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14.
Das Wasserwerk

Noch drei liebe, sonnige Sonntage war Karl Sievers im Drömlinger Pfarrgarten. Drei Mal nahm er abends in der Lindenlaube Abschied, und jedes Mal dauerte die Umarmung länger und immer länger.

Es war in all ihrem Tun und Denken so viel Glück und Jugend und Liebe, daß keiner von den beiden vor dieser Überfülle einen Anfang und ein Ende sah; sie spielten mit Ewigkeiten und Unendlichkeiten wie Kinder mit Seifenblasen spielen.

Als Karl am dritten Sonntagabend in seine Stube trat, fand er einen Brief auf seinem Tische liegen. Der Leiter des Wasserwerkes schrieb ihm, er möge wegen einer wichtigen Besprechung sogleich zu ihm kommen.

Karl ging eilends, obgleich es schon später Abend war. Der alte Wassermann, der eher aussah wie ein Schauspieler als wie der gewaltige Direktor einer Wasserversorgung, war noch freundlicher als sonst. In seiner lebhaft springenden Art sprach er und zog sich dabei immer mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand an der Nasenspitze. Am Donnerstag – alles war längst bestimmt – sollte der und der – Karl kenne ihn ja – nach – er nannte irgend einen überseeischen Ort – abreisen – im Auftrage des Werkes – technische Fortschritte – wichtige Neuerungen – neue Verbesserungen – dieses und jenes sei zu prüfen, zu erkunden, auszutauschen –. Sollte man es für möglich halten – entwischt sei der Mann, einfach, kalt lächelnd ausgerissen, natürlich, wie gewöhnlich, das Ewig-Weibliche – er solle sich vor den Weibern hüten, daraus erwüchse niemals etwas Gutes – es sei eine tolle Geschichte – verschwunden, ohne ein Wort, ohne eine Nachricht – doch das nur nebenbei. Die Reise müsse auf jeden Fall unternommen werden – ob Karl Sievers vielleicht – man habe durchaus das Zutrauen zu ihm. Ein anderer käme überhaupt nicht in Frage – er werde sicher das Vertrauen zu rechtfertigen wissen – er sähe es ihm schon an, daß er einwillige – solches Vertrauen müsse er schätzen. Also am Donnerstag von Hamburg ab, mit der Hamburg-Amerikalinie. Das nähere würde er morgen erfahren – zu allen Vorbereitungen sei noch genügend Zeit.

Karl Sievers sagte mit seinem Verstande zu allem »ja«, sein Herz aber sprach zu allem »nein«. Davon hörte jedoch der Direktor nichts; er wußte überhaupt nichts davon, denn in ihm war alles Technik und Wasser, Gewinn, Verlust und Ersparnis. Er dachte nur an den Nutzen, den das Wasserwerk von dem ziehen sollte, was in der Ferne geschaffen war.

Karls Verstand und sein junger Geist schauten voraus in leuchtende Weiten, über das Meer in fremde Länder, aber sein Gemüt und seine Liebe sahen den stillen Pfarrgarten mit der Lindenlaube, und überall winkten Grete Rautenstrauchs Sonnenaugen.

Am Mittwoch Abend ging Karl, um Abschied zu nehmen, nach dem grünen Dorfe.

Die drei Alten nickten zu dem raschen Plane beifällig, aber auch etwas verwundert. Grete wußte zuerst nicht, ob sie lachen oder weinen solle. Als sie sich besann, war sie froh und stolz, weil man ihren Karl solchen ehrenvollen Auftrages gewürdigt hatte.

Sie dachte an einen Abend aus ihren Kindheitstagen; sie hatte ein Stück Kuchen erhalten, das ihr nach ihrer Meinung nicht süß genug war, und dann war es aus Versehen statt mit Zucker mit Salz bestreut worden. Aber gegessen hatte sie es dennoch, weil sie es nicht wegwerfen wollte.

Im Pfarrhause wurde es dämmerig und dunkel. Karl wollte aufstehen und gehen, aber es kam nicht dazu, denn sie sahen sich jedesmal alle fünf beklommen an, wenn er sich erheben wollte. Alle Gespräche waren verstummt.

»Wenn ich den Winden und Wellen gebieten könnte!« knurrte der Großvater heiser. »Christ Kyrie, bleib bei uns auf der See!«

Plötzlich sprang Karl auf und gab jedem wortlos die Hand. Als er schnell aus der Stube eilte, ging Grete hinterher. Er faßte ihre Hand.

Im Garten mäßigten sie ihre Schritte und gingen eng aneinandergeschmiegt.

»Ich weiß nicht, was ich Dir sagen soll«, sagte Grete leise. »Mir fällt nur ein altes Lied ein, das mein Vater oft gesungen hat«.

»Wie heißt es? Sag' es mir«.

Sie waren beide bis an die Lindenlaube gekommen, die in grüner Dunkelheit lag. Und als sie beide auf der Bank saßen, eng und nahe beieinander, legte Grete ihren blonden Kopf an Karls Brust und sang leise, ein wenig eintönig, so ganz ohne jeden Zwang, das alte Lied.

Es war eine schlichte, rührend einfache Weise, und Grete sang sie, so still und wahr, wie es die Stunde verlangte:

»Einsam? Nein, das bin ich nicht,
Denn die Geister meiner Lieben,
Die in ferner Heimat blieben,
Sie umschweben mich.

Glücklich? Nein, das bin ich nicht!
Denn bei still geweinten Tränen
Fühl' ich stets ein heimlich Sehnen
Nach der Heimat hin.

Traurig? Nein, das bin ich nicht!
Denn ich weiß, daß in Gedanken
Meine Teuern mich umranken
Und mir nahe sind.

Hoffend? Ja, das ist mein Sinn!
Einst mit den geliebten Meinen
Wiederum mich zu vereinen:
Das erfüllt mein Herz!«

Karl sah auf das liebe, schöne Haar seiner Grete; er lauschte und vergaß keine Zeile. Es war ein Gesang, der von einer Seele zur andern zog.

»Nein«, sagte Grete nach einer Pause, »weinen wirst Du nicht. Das war früher so, als diese weichen Verse gedichtet wurden. Jetzt weint man nicht um eigenes Leid, sondern nur um fremdes. Und man weint nicht mit Tränen, sondern mit Taten. Unsere Zeit ist stolzer und edler geworden. Aber das andere aus dem Liede kannst Du behalten.«

Der Nachtwächter blies im Dorfe.

Aber die beiden saßen immer noch in der dunklen Lindenlaube, weil sie sich so lieb hatten und sich nicht trennen konnten.

Sie dachten nicht daran, ihre Liebe vor einander zu verbergen.


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