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7.
Der verstockte Sünder

Im Hause, in der Besuchsstube, hatte in der Tat ein feierliches »Geklöne« angefangen, an dem aber nicht die Drömlinger, sondern die Ahlenstedter die Schuld trugen. Rautenstrauchs sprachen nur aus Höflichkeit mit. Pastor Eggeling redete von Sittlichkeit und christlicher Erziehung. Er setzte auseinander, wie man besonders seine Kinder von allen Berührungen mit der unreinen Welt und ihren Lüsten fernhalten müsse, und Frau Wilhelmine führte aus, daß ihnen das bei ihren Töchtern bis jetzt so außerordentlich gut gelungen sei, denn die seien so unwissend und unschuldig wie nur möglich, und sie hätte Ursache, anzunehmen, daß sie beide noch an den Storch glaubten; dieses und ähnliche sinnige Märchen könne man den Kindern nicht genug einprägen.

Und Pastor Eggeling fügte nachdrücklich hinzu:

»Zucht, strenge christliche Zucht und Vermahnung, Reue und Demut und Buße, und wenn das alles nicht fruchtet, eine nachdrückliche Züchtigung, Herr Bruder! Damit kommt man immer zurecht.«

Rautenstrauch konnte sich doch nicht enthalten, einzuwenden, daß er aus zahlreichen Gründen kein Freund dieser sogenannten christlichen Zucht und der Prügelerziehung sei, worauf der andere salbungsvoll antwortete:

»Bedenken Sie, wen der Herr lieb hat, den züchtigt er«.

In diesem Augenblick trat die Magd ein und rief in Ihrer ländlichen Art, halb hochdeutsch, halb plattdeutsch:

»Frau Pastohren, wat die Eier sünd, die ich man kochen sollte, die sünd alle in'n Neste kaput.«

Frau Eggeling war sprachlos, dann aber tauchte wie ein in himmlischer Klarheit leuchtendes Gebilde der gelbe Hosenboden ihres Jüngsten vor ihrem scharfsinnigen Geiste auf, und sie empfand gleichzeitig eine gewisse Dankbarkeit, daß sie wenigstens eine immerhin noch menschliche Erklärung für das trauervolle Ereignis gefunden hatte.

»Schick mal gleich den Gotthold her, Christine!« befahl sie. »Meine schönen Eier!« jammerte sie hinterher.

Gotthold wurde nach einigen Minuten von der handfesten Magd angeschleppt, und das Hochgericht begann.

Der Junge stand da mit einer unbeschreiblichen Miene, aus der man etwa lesen konnte: »Mir ist alles einerlei: Prügel gibts auf jeden Fall.«

Die Eggelings saßen da mit finstern, zornigen Mienen, wie zwei Henker in schwarzen Gewändern der heiligen Fehme, während in den Rautenstrauchschen Gesichtern halb Lachen, halb Mitleid zu sehen war.

»Dreh' ihn mal um, Christine!« herrschte Frau Wilhelmine das Mädchen an. Die tat also.

»Was hast Du da hinten, Gotthold?« fragte die Mutter nicht sehr geschickt.

Der Junge sah sich erstaunt nach sich selber um, denn er wußte tatsächlich nicht, um was es sich handele. Den Eierkampf hatte er schon längst vergessen; er wähnte, er solle wegen irgend eines andern Verbrechens zur Rechenschaft gezogen werden. »Ach, wie sind meine Sünden so groß und so viel«, lautete ein Kirchenvers, den er sehr gut behalten hatte und der immer auf ihn paßte.

Gotthold krümmte sich andauernd und besah sich nach Möglichkeit hinten links und rechts, was er bei seiner fabelhaften Gelenkigkeit sehr gut konnte. Er fand trotz aller Anstrengungen nichts für seine Begriffe Verdächtiges und schwieg.

»Verstockter Sünder!« predigte der Vater den achtjährigen an, als ob allgemeiner Buß- und Bettag in Ahlenstedt sei.

»Warum denn?« dachte Gotthold, sagte aber nichts.

»Antworte, was hast Du da hinten?« zeterte die Mutter.

