Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5.
Pastorensonntag

In dem hohen Walde umgaben ihn die schöne Ruhe, der heitere Ernst, die der Pastor sein lebelang so sehr geliebt hatte; von törichter Ausgelassenheit war er ebenso weit entfernt wie von aufgeblasener Feierlichkeit. Er sagte: Der Durchschnittsdeutsche ist bis zum vierzigsten Lebensjahre albern, danach wird er würdig, – was fast noch schlimmer ist.

Im Walde war der Drömlinger Pfarrer gewöhnlich lieber als in seiner Kirche, und es wäre ihm gerade recht gewesen, wenn er hier hätte zu seinen Bauern sprechen dürfen. Im Walde kamen ihm die besten Gedanken für seine Predigten; die Bäume rauschten sie ihm zu, und wie Siegfried schien er die Sprache der Vögel zu verstehen, denn er hatte vom brennenden Blute der Erkenntnis gekostet. So kam es, daß es durch seine Predigten immer wehte wie frischer Waldesatem; ein Reines, Großes und Hohes war darin, bei aller Schlichtheit der Gedanken und aller Einfachheit der Form. Und oft war auch ein starkes, hoffnungsfreudiges Zukunftsbrausen darin, eine Ankündigung der Zeit, da einst die grauen Jahrtausendnebel und die Katakombendünste vor einem reinen, stolzen Hauche verfliegen und verwehen müssen.

Er wußte es: wie kann ein Mensch, der immer in die Vergangenheit zurückschaut und sich vor dem Vergangenen in Demut beugt, jemals in froher Entwickelung zu freiem, hohem Menschentums aufsteigen? Was war, das laßt dankbar gewesen sein! Nun setzt eure Füße fest auf einen höhern Stein!

Sein Bestes aber, was Pastor Rautenstrauch wußte, das behielt er noch für sich. Er fühlte sich nicht zum Reformator geboren und war auch längst zu alt dazu. Das wollte und mußte er Größern überlassen. Für ihn galt es nur, im kleinen still sein Werk zu tun, und dabei ließ er sich von keinem in die Quere kommen.

Im Walde zog er sein Buch aus der Tasche; es war eins von denen, die er seinem wißbegierigen Konsistorialrate niemals gezeigt haben würde. Er las in kurzen Absätzen, oft nach den Bäumen blickend und nach dem Getier des Waldes spähend. Allerlei Gedanken kamen ihm für seine nächste Sonntagspredigt. Er sprach fast immer über ein frei gewähltes Thema; ob es erlaubt war oder nicht, er machte sich nichts daraus. Er las die vorgeschriebenen Verse und schweifte dann so bald als möglich von dem vorgezeichneten Wege ab, denn es behagte ihm nicht, immer auf dem abgetreten glatten und unfruchtbaren geistigen Asphaltpfade zu gehen, auf dem sonst die landläufige Theologie sorgsam und mit eifersüchtiger Wachsamkeit ihre guten Einfaltslämmlein zur Tränke führt.

Lange war eine behagliche Stille im Walde; jetzt aber hörte er ein kurzes Schnauben wie von Pferden, und ein leichtes Klirren klang klingend an sein Ohr. Ein paar Husaren huschten fast lautlos im Trabe auf einem weichen Waldwege vorüber.

»Felddienstübung«, dachte der Pastor. »Sie streifen und jagen jetzt immer in dieser Gegend umher, diese prächtigen Reitersjungen! Ein Glück, daß wir diese Schule der Kraft und der Mannhaftigkeit noch haben, in unserer Zeit, wo die halbe Menschheit krumm und bleich vor den Schreibmaschinen sitzt und mit den Fingerspitzen tippt. Überhaupt: Alles nur antippen, überall nur hintippen, das ist die Art unseres Jahrzehnts; keiner faßt mehr fest zu, keiner wagt mehr, zuzuschlagen. Wenn doch diese zimperliche Tippgesellschaft der Gottseibeiuns holte, damit wieder Platz wird für Männer, die mutig um sich schlagen in ihren Werken, für echte Helden, die den schönen Mut zur Wahrheit haben nach oben und nach unten; die nicht immer nur ihre kleine persönliche Eitelkeit in den Vordergrund stellen und ihre künstlichen Gefühlchen zerklauben und analysieren, sondern die auch den Mut haben, gegen sich selbst rücksichtslos hart und wahr zu sein, und es verstehen, auch im Kleinen eine gewisse heroische Größe zu entfalten.«

Den einzelnen Reitern folgte nach kurzer Zeit in langem Zuge eine ganze Schwadron.

