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Wenn der Pastor Adolf Rautenstrauch in Drömlingen am Montag Morgen erwachte, empfand er ein wundervoll angenehmes Gefühl in seiner klugen und braven Seele, denn der Montag war jener Tag, an dem er sich völlig ausruhte und gänzlich nach seinem Wohlgefallen lebte, obgleich seine geistliche und weltliche Tätigkeit schon immer keinem schwer lastenden Quaderstein glich, sondern im allgemeinen nur ein leichter Feldstein war, den man mit gelindem Nachdruck und wenig Kraft und Schwung hinwerfen konnte, wohin man wollte. Er durfte sich seine Arbeit einteilen und brauchte sich niemals aus seiner göttlich-behaglichen Ruhe bringen zu lassen.
Der Montag wird allgemein als Pastorensonntag gefeiert, und auch Rautenstrauch nützte ihn gründlich aus, wenn auch nicht in üblem Sinne.
Bei schlechtem Wetter machte er sich in seiner Bücherei zu schaffen, die in beachtenswerter Fülle die Wände einer schmalen Kammer neben seiner Arbeitsstube bedeckte. Er ging von Fach zu Fach, besichtigte seine Lieblinge und streichelte sie mit den Augen und nicht selten auch wirklich mit den Händen, denn es waren viele darunter, die viel Liebe nötig hatten, weil sie gewöhnlich zu den mißratenen und bösen Kindern des Geistes gerechnet wurden. Hier und da zog er ein Buch hervor, blätterte und las darin je nach Wohlgefallen, und auf seinem Gesichte konnte man deutlich den Wiederschein des Gelesenen sehen. Uraltes und beängstigend Neues, Seltsames und Alltägliches, schwere und leichte Ware, Sinn und Unsinn, – alles fand sich in der Rautenstrauchschen Büchersammlung, deren Anblick der Besitzer nur eng vertrauten und unverdächtigen Besuchern gönnte, und in der außer ihm selbst nur seine Tochter Grete noch einigermaßen Bescheid wußte.
Wer die Bücherreihen krittelnd betrachtete, würde vielleicht gefunden haben, daß die Bücherei ein für einen Gottesmann reichlich weltliches Antlitz trug. Nicht sehr zahlreiche theologische Bücher verkrochen sich wie einige hungrige Rosinen in einem großen, butterdurchtränkten Kuchen, in dem sie ein unangenehmes Knacken hervorrufen, wenn man darauf beißt. Dieser seltsame Landpfarrer legte viel mehr Wert auf allgemeine Geistesbildung, als auf theologisches Wissen. Auch die allerneueste Naturwissenschaft war in beängstigender Fülle vertreten, und der Herr Konsistorialrat würde ein äußerst bedenkliches Gesicht gemacht haben, wenn er dieses reizvolle Kämmerchen der Geistesschätze betreten und gemustert haben würde. Deshalb ließ der wackere Rautenstrauch den spähenden Kirchenfürsten, der dem Drömlinger schon längst nicht traute, niemals in diese Kammer hinein, auch nicht bei der gründlichsten Kirchenvisitation, wo die vollkommene Burgundernase des hohen Vorgesetzten in jeden Winkel hineinleuchtete.
Der Drömlinger Pfarrer bereitete sich auf eine solche Visitation sehr sorgfältig vor: Er entfernte einige Tage vorher sämtliche Kirchenväter und Genossen aus der weltlichen und modernen Gesellschaft in der Bücherkammer; einen Teil stellte er in ein Zwergenbücherbört, das er zu diesem Zwecke in seine Arbeitsstube bringen ließ, den andern packte er in Haufen und einzeln auf Stühle und Tische seines Zimmers, so daß die ganze Anordnung einen sehr natürlichen und fleißigen Eindruck machte.
Die Tür seiner Bücherkammer aber schloß er nach dieser Tat ab und verwahrte den Schlüssel an einem sichern Orte.