»Ich?« fragte er jetzt mit wohltuender Harmlosigkeit, die zwar bei Rautenstrauchs Entzücken erregte, aber bei seinen Eltern kein Verständnis fand.

»Ja, Du! Bube! Wer denn sonst?!« eiferte der Bußprediger.

Jetzt kam dem Verbrecher ohnegleichen ein rettender Gedanke. Antworten mußte er auf jeden Fall, das merkte er. Was er da hinten hatte? Was sollte er denn da haben? Dumme Frage?

Und mit vergnügter Keckheit antwortete er:

»Einen Hosenboden!«

Die Gäste gaben sich keine Mühe mehr, ihre reine Heiterkeit zu verbergen.

Aber Frau Eggeling wütete:

»Schämst Du Dich denn gar nicht?«

»Einen Hosenboden zu haben!« sagte halblaut Pastor Rautenstrauch.

»Ich will es Dir sagen, wenn Du es nicht weißt, Du verstockter Schlingel! Hühnereier hast Du da hinten!« donnerte der Pastor jetzt dazwischen wie die Stimme des Weltgerichts.

Erschrocken und freudig überrascht zugleich griff Gotthold nach der genannten verdächtigen Gegend, ohne jedoch, zu seinem größten Leidwesen, Hühnereier zu finden. Dabei fiel ihm aber endlich das Ereignis aus dem Hühnerstalle ein, dessen Folgen jetzt bereits zu einer dicken Kruste angetrocknet waren, soweit sie beim Bockspringen und sonstigen Bewegungen noch nicht wieder abgerieben waren. Gotthold beschloß fest bei sich, jetzt nichts mehr zu sagen, da er das für aussichtslos hielt.

»Gestehe es! Deine Strafe ist Dir sicher!« brüllte der Oberrichter.

Gotthold sehnte sich lebhaft nach der grünen Freiheit des Pfarrgartens.

»Wie kommt das? Wie hast Du das gemacht?« eiferte fragend die Mutter.

Gotthold dachte: Dann müßt Ihr Euch auch mal in ein Nest mit Eiern setzen, dann wißt ihr's. Er schwieg.

»Gewissenloser Bube!« donnerte der Pastor mit großartiger Überlegenheit wieder dazwischen und blähte sich in seinem Lutherrocke förmlich auf.

Der liebe kleine Gotthold wußte überhaupt nicht, was »gewissenlos« bedeutete; er merkte nur, daß es kein Lob war. Er blieb fortgesetzt stumm, und kein Anbrüllen vermochte ihn zum Sprechen zu bringen.

Den Rautenstrauchs wurde die Sache allmählich peinlich, während die Eggelings keine Empfindung dafür zu haben schienen. Pastor Rautenstrauch ging langsam auf den Jungen zu, faßte ihn an das Kinn und sagte freundlich:

»Sag' doch, mein Junge, wie es gekommen ist. Du weißt es doch gewiß. Bist du hingefallen?«

Gotthold sah dem Gaste fragend in die Augen, weil ihm so ein Benehmen noch nicht vorgekommen war.

»So ist's recht, mein Kleiner, immer den Kopf hoch, immer nach oben die Augen! Du kannst und darfst noch jeden ansehen!« ermunterte der Drömlinger.

Des Pastors Gesicht gefiel dem Ahlenstedter Pastorsjungen, und er antwortete sogleich:

»Gottfried hat mir geschubst«.

»Und da bist Du im Hühnerstalle in das Nest mit Eiern gefallen, mein Kerlchen?«

Der Eiermann nickte eifrig und sagte beistimmend:

»Ja, klacks mitten rein«.

Jetzt hielt es der Vater des verbrecherischen Kindes wiederum für nötig, sich in den Gang der Verhandlungen zu mischen:

»Unerhörte Gewissenlosigkeit! Deiner Strafe sollst Du nicht entgehen!«

»Herr Amtsbruder, ich bitte für ihn. Schlagen Sie das Kind nicht. Es war keine Bosheit und keine Schlechtigkeit dabei«, sagte Rautenstrauch gütig.

Der Angeredete runzelte die Stirn.

»Fort mit Dir!« fuhr er den Jungen noch einmal an. Der Kleine entwischte mit märchenhafter Schnelligkeit, nachdem er rasch dem Drömlinger Pastor einen hellen und dankbaren Blick zugeworfen hatte.