Pastor Rautenstrauch sah sie lächelnd vorbeireiten und freute sich über das kräftige, bunte Bild. Er bedauerte dabei auch wieder, daß er keine Söhne hatte: »Meiner trefflichen Karoline einziger Fehler!«

Eine halbe Stunde lang regte sich nichts im Walde, und der Pastor geriet in Unterholz und Dickicht, wo er sich so recht in tiefes Sinnen und heimliche Gedanken einspinnen konnte. Auf einer natürlichen Moosbank am Fuße einer starken Buche setzte er sich nieder, denn es ging auf den Mittag zu und er war ein wenig müde geworden.

Was raschelte dort, was streifte dort die Blätter? War es ein Eichhörnchen, ein Fuchs oder gar ein Reh?

Nein, ein leises Klirren klang daneben und ein leises Flüstern einer Menschenstimme dazu. Er kam näher, und er hörte, wie im leisen Sprechen eine tiefe und eine feine, hohe Stimme abwechselte. Er lächelte und spähte vorsichtig um den Buchenstamm.

Sieh, da standen die zwei: ein Husar und ein Mädel, von kleiner Gestalt und fast ein wenig zu rundlich für ihre jungen Jahre. Pastor Rautenstrauch dachte lachende Gedanken:

»Der Kuckuck hole diesen Schlingel von einem Husaren! Er benutzt die Mittagspause oder sonst etwas dazu, um sich abseits zu schleichen und mit seinem Mädel zu kosen. Wie sie wohl gerade hierher gekommen sein mag? Es sieht verteufelt nach Verabredung aus.«

Das Mädchen drehte jetzt das Gesicht halb dem Pastor zu. Er wurde noch aufmerksamer.

»Mit Verlaub, irre ich mich nicht? Das ist ja Frieda Eggeling, meines frommen Amtsbruders in Ahlenstedt Tochter!«

Das Sprechen verstummte, und der Husar wurde recht liebevoll zu dem Mädchen.

»Daß Dich der Henker!« knurrte der Pastor. »Was für eine Bekanntschaft der beiden mag das sein und was für eine Liebe! O heiliger Eggeling, wenn du wüßtest, was für Waldspaziergänge Dein ältestes Töchterlein mit Fleiß und lobenswertem Eifer unternimmt.«

Jetzt sprachen die beiden wieder und so laut, daß es der Pastor verstehen konnte.

»Nächsten Sonntag Nachmittag, um drei Uhr, wieder an dieser Stelle! Du kommst!« sagte der Husar.

Der Pastor bemerkte jetzt, daß es ein Einjähriger war, ein Gefreiter; sonst kannte er ihn nicht.

Das Mädchen nickte.

»Ich komme.«

»Noch einen Kuß! Meine Zeit ist um.«

Eilig ging der Soldat, und das Mägdelein folgte ihm langsam.

Auch der Pastor verließ seine Moosbank. Er konnte sich nicht verhehlen, daß dieses Erlebnis etwas eigenartig und unerwartet sei, und er fühlte das Bedürfnis, auf seinem Gedankenstuhle länger darüber nachzusinnen. Auf dem Rückwege aber zogen ihm allerlei andere Angelegenheiten durch den Sinn, und als er um die Mittagszeit in seinem Pfarrhause wieder angekommen war, dachte er kaum noch an dieses Walderlebnis, dessen Verantwortung mehr den Vater des Mädchens, als dieses selbst zu treffen schien.

Beim Mittagessen sagte Großvater Schulte:

»Man vergesse nicht, daß wir heute Nachmittag bei Eggelings in Ahlenstedt erwartet werden!«

»Es läßt sich nicht leugnen,« erwiderte der Pastor Rautenstrauch.

»Gehen wir alle, oder bleibt jemand zu Hause?« fragte Frau Karoline.

Grete lebte gerade in der Erinnerung an den Sonntagabend und hatte es sich so schön gedacht, am Nachmittag mit einem guten Buche und mit ihren Gedanken im Garten, am Teiche oder in der Laube oder sonst einem lieben, grünen Platze zu lesen und zu träumen. Deshalb war ihr der beabsichtigte und versprochene Ausflug nicht passend. Bescheiden sagte sie:

»Ich bleibe gern zu Hause.«

»Kind, was willst Du hier allein?« sagte der Vater. »Geh' mit uns, geh' unter die Menschen, mische Dich unter die Jugend. Eggelings würden sich wundern, wenn Du nicht mitkämest.«

»Du findest doch jetzt Eggelings Frieda dort,« ergänzte die Mutter. »Sonst kommst Du wenig mit Altersgenossinnen zusammen.«

»Woran ihr nichts gelegen ist,« lachte der alte Großvater Schulte. »Unser Gretelein geht nicht gern in den allgemeinen, schnatternden Stall der Mädchenfreundschaften.«

Da hatte der alte Herr das richtige gesprochen. Grete Rautenstrauch hatte immer in ihrer Mutter die beste Freundin und in ihrem Vater den treuesten Freund gesehen, und niemand sonst hätte ihr das geben können, was sie von ihren Eltern empfangen hatte.

