aber sie waren der unglücklichen Mutter in's Herz gedrungen und hatten ihr Kraft gegeben. Manche Mutter mag wohl ihr weinendes Kind trösten, aber noch schöner ist es, wenn ein Kind seiner weinenden Mutter Trost gibt.

Wenn sie zusammenbrechen wollte, wenn ihr selbstgeschaffenes Leid zu groß werden wollte, dann hielt sie sich an diesen Worten:

»Weine nicht, Mutter!«

Still und langsam kam auch in jener Zeit einer der andern Knaben hereingeschlichen, streichelte seiner Mutter scheu die Hände, die sie so oft böse gegen sie erhoben hatte, oder die mit Tränen bedeckten Wangen – – nein, sie konnte das nicht wieder vergessen. Und sie lernte von ihren Kindern und wurde stärker und besser an ihnen. Sie wußte nun, welche Kraft und welcher Reichtum in den Kindern ruht.

Unten im Hausflur wurden die drei Knaben mit den nötigen Anweisungen versehen und vom Stapel gelassen. Der Pastor hatte die blonden, kurz geschorenen Köpfe flüchtig gestreichelt, ehe sich die Haustür hinter ihnen schloß. Er ging mit seiner Gattin in die Stube und sagte leise:

»Wenn sie nur gut werden, diese drei! Sie sind zu unbändig!«

»Laß sie doch, Wilhelm! Es ist nicht mehr als Jugendmut. Haben sie jemals schon etwas Schlechtes dabei getan? In jedes Kindes Tiefe steckt reines Gold, sagt Rautenstrauch. Wir sollen den guten Kern wachsen lassen!«

»Ach ja, der Amtsbruder Rautenstrauch! Ich habe früher immer über ihn hinweggesehen, weil er keinen Buchstabenglauben hat. Nun hat mir das Leben schwere und er leichte Lehren gegeben, – hätte ich doch schon früher auf ihn gehört! Vieles habe ich schon von ihm gelernt, aber so ganz verstehe ich ihn immer noch nicht. Ich will mich weiter bemühen. Zu alt bin ich wohl noch nicht« – – –


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