Hiernach wurden Wesen und Gespräch der Gastgeber wieder friedlicher. Großvater Schulte, der sich meist nur sehr vorübergehend im Zimmer aufgehalten hatte, gesellte sich allgemach wieder dazu, nachdem er eine Weile aus der Ferne, an der Tür nach dem Gesprächsthema geforscht hatte, und der Schluß des Nachmittags verlief in leidlicher Harmonie. Auch Grete hatte mit den Töchtern des Hauses einen Umgangsweg gefunden; man sang ein- oder zweistimmige Lieder aus Erks Liederschatz, wobei sich die Schwestern immer heimlich kichernd anstießen, wenn ein harmloses Liebeslied an der Reihe war.

Als Rautenstrauchs vom Hofe gingen, riefen die drei Söhne allerdings nicht Glück auf und standen dabei auf den Köpfen, aber sie sahen den Scheidenden mit einer gewissen feierlichen Dankbarkeit nach, denn die kamen ihnen so ganz anders vor als ihre Eltern, und das Mädchen mit den hellen Haaren und den großen, leuchtenden Augen schien so ganz anders zu sein als die Schwestern.

»Du«, sagte der Laubfrosch Gottfried zu seinem Bruder Gottlieb, dem Bergmann, »der ganz alte, das is einen vermosten Kerl!«

»Wen von den zwei meinst Du? Den mit dat Samtkäppchen und Vaters oler Piepe, wo wir Vatern sonst immer Stroh aus dem Pferdestalle reintun, und er merkt es nicht? Der mit uns immer in'n Garten rumgehupst is, meinst Du den?«

»Der uns die vermosten Namens gegeben hat!«

»Ja, den mein' ich. So lustig is er! Garnich wie sonen olen Pastohr!«

»Der andere is noch besser!« rief der kleine Eiermann.

»Warum denn?« meinten der Bergmann und der Laubfrosch geringschätzig.

»Er hat gesagt, ich soll keine Stripse kriegen, weil Gottfried mir auf die Eier geschubt hat. Und ich wäre kein Bösewicht. Und dann hat er mir nicht so angeblafft, wie Vater immer macht, weißte, grade wie die ole Tüffe, der Hektor, auf dem Amte, so blafft er immer. Der andere is ganz freundlich gewesen und hat mir gerne leiden gemocht und dadrum habe ich ihm auch geantwortet«.

Nachdenklich gingen die Brüder in das Haus und setzten sich zum Abendessen auf ihre farbigen Hosenböden.

Als die Mutter beim Zubettgehen die übelzugerichteten weißen Matrosenanzüge genau musterte, wurde der Vater als Prügelmeister und Profoß geholt und es gab dennoch »Stripse«, wie schon so oft. Und befriedigt ob seiner »Heldentat«, daß er seine übermütigen Jungen einmal wieder »tüchtig bestraft und verhauen« habe, ging der »vortreffliche Erzieher« schlafen.

An diesem Abend sprangen die drei Brüder Gottfried, Gottlieb und Gotthold zum ersten Male mit Murren gegen ihre Eltern in's Bett. Sie fingen an zu vergleichen, und sie fanden heraus, daß es Eltern gab, die ihre Kinder nicht um ihrer kindlichen Dummheiten willen prügelten und wie Verbrecher behandelten. Sie hatten gemerkt, daß es alte Leute und liebe, schöne junge Mädchen gab, die mit Kindern richtig umzugehen wissen und mit ihnen spielen und harmlos vergnügt sein können. Und am nächsten Morgen schlichen sie schwer und betrübt um ihre Eltern herum, weil sie eine große Enttäuschung in ihren Kinderseelen trugen.

Gottfried wurde am Nachmittage zuerst wieder lebendig und ärgerte seine älteste Schwester, die er schon längst nicht leiden konnte, bei jeder Gelegenheit. Als sie unangenehm wurde, sagte er:

»Sei man stille! Die aus Drömlingen is viel besser und viel schöner als Du. Überhaupt ein vermostes Mädchen! Wenn ich groß bin, werde ich ihr heiraten!«


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