Mit allem Zweifeln, allem Glück und jedem Kummer war sie zu ihren Eltern gegangen; sie hatte dort immer eine Antwort, fröhliches Verständnis und treuen Trost gefunden. Manches schwere Rätsel war ihr leicht gelöst worden von den reinen Lippen der Mutter oder aus dem liebevoll-ernsten Munde des Vaters, und so hatte das Kind nie aus trüben und unreinen Quellen zu schöpfen und zu trinken brauchen.

Durch reines Wissen war sie rein geblieben, und weil sie nirgends einen Schleier sah, erblickte sie auch nirgends etwas Unreines. Auf ihrem Gemüte lag keine schwere Last; nicht die künstlich eingepflanzte Empfindung wohnte in ihr, daß natürliches Empfinden und Sehnen etwas Böses und Sündiges sei, und weil sie ein stolzes, innerliches Freiheitsgefühl in sich trug und ein reines, klares Wissen hegte, war sie auch stark genug, sich vor allzu wildem Überschäumen ihrer Gedanken und ihrer Sinne zu wahren.

Pastor Rautenstrauch wollte seine Tochter gern bei sich haben; ihm fehlte viel, wenn sie an seinen Erholungstagen nicht in der Nähe war.

»Geh' mit, Grete!« sagte er leise und sah sie an. Er hatte sie schon immer, auch als sie noch klein war, durch seine Blicke gelenkt, wenn ein Lenken nötig war.

Sie lächelte.

»Gern, Vater.«

Vater und Tochter gingen fast auf dem ganzen Wege zusammen und redeten in ihrer Weise heiter und ernst miteinander. Sie sprachen lange allerlei vom Werden und Vergehen, den beiden großen Geheimnissen, die den Menschen durch das Leben begleiten; das erste erfüllt die Tage und Nächte seiner Jugend, des andere dämmert in der Zeit des Reifens und des Alterns.

Pastor Rautenstrauch hatte immer zu seinem Kinde gesprochen wie ein guter Freund; er war niemals ein drohender Vater gewesen, oder ein Erzieher, vor dem das Kind ängstlich und demütig in die Kniee sinken muß.

Lügen, Verheimlichungen und Verschleierungen hatte es niemals zwischen den beiden gegeben.

Das abgeschmackte Märlein vom Storch hatte Grete nur spottender Weise als eine alberne Feigheit und den Ausdruck der Dummheit oder Hülflosigkeit der Erzieher kennen gelernt.

So wie sie selbst größer geworden war, so war sie auch in die größere Wahrheit und Erkenntnis hineingewachsen, und sie wollte immer noch mehr in das Leben und das Erkennen eindringen, von Vater und Mutter geleitet.

Sie hatte das verlogene Kunststück noch nicht fertig gebracht, die Wahrheit und das Natürliche unschicklich und unsittlich zu finden, und gerade darum war von ihrer stolzen Unschuld und Reinheit innerlich und äußerlich nicht das Geringste getrübt worden. Sie war wie die Sonne, die alles weiß und überall hinschaut, und dennoch von ihrem reinen Glanz nichts einbüßt, sondern viel eher das Trübe erhellt und das Böse und Häßliche mit verklärendem Schimmer umgibt.

Der Weg nach Ahlenstedt wurde den beiden Vätern mit ihren Töchtern leicht und kurz; freilich gingen sie langsam, denn Großvater war zu keinem Geschwindmarsche mehr fähig, und als es einen mäßig steilen Hügel hinaufging, seufzte der Alte und fing an, auf lateinisch, griechisch und hebräisch zu klagen. Er stützte sich fest auf seine Tochter.

»Wir sind wie Ödipus und Antigone, nur nicht so tragisch! Hätte ich doch wenigstens, ein rauchender Ödipus der Neuzeit, meine Pfeife bei mir, daß ich aus ihr neue Kraft saugen könnte. O moi, welch' ein männermordender Berg! Der Sinai muß ein trauriges Häufchen gegen ihn gewesen sein!«


 << zurück weiter >>