Bisher war das Verfahren immer von Erfolg gewesen, bei der letzten Kirchenvisitation hatte sich jedoch der Konsistorialrat merklich anders benommen. Man mochte ihm wohl allerlei von Rautenstrauchs moderner Gesinnung hinterbracht haben, und deshalb schien er sich mit dem Plane zu tragen, sich auf jede Weise Aufklärung zu verschaffen, woher das unpastörliche und unchristliche Wissen des Drömlinger Pfarrherrn stammen möge.
»Herr Amtsbruder,« hatte er mit bänglich-tragischer Miene, im mild drohenden Vorgesetztentone und doch wie feierlich beschwörend gesagt, als ob es sich um eine Art von evangelischem Exorcismus handele, von der Vetterkirche entlehnt, »wo haben sie eigentlich Ihre große Bibliothek, von deren sonderbaren Reichhaltigkeit die Amtsbrüder so viel Rühmens machen?
»Verstehe nicht, Herr Konsistorialrat! Hat sie schon jemals jemand gesehen? Nicht der Rede wert. Ist wohl mehr Ironie, diese große Bibliothek, oder beruht auf märchenhaften Übertreibungen. Hier« –
Er zeigte auf Stühle und Tisch, wo höchst grämlich und schrullig die alten Kirchenväter lagen, die von ihrem vergilbten Alter sehr übel rochen.
» Asmus sum, omnia mea mecum portans.«
Der lebende Kirchenvater, der körperlich recht wohl geraten mitten in der Stube stand, bemerkte die großartige, schelmenhafte Armbewegung nicht, die sein Pfarrer vornahm, und ebensowenig durchschaute er das listig-lustige Gesicht, das ihm eine solche Eulenspiegelei vormachte.
»So, so,« meinte er mit erquältem Wohlwollen, »allerdings« – – er beroch jetzt mißtrauisch die griesgrämigen alten Schwarten, legte sie vorsichtig wieder hin und bewegte sich wie ein tappender Elephant, der irgend etwas sucht, in der großen Stube auf und ab. Zu der Tür der Bücherkammer schien er sich besonders hingezogen zu fühlen; er blieb schließlich mauerfest davor stehen, klopfte dagegen und sagte:
»Hier, hier! Was haben Sie denn eigentlich in dieser Stube?«
»Daß Dich der Kuckuck!« fluchte Rautenstrauch innerlich und stellte sich plötzlich taub.
»Ich meine,« wiederholte der Kirchenfürst recht laut, »was sich in diesem Raume befindet!«
»O, ich bin zufrieden, das Haus ist recht geräumig, o ja!«
»Nein, Sie mißverstehen mich! Ich meine, wozu dient diese Stube?«
Der lustige Rautenstrauch merkte jetzt, daß sich der hohe Herr vollständig festgebissen hatte, deshalb lenkte er ein.
»Nicht mein eigentliches Reich, Herr Konsistorialrat, – meine Frau – hauswirtschaftliche Zwecke und ähnliches« – – –
»So, so! Eigentümlich, dicht neben der Studierstube?« Nun, immerhin – darf man – man hat vom Fenster dieses hauswirtschaftlichen Zimmers sicher einen hübschen Blick in den grünen Garten, wie? Ich bin ein Naturfreund!«
»Man hat in der Tat von da aus einen herrlichen Blick in's Freie«, lachte der Pastor mit eigener Betonung des letzten Wortes, »aber trotzdem« – –
Der Konsistorialrat rüttelte hartnäckig und mit einer gewissen Böswilligkeit an der verschlossenen Tür.
»Ich bedaure wirklich, Herr Konsistorialrat, – fest verschlossen, fast andauernd verschlossen, nämlich – nämlich – meine Frau – sie bewahrt dort – sie wird sehr böse, wenn jemand dorthinein geht – bedenklicher Rückschlag auf ihre Stimmung – sie bewahrt nämlich dort – jede Hausfrau hat ihr Steckenpferd – ihre Mustöpfe auf!«
Der würdige Herr versuchte ein sauersüßes Lächeln.
