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3.
Viel Sonne

Der Sonnennachmittag hatte den ganzen Garten in seine wogende Wärme eingehüllt, die sich in jedes Eckchen und Winkelchen schmiegte und so voller Ruhe war, daß kaum ein Vogel seine kleinen Flügel regte; die wunderbunten Schmetterlinge schliefen auf den Blättern und hingen träumend neben den Blüten. In den glatt geharkten Gartenwegen lag die Sonne wie starr und regungslos, und es war, als ob die Äste der Bäume samt ihren Blättern niedergedrückt würden von dem Lichtglanz; es war, als ob sie das schwerlastende Sonnengold kaum tragen konnten. Aber sie hielten aus und trugen es mit dankbarer Geduld und beschatteten, was unter ihnen lag und lebte.

Starke Schatten warf auch der Apfelbaum, unter dem sich jetzt die Pfarrersleute sammelten; Karl Sievers hatte schon längst in einem braunen Holzstuhle wartend gesessen. Der Pastor Rautenstrauch hatte diesen Gartenstuhl selbst angestrichen, nachdem er unansehnlich geworden war; in seinen Mußestunden hatte er eine zuweilen bedenkliche Vorliebe für derartige Handwerkstätigkeit, die ihm seine Karoline nicht immer dankte, denn die Folgen waren zuweilen nicht einwandfrei.

Die drei Alten kamen gemächlich aus dem Hause in den Garten, und zuletzt, dicht hinter den Dampfwolken des Großvaters, dessen stattliche Nase vom Schlafen nach dem guten Mittagsmahle einen frischern Farbenton angenommen hatte, erschien Grete. Sie ging langsamer als sonst, fast wie ein wenig verträumt, und trug ein Buch in der Hand.

Die Hausfrau schenkte Kaffee ein, was zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehörte, die sie keinem sonst gern gönnte; die Pastoren fingen an, unermeßlich aus ihren frisch gestopften Pfeifen zu dampfen, und Pastor Rautenstrauch sprach, sich selbst anklagend, des längeren darüber, daß auch der beste Mensch nicht selten die Sucht in sich habe, beizende und üble Gerüche um sich her zu verbreiten, mögen sie nun körperlicher oder geistiger Natur sein. Die geistigen, üblen Gerüche seien aber meist noch weniger erträglich als die körperlichen, wozu noch die bedenkliche Tatsache kommt, daß sie von den meisten Menschen nicht bemerkt werden, oder erst dann, wenn es bereits zu spät ist, sich dieser mephitisch-epidemischen Dünste zu erwehren. Leider sagt keine Statistik, wie viele Menschen sich die Verbreitung von geistigen Miasmen zu ihrer traurigen Lebensaufgabe machen; es seien aber nicht wenige, und außerdem seien sie fast immer tonangebend.

Die guten Pastoren im Drömlinger Pfarrgarten arbeiteten bei dieser Philippika mit ihren Pfeifen, als gelte es, die liebe Sonne zu verdunkeln und den blauen Himmel zu trüben. Karl trank aus Höflichkeit eine Tasse Kaffee; er liebte sonst dieses Getränk nicht, bei dem er immer an irgend einen aufgedunsenen türkischen Schwammerling männlichen Geschlechts oder an irgend eine fette, türkisch-orientalische Dame denken mußte.

Man sprach harmlos von kleinen Dorfereignissen. Grete blätterte in dem mitgebrachten Buche, schaute wie suchend im Garten umher und schwieg.

» Mulier taceat in ecclesia, aber man übertreibe es nicht, Gretelein! Laßt uns denn zum Lesen übergehen, wie sonst. Man wisse«, – er wendete sich zu dem Gaste – »daß wir besonders den Sonntag Nachmittag benutzen, um ein gutes Buch zu lesen, weil andere Geistesgenüsse uns hier auf Drömlinger Flur gemeiniglich versagt sind. Man wird gern zuhören, wie ich vermute?«

Karl beeilte sich, zuzustimmen und sah dabei unwillkürlich Grete an. Da bekamen sie beide Herzklopfen, so stark, daß sie meinten, ein jeder müsse es hören, und ihre Augen fingen an, rätselhaft und unbeschreiblich zu glänzen, obwohl sie auch sonst schon überaus reichlich den reinen, warmen Glanz unbezwungener Jugend aufzuweisen hatten.