»So so, also Mustöpfe, eine ganze Kammer voll! Wirklich nicht übel, Mustöpfe! Können wir denn diese interessanten Mustöpfe nicht besichtigen?«
»Ganz unmöglich, es würde die unangenehmsten Folgen haben« – –
»Also müssen wir leider verzichten. Höchst bedauerlich!«
Der Kirchengewaltige hatte dann allerlei Gerede angefangen von positiver Lehre, von der neuen Seuche der Aufklärung und des Unglaubens, von der einzig wahren, ewigen Richtschnur und wie immer die kirchlichen Kunstausdrücke lauten. Aber er hatte keinen Eindruck damit erzielt. Im Gegenteil, er konnte nicht so flüssig und sicher sprechen wie sonst, weil er merkte, wie Rautenstrauch, der ihm kerzengerade gegenübersaß, ihn unentwegt mit seinen klaren blauen Augen ansah und dabei ein unerklärliches, kaum sichtbares ironisches Lächeln um den Mund trug.
»Du kannst mir garnichts«, dachte der Pastor, »noch nicht einmal absetzen kannst Du mich. Fange nur noch an, mich zu examinieren, dann drehe ich den Spieß um und frage Dich, und beweise Dir, daß Du nichts weißt. Seit unserm Luther ist es nämlich den Theologen nicht mehr verboten, zu lernen und zu wissen, was sie wollen, wenn sie es auch nicht sagen dürfen!«
Beim reichlichen Mittagsmahle war der Friede der feindseligen Gemüter beiderseits wieder hergestellt, und das, was Frau Karoline und Grete bereitet hatten, erschien dem Konsistorialrate tatsächlich schmackhafter als die muffigen, übelriechenden Kirchenväter und sonstigen Theologika und der für ihn immerhin fragwürdige Inhalt der verschlossenen Muskammer.
An sonnigen und warmen Montagen ging der Pastor entweder allein oder mit einem Buche aus seiner Muskammer in seinen Garten oder in den Wald, wo er in seinem alten und doch so jungen Gehirn allerlei sann und spann, wo er vom alten und neuen, vom geistlichen und weltlichen mancherlei Fäden hin- und herzog und sich ein eigenes Gewebe daraus schuf, das hier und da zwar ein wenig absonderlich war, aber im ganzen doch hübsch haltbar, gediegen und farbenfroh; auf jeden Fall aber war sein Gespinst schöner und dauerhafter als jenes fadenscheinige und mühsam geflickte Lappenwerk, mit dem immer noch so viele trostbedürftige Geister ihre matten und ängstlichen Seelen frierend und bettelnd einhüllen.
Sich demütig beugen und zagend betteln war nicht die Art des alten Rautenstrauch, und auch in seiner Gemeinde und in seinem Hause gab er nicht viel darauf. Er faßte alles frisch und derbe an, und sein Leben, sein Reden und Predigen richtete sich nach den Anforderungen des wirklichen Lebens; von Wolkenkuckucksheim und dessen Anhängseln hielt er nichts und verwies auch niemand dorthin. Er nannte alles beim rechten Namen, und wenn er von einem Düngerhaufen sprechen wollte, so bezeichnete er ihn auch so und sprach nicht in philosophierendem Tone von feuchttrocknem Stroh, das durch Stoffwechselprodukte in einen gährenden, wenig aromatischen Zustand versetzt ist, und wenn er einen richtigen Schuft in seiner Gemeinde hatte, so nahm er kein Blatt vor den Mund und streichelte ihn nicht mit der Bezeichnung »irrendes Schäflein.«
Er predigte aus dem Leben für das Leben, und für diesen ehrlichen Deutschen konnte die ganze orientalische Mystik unwiederbringlich verschimmeln; nur, wenn er durchaus nicht anders konnte, verordnete er seinen Gemeindegliedern das süßliche, übermilde, ein wenig wässerige Tränklein des Glaubens, aber er achtete niemals darauf, ob sie auch wirklich ein gehöriges Teil davon hinunterschluckten.
Je älter er wurde, desto freier und menschlicher wurde er, und die Naturwissenschaft bedeckte seine Theologie, so wie eine dichte, fruchtbare, braune Schicht Ackerkrume auf kaltem, steinigem Untergrunde liegt.