»Wir lesen wohl weiter, wo wir am vorigen Sonntage geendet hatten«, meinte Pastor Rautenstrauch. Dann wendete er sich an den Gast:

»Sie kennen vielleicht die unruhigen Gäste unseres lieben Landsmannes Wilhelm Raabe« – –

»Den Gott drei Mal segnen möge!« rief Großvater Schulte dazwischen und stieß mit der Pfeifenspitze nach dem Käppchen. Pastor Adolf Rautenstrauch ließ sich durch den Zwischenruf nicht stören.

»Sie erinnern sich an die treffliche Phoebe Hahnemayer« – – Karl Sievers schüttelte bedauernd den Kopf.

»Nein, dieses Buch kenne ich leider nicht. Überhaupt bis jetzt nur wenig von Raabe« – –

Jetzt rief Großvater Schulte wieder zur Sache:

»Ja ja, das glaube ich wohl, zu jung, zu jung! Das junge Volk versteht ihn nicht! Man werde älter, dann wird man ihn verstehen und lieben. Das ganze deutsche Volk muß erst älter werden, um seinen Raabe begreifen und schätzen zu können. Man warte, bis er dreißig Jahre tot ist; aber dann hat er nichts mehr davon. Die Lebenden begreift man in Deutschland meist nur, wenn sie nichts taugen. Unser Landsmann soll stolz darauf sein, daß er immer noch nicht in die Mode gekommen ist. Und trotzdem, – hundert Jahre soll er alt werden, und ich möchte das noch erleben!«

»Wäre es denn nicht besser,« lenkte Frau Rautenstrauch ein, »wenn wir heute aus einem andern Buche läsen? So mitten in einer unbekannten Geschichte anfangen, – es wäre schade darum und würde auch Herrn Sievers keine Freude machen.«

»Ich dachte schon gleich daran,« sagte Grete. »Ich habe die unruhigen Gäste im Hause gelassen, um unsern ruhigen Gast nicht zu verwirren und unruhig zu machen. Ich habe ein anderes Buch gebracht.«

Sie legte ein grünes Buch auf den Tisch, locker im Einbande und ziemlich zerlesen.

»Das Nibelungenlied, klares, deutsches Gold«, sagte der Pastor.

»Wie kommt man darauf?« fragte der Großvater.

»Ich – ich wußte nichts besseres zu bringen,« sagte Grete langsam und sicher, und dabei gingen ihre Augen zu dem Gaste, wenn auch nur eine Sekunde. Dann sah sie wieder nach der weiten, hohen Himmelsbläue, und ihr Augenlicht war lauter Sonne.

Die Mutter lächelte, als sie wieder diesen Blick sah.

Grete aber fing an, mit ruhiger, klarer und tiefer Stimme zu lesen, schmucklos und ein wenig einförmig, ganz ohne jedes gekünstelte Gebahren. Sie las von dem frohen Pfingstfeste, wo Kriemhilde an Utes Seite zuerst Siegfried begegnet.

Karl Sievers saß in seinem braunen Stuhle, dem farbenscheckigen Meisterwerke des Ortspfarrers und lauschte und fühlte förmlich, wie die Verse durch die warme Luft zu ihm zogen. Es wurde ihm immer unbegreiflicher zu Sinne; er kannte sich kaum mehr. Die beiden rauchenden Pastoren mit ihren Sammetkäppchen verschwanden vor seinen Augen, die Hausfrau mit dem liebenswürdigen Strickstrumpfe und der unerschöpflichen Kaffeekanne war für ihn nicht mehr da. Er sah nur die blonde Grete mit ihrem hellen, krausen Haar, und er verwendete keinen Blick von der ganzen, lieben Gestalt, die so schön und kernig und blühend war wie – nun ja, wie eine niedersächsische Pastorentochter vom Dorfe!

Wie eine herrliche Musik klang es ihm, als sie las:

»Da kam die Minnigliche:
so tritt das Morgenrot
hervor aus trüben Wolken –
wie der lichte Vollmond vor den Sternen schwebt,
der Schein so hell und lauter
sich aus den Wolken hebt,
so glänzte sie in Wahrheit
vor andern Frauen gut –«

Karl Sievers rückte unruhig hin und her, als sie ein wenig langsam und schwer las:

»Wie dacht' ich je daran,
Daß ich Dich minnen sollte?
Das ist ein eitler Wahn.
Soll ich Dich aber meiden,
So wär' ich lieber tot« –

Unter den beiden schwarzen Käppchen quollen graublaue Dampfwolken hervor, die Kaffeetasse machte ihren regelmäßigen Weg zwischen dem Tische und Frau Pastors Munde, immer tiefer senkte sich die Sonne, bis die Gartenvögel schon ihr leises Abendlied anfingen; mit abendlicher Frische strich ein Windhauch durch die Bäume, als ob er etwas suchen wolle, was der Tag vergessen hatte, – und das alte, reine deutsche Gold der Dichtung und der Liebe glänzte und schimmerte in zwei jungen Seelen.

Pastor Rautenstrauch, der einmal zwei Blicke auffing, die sich begegneten, wiegte sinnend den Kopf; er war ein feiner und duldsamer Seelenkenner und dachte lächelnd allerlei, wenn sich auch eine ferne Sorge trotz allen Lächelns dazwischen schlich.

Vom Hofe her hörte man den Haushund anschlagen, einen schwarzen Spitz, der gegen Abend zur Wache losgelassen wurde. Gleich darauf kam der Hund eilfertig durch den Garten gelaufen und bellte nachdrücklich, so daß die Leserin aufhören mußte.

»Man schweige, Spitz!« donnerte Großvater Schulte, und seine Stimme klang wie ein Schuß aus einem alten, zerbrochenen Mörser, der alljährlich an irgend einem vaterländischen Festtage abgeschossen wird.

August Peggau, ein trefflicher Ackermann aus Drömlingen, der Vater des dicksten Husaren der dritten Schwadron, wandelte schweren Schrittes um die Ecke. Der Spitz hatte ihn angemeldet.

Als Großvater Schulte den Drömlinger Landmann kommen sah, blinzelte er lustig und listig dem Gaste zu und sagte halblaut, jedoch in der griechisch-homerischen Ursprache:

»Das schwer hinwandelnde Hornvieh!« Und auf deutsch setzte er ebenso listig hinzu und so laut, daß es der Ankömmling hören mußte:

»Wir kaufen unsere Futterkartoffeln für die Hühner von ihm; er hat die besten, vermöge seiner geistigen Fähigkeiten. Nicht wahr Herr Peggau?«

Der Gute ahnte den wahren Sachverhalt nicht im mindesten und sagte geehrt:

»Dat schall woll sien! Gu'n Abend ok tausammen! Ik wolle Sei mal wat spräken, Herr Pastohr! Sei verlobet doch?«

Gewiß erlaubte das der Pastor Rautenstrauch, und während sie beide verhandelten, wobei der Bauer mit seiner gewaltigen, dröhnenden und schwer rollenden Sprache die Oberhand hatte, erzählte der alte Pastor Schulte dem Gaste halblaut die Lebensgeschichte des Haus- und Hofhundes Spitz.

»Er ist ein Sohn seines Vaters, der gleichfalls bei uns war, jenes trefflichen Hundes, der zu Gretes ersten Kindheitsjahren hier kläffte und herrschte. Sie konnte ihn nicht gut leiden, weil sein Aroma nicht besonders anmutig war, indem er sich von allen Toilettenkünsten sorgfältig fern hielt; deshalb nannte sie ihn in ihrer kindlichen Sprechweise nur »Tinkepitz«, jede körperliche Annäherung ablehnend. Dieser jetzige »Stinkespitz« darf ebenfalls nicht in das Haus, aber er wird gut und gerecht behandelt, hat sein behagliches Hundeheim im Stalle und fühlt sich glücklich als unentbehrlicher Wächter.«

Karl Sievers lachte und lockte den Hund an sich.

Der Landmann erzählte unterdessen hartnackige Geschichten von Ackerpacht und Drainage und Zuckerrüben und andern Betriebsherrlichkeiten, wobei sehr oft seine Lieblingswendung zu hören war: »Dat schall woll sien.« Er gebrauchte diesen Satz immer da, wo gewöhnliche Menschen »ja« sagen; das »ja« war ihm zu kurz, er hatte Zeit dazu, sich länger und deutlicher auszudrücken. Hatte er doch, als er vor etwa zwanzig Jahren mit seiner jungen Braut vor dem Altar stand, dem Pastor auf die übliche Frage hin nicht mit »ja«, sondern höchst nachdrücklich mit »dat schall wol sien« geantwortet, wobei er außerdem noch seiner Liebsten zur weiteren Bekräftigung derartig den Arm drückte, daß die Ehe mit einem deutlich sichtbaren blauen Flecke anfing.

Heute Abend schien er überhaupt nicht mit seinem »Dröhnschnack« zu Ende kommen zu können, und sein dickes, rotes, glattrasiertes Gesicht wurde immer röter, worauf der schelmische Alte seinen Gast aufmerksam machte, indem er mit bezeichnendem Blicke sagte:

»Luna lächelt sanft hernieder, – übrigens, man zürne mir nicht, – da dieses Zwiegespräch wohl noch lange nicht zu Ende kommt, wenn ich daran erinnere, daß es Abend wird. Die Nacht ist keines Menschen Freund! Man muß ein erkleckliches Stück durch den Wald gehen. Man sieht allerdings nicht aus, als ob man furchtsam sei: Mir ging's ähnlich. Wenn ich vor mehr als sechzig Jahren als Bruder Studio von meinem Heimatsdorfe nach Göttingen ging, warnte mich mein gutes Mütterchen jedesmal« – er zeigte grüßend mit der Pfeife nach dem Käppchen – »und riet zur Vorsicht. Daß Dich nur keiner anfällt, mein Sohn, klagte sie. Worauf ich stets meinte: Das ist nicht zu befürchten, liebe Mutter! Wenn ich nur keinen anfalle!«

Karl sah ein, daß es Zeit zum Gehen wurde und begann sich zu verabschieden, indem er bei seinem alten Gönner anfing.

»Man höre noch schnell«, sagte der alte Pastor jedoch, »eine wohlriechende Geschichte, die mir gerade einfällt. Man weiß doch, wie nahe Beziehungen Geruchsempfindungen und Gemüt zu einander haben. Ich ging vor Jahren einmal von einem Wege in die Stadt nach Drömlingen zurück. Ein junger Mann holte mich ein und ging mit mir. Er war auch von hier, war mehrere Jahre in einer fernen Großstadt gewesen und kam wieder in die Heimat. Er erzählte mir von seiner Freude, die er darüber hatte. Wir kamen zwischen zwei Äckern hindurch, die eben umgepflügt und reich mit trefflichem Dünger bestreut waren. Da hob der Jüngling die Nase und roch und sog nach Herzenslust, obgleich die Düfte nicht fein waren. Stinkespitz ist ein Maiglöckchenstrauß dagegen. Man kann sich keinen Begriff von dem glückseligen Gesichte des Jünglings machen. Ich fragte ihn, was er denn habe, da antwortete er mit vollkommener Glückseligkeit, weil er die lieben, vertrauten Düfte der Heimat roch: Ach, wo ruket dat heier sau schöne! – Und uns alle beide übermannte eine heftige Rührung. Ein tiefer Sinn liegt dennoch in dieser Heimatsgeschichte, mein junger Freund!«

Karl bedankte sich für die Erzählung und setzte seinen Abschied fort. Er redete allerlei, was weder er selbst noch sonst jemand verstand, denn August Peggau sprach immer noch, und der Spitz bellte höhnisch dazwischen. So wurde hauptsächlich nur ein großes Händeschütteln der Reihe nach daraus, und auch Herr Peggau bekam sein Teil, wofür er sich mit »dat schall woll sien« bedankte.

Gretes Hand hielt der Abschied Nehmende länger fest, als er wohl gedurft hätte, aber sie entzog sie ihm nicht. Und ehe er losließ, preßte er noch einmal heftig diese willige Hand, und dabei atmete er freudig und tief, und wie ein stilles Lachen von Freude und großem Glück malte es sich in seinem Gesichte.

Langsam, wie zögernd, ging er allein den schmalen Kiesweg zwischen den Büschen, nach der Gartenpforte zu.

Es war noch nicht dunkel, denn es herrschte die Zeit der hellen Nächte, in der der Tag nur flüchtig die Augen zumacht, weil es ihm leid tut, daß ihm sonst soviel Schönheit entgeht, und in der die Sonne beim Untergehen zu rufen scheint: Wartet nur einen Augenblick, ich komme gleich wieder!

Vom Teiche aus sangen so süß und sehnsüchtig zwei Frösche, die Wassernachtigallen, der eine mit sehr tiefer, der andere mit sehr hoher Stimme, und ihr abwechselnder Liebesgesang schien kein Ende nehmen zu wollen.

Als Karl Sievers hinter den Büschen verschwunden war, die ihn vom Apfelbaumplatze aus unsichtbar machten, ging er ganz langsam, als ob er sich nicht trennen könne von seinem Zaubertage und von seinem Wundergarten. An der Lindenlaube blieb er stehen.

Sollte er hineingehen? Es war für ihn noch frühe Zeit. Ein heimliches, kühles Locken wehte aus der Laube hervor und zog ihn hinein. Er sah sich in dem Halbdunkel um und fand zwei morsche, schiefe Bänkchen, eine Harke und eine weiße Gießkanne mit roten Streifen.

Als er nun dachte, daß er fortgehen müßte aus diesem lieben, grünen Garten, fort von den guten, gastfreien Menschen, fort von der, die ihm so fest die Hand gedrückt hatte, fort von allem Lieben und Guten, das er heute erlebt hatte, – allein wieder in die große Stadt, ohne zu wissen, ob er solchen Tag noch einmal erleben dürfe, da überkam es ihn wie ein plötzlicher Schreck, wie eine bittere Unmöglichkeit.

Es konnte ja nicht so sein! Warum sollte er wieder hinausgehen aus der Pforte des Wundergartens, die ihm vielleicht niemals wieder aufgetan wurde?

Jeden Menschen läßt das Schicksal nur einmal in den Wundergarten seines Lebensglückes hinein; aber die meisten gehen gedankenlos bald wieder hinaus und wissen gar nicht, daß sie darin gewesen sind, und wenn es zu spät ist, suchen sie ihn mit blinden, blöden Augen und finden ihn niemals wieder.

Lange stand Karl am Eingange der Lindenlaube und spähte in den Garten hinein und nach dem roten Dache des Pfarrhauses, unter dessen überhängenden Ziegeln die niedrigen kleinen Fenster glänzten, soweit sie vor üppigem Blattgrün sichtbar waren. Er wartete, als ob ein lebendiges Glück kommen solle, das ihn noch einmal festhielt.

Ging da nicht ein Rascheln durch die Büsche? Knirschte nicht leise der Kies? Wehte nicht etwas Starkes, Glückseliges durch die Abendluft?

Karl horchte scharf und gespannt.

Ach, er kannte den Schritt, den leichten und festen, den er seinem Ohre heute so sicher eingeprägt hatte.

Grete kam durch den Garten, die liebe Grete mit den Sonnenaugen!

Da faßte es ihn mit fröhlicher Gewalt wie ein lachendes Jubeln, weil er sie noch einmal sehen sollte, und weil nun vielleicht das Glück in dem Wundergarten zu ihm kam. Immer glänzender wurden seine Blicke, als er den Weg hinab spähte.

Sie kam in ihrer sonnigen jungen Schönheit, ihrer kindlichen klugen Güte und fröhlichen Liebe, und es war im Garten plötzlich, als ob nicht Abend sei, sondern als ob der quellende, blühende Morgen zwischen dem Gesträuch wandele.

Grete trug ein kleines Päckchen in der Hand, und als sie den Gast in der Lindenlaube stehen sah, hob sie lachend den runden Arm, dann bückte sie sich biegsam und schnell nieder zu einem Moosrosenbusche, der dicht am Wege stand, und pflückte eine halberblühte rote Rose ab.

Langsam gingen die beiden sich entgegen, und keiner wußte so recht, was er dachte, und keiner dachte, was er wußte. Keiner tat, was er wollte, und keiner wollte, was er tat.

Mit der linken Hand hielt Grete dem Harrenden das Päckchen entgegen, mit der rechten die rote Rose, aber er sah nur nach ihrem rosigen Gesichte und ihren leuchtenden Augen. Da sie noch ein wenig fern von ihm stand, faßte er mit seinen Händen die ausgebreiteten Arme fest und zog das liebe Angesicht des Mädchens zu sich heran.

Nur ein kurzes Flimmern und Zucken ging hin und her, dann hatte er sie auf ihren schönen Mund geküßt.

Es brauste und klang und sang in den beiden und um sie wie ein starkes, neues Lied, das sie noch nie gehört hatten, und es wogte eine selige Wärme um sie, so wie sie noch nie sie gefühlt hatten. Und als sie sich in die Augen sahen, da wußten sie, daß jetzt für sie die ganze Erde sonst nichts mehr war, und daß die ganze Welt vergehen müsse vor ihren Küssen und vor ihrer Liebe!

Karl sagte nichts, denn er konnte nicht sprechen vor Glück; er fühlte nur das warme, starke, entzückende junge Leben in seinen Armen und auf seinem Munde.

Plötzlich ließ er seine Grete aus den Armen und schickte sich an zum Gehen, weil er wohl fühlte, des Glückes Last würde sonst vielleicht zu schwer werden.

Grete aber sagte leise und glückselig:

»Komm wieder, Du Lieber!«

Er nickte fest und sicher und wendete sich noch einmal um im Gehen. Da drückte sie ihm die Rose in die Hand und fügte hinzu:

»Nächsten Sonntag!«

Er nickte zweimal und ging weiter. Sie ging ihm zwei Schritte nach und bat:

»Hier, nimm!«

Er sah sie fragend an; die Rose hatte er, – was sollte er noch haben?

Es war das kleine Päckchen von sauberem Papier.

»Hier, – ein Butterbrot, mit Wurst, – unterwegs, Du mußt sonst hungern!«

Da besann er sich und wurde der Erde wiedergegeben. Sie sahen sich beide lange an, als ob sie aus einer andern Welt in die wirkliche zurückkämen, als ob sie aus einem andern Leben erwachten, und sie lachten leise, glücklich und fröhlich.

»Wie gut,« sagte Grete, »daß ich Dich noch gefunden habe. Ich fürchtete, Du seiest schon die Trift hinauf.«

»Nein, nein! Ach Grete! Was war das? Was war das eben mit uns?«

»Ich lief gleich in die Speisekammer, als Du fort warst. Warum hatte ich nicht eher daran gedacht?«

Es dämmerte ihm eine Erkenntnis auf: Ja so, das Wurstbrot!

Er nahm es.

»Verliere es nur nicht!«

»Nein, nein!«

Er hatte es schon liebevoll in der Tasche.

»Du kommst wieder, Du Lieber!«

»Ja, so gern, Grete! Hast Du mich denn lieb?«

»O, so sehr! So lange, so sehr lange schon!«

»So lange schon? Seit heute, seit gestern?«

»Seit gestern schon!«

»Ist das lange?«

»Ja, denkst Du denn nicht?«

»Doch, Grete, eine Ewigkeit ist das schon.«

»Wann kommst Du wieder?«

»Bald! Aber wie soll ich es einrichten?«

»Nächsten Sonntag, Lieber! Geh' in die Kirche, bitte!«

»Warum in die Kirche?«

»Tu' es nur, du wirst schon sehen!«

»Dann will ich's tun. Ich tue alles, was Du sagst!«

»Und jetzt gehst Du schnell nach Hause!«

»Willst Du nicht jetzt noch einmal zu mir kommen?«

»Nein, nein!«

»Warum nicht?«

»Es wird dunkel. Du mußt gehen.«

»Aber ich komme wieder, und dann?«

»Ja, dann!«

»Gute Nacht, Grete, liebe Grete Rautenstrauch!« rief er übermütig im Gehen.

»Gute Nacht, Karl, lieber – Herr Wassermann!« antwortete sie ebenso übermütig.

Mit schnellen Schritten ging sie dem Hause zu, fast schwebend, wie von überirdischem Glück und reinster Luft getragen.

Er aber lief aus dem Garten, die Trift hinauf, dem schweigenden Abendwalde zu, mit seiner großen Liebe, seiner Rose und seinem Wurstbrote. Auf seinem Wege dachte er, daß er am gestrigen Abend noch nichts von diesen drei großen Reichtümern gehabt habe, und daß er nun unermeßlich reich sei und geborgen für immer.

Oben auf der Trift blieb er noch einmal stehen und sah auf das Dorf hinab und auf den Pfarrgarten, der in zartester Abenddämmerung lag. Weil so viel überschüssige Kraft und überflutende Lust in ihm waren, von denen er sich nicht befreien konnte, schwenkte er die Arme und wehte damit, als ob sie zwei riesengroße Freudenfahnen seien, die er hinwegflattern lassen könne über die ganze Erde, deren Mittelpunkt von jetzt an der liebe Drömlinger Pfarrgarten war.

Bei dem gewaltigen Armschwenken und den wilden Bewegungen des Oberkörpers fiel etwas aus der Seitentasche seines Rockes; es raschelte wie von Papier, und er hielt inne mit seinem Umherwirtschaften und bückte sich. Im Grase lag das kostbare Butterbrot, Gretes sorgsames Vermächtnis. Liebevoll hob er es auf und betrachtete es mit seelenhungriger Andacht, um es gleich darauf sorgsam in der Brusttasche zu bergen, damit es nicht wieder bei fortgesetzten Freudenbewegungen oder beim schnellen Gehen herausfallen könne. In der Brusttasche aber geriet es mit dem braunen Gedichtbuche in's Gedränge, denn die Tasche war nicht für zwei solche Gäste eingerichtet. Aber zuletzt gelang es doch!

Ein Gedichtbuch von Goethe und ein Butterbrot mit Wurst! Für beide war Platz genug an Karl Sievers' breiter Brust; er wußte sie in Eintracht unterzubringen, und jeder mußte sich in den andern fügen; beide hatten auch einträchtig Platz in seinem Herzen.

Ein Gedichtbuch und ein Wurstbrot! Wähle, lieber Deutscher!

Von tausend Deutschen greifen neunhundertneunundneunzig mit ihren plumpen Fingern und unfeinen Seelen nach dem Wurstbrote. Und der Tausendste, der nach dem Buche greift, ist satt; und wenn er in dem Buche liest, versteht er es nicht, sondern er gähnt und denkt: Schon wieder ein Dichter? Was habe ich davon? Ich weiß nicht, was diese Menschen wollen!

Auf dem langen Heimwege wurde es dunkeler, und ein flüsternder Wind erhob sich, gerade als Karl durch den Wald ging. Da fing es wieder lauter an in seiner Seele zu singen, die bisher so in stillem Glück auf dem Wege gelächelt hatte, und die Worte jenes Liedes, das ihm heute Morgen im Sinne gelegen hatte, kamen wieder fröhlich herbei, wie lustige Lerchen, die hoch und höher in die blaue Luft aufsteigen.

»O Mädchen, Mädchen, wie lieb' ich Dich!
Wie blickt Dein Auge, wie liebst Du mich!«

Konnte er schönere Worte denken und singen?

Die Stadtlichter glitzerten, die Wagen rasselten und zischten mit Klatschen und Klingeln, – er hörte aus all dem Lärm ganz anderes heraus:

– – wie ich Dich liebe mit warmem Blut« – –
»O Lieb, o Liebe! So golden schön« –
»O Mädchen, Mädchen, wie lieb' ich Dich« – –

Wirklich und wahrhaftig, so klang es aus dem Straßenlärm heraus. Die Straßen sangen ein Goethisches Lied, und die neuen und alten und uralten Häuser standen da und lauschten und lächelten; sie dachten an das, was sie schon erlebt hatten und an das, was sie noch erleben wollten.

Karl Sievers aber ging in seine große Stube und legte sich schnell in sein Bett; denn es war eine gesunde Müdigkeit über ihn gekommen; aber als er lag, konnte er dennoch nicht einschlafen. Er hatte die Fenster nach dem Garten zu weit offen gelassen, und die laue Nacht sprach mit ihm.

Wohl eine Stunde noch lag er so und dachte an seinen Wundertag und an den grünen, seligen Wundergarten, an seine Grete mit den warmen Sonnenaugen und an Goethes Frühlingsmailied. Dann schwieg auch die Nacht und streichelte ihn mit ihren weichen Händen vom Garten aus; sie hielt ihm die Augen zu, daß er fest einschlief.

Er träumte nicht einmal, weil sein Schlaf sehr tief war und weil er nichts zu Abend gegessen hatte.

Das Butterbrot lag zusammen mit dem braunen Buche und der Moosrose auf dem alten, braunen Tische, und Karl und diese Drei verlebten und verschliefen gemeinsam eine harmonische, ruhige Nacht.


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