Am Morgen des Montages nach jenem Sonntage, an dem Karl Sievers so eigenartige Sachen im Drömlinger Pfarrgarten verübt hatte, saß Pastor Rautenstrauch mit seiner Gattin Karoline nach Beendigung des behaglichen ersten Frühstückes unter dem guten Apfelbaum und rauchte seine erste Morgenpfeife. Großvater Schulte pflegte sich erst später zu zeigen; er lag noch in seinem Giebelstübchen und frönte einem beneidenswerten Morgenschlafe. Grete arbeitete in der Küche und war in einem unklaren, stillen Glücke. Die Kartoffeln, die sie schälte, waren ihr zu Rosenknospen in ihren verklärenden Gedanken geworden, und das kleine Feuerchen, das auf dem alten Ziegelsteinherde brannte, entflammte einen mächtigen Wiederschein in ihrer frohen Seele.
»Liebe Karoline«, fragte der Pastor, »wie denkst Du im allgemeinen und im besondern über den Jüngling von gestern, zu dem uns der Großvater verholfen hat?«
»Darauf scheint mir wenig anzukommen, was ich und Du über ihn denken«, antwortete die Gattin mit klugem Lächeln.
»Ich verstehe Dich nicht recht, aber ich sollte doch meinen, liebe Karoline, er ist ein nicht übler junger Mann, mit dem und über den sich schon zwei gute Worte reden lassen«.
»Wir werden dabei in der Tat wenig zu sagen haben« –
»Ich verstehe wirklich nicht, wieso« – –
»Wenn zwei sich einig sind, so pflegen sie nachher nicht erst noch groß Rat einzuholen« – –
Pastor Rautenstrauch dampfte fast erschrocken und paffte kurz und geräuschvoll.
»Das wäre die Möglichkeit! – Karoline, Du übertreibst!«
»Lehre Du mich unsere Grete kennen, – ich müßte eine schlechte Mutter sein. Und zur Verstellung habe ich sie nicht erzogen.«
Der Pastor stand auf, schüttelte den Kopf und bewegte sich dampfend in engen Kreisen um den runden Gartentisch, so daß ihn die Tabakswolken in mehr oder weniger dichten Ringen umgaben wie die Nebelringe den Planeten Saturn. Er brach das Gespräch ab; es war sicher, daß er es, seiner Gewohnheit getreu, nicht eher wieder beginnen würde, als bis er sich vollkommen klar über die Angelegenheit war. Das konnte freilich tagelang dauern.
Frau Karoline wußte das und fragte ihn nicht mehr; ebenso gut wußte sie auch, daß er zur rechten Zeit wieder davon anfangen würde.
So ging er denn hinauf in seine Studierstube und setzte sich in einen Winkel hinter dem Ofen, wo auf einem mit grünem Tuch umrandeten Rehfell ein uralter Sessel stand, der, seinem ursprünglichen Zwecke zur Entlastung eines bedrückten Leibes entfremdet, jetzt, säuberlich mit Leder überzogen, dem Pastor zur Beruhigung und Entlastung seiner Seele diente. Wenn er sich über irgend etwas, das in ihm oder um ihn vorging, klar werden wollte, setzte er sich auf diesen ehrwürdigen Lehnstuhl und stand nicht eher wieder auf, bis sozusagen alles in Ordnung war. Heute saß er fast eine Stunde, bis die Pfeife zu Ende geraucht war.
» Quod di bene vertant!« sagte er und stand auf, um in seine Bücherkammer zu gehen. Dort wählte er, nachdem seine Augen an einigen Reihen entlang gewandert waren, ein ganz neues Buch aus, steckte es in die Tasche und ging nach kurzem Abschiedsrufe, der von Grete hell beantwortet wurde, aus dem Garten, die Trift hinauf in den Wald, denselben Weg, den Karl Sievers gegangen war und den alle Drömlinger gingen, wenn sie in ihren Wald gelangen